Erschienen in Ausgabe: No 59 (1/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Wolfgang Ockenfels
Wir
leben im Zeichen der Unsicherheit – und auch der Degeneration. Das war vielleicht
immer schon so. Die décadence im fin de siècle hatte Friedrich
Nietzsche im 19. Jahrhundert vor Augen, als er die angeblich
verweichlichenden Wirkungen des Christentums, wie er es in einem etwas bigotten
pietistischen Biotop erlebte, einer heftigen Polemik unterzog. Den „Untergang
des Abendlandes“ hatte im 20. Jahrhundert Oswald Spengler aus ähnlichen
Gründen im Visier, kaum ahnend, daß er damit der „blonden Bestie“, dem Idealtyp
der Nationalsozialisten, den Weg freimachte. Daß sich aber der
rassenbiologische Tick der Nazis, auf dem Wege der Eugenik und der Euthanasie
sich der „lebensunwerten“ Mitmenschen, natürlich aus reiner „Barmherzigkeit“,
zu entledigen und damit Kosten zu sparen, bis heute, wenn auch in veränderter
Gestalt und Begründung, erhalten hat, gehört zu den schändlichen Zeichen der
modernen Zeit.
Die
Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID) etwa, die sich trotz einiger CDU-Opposition
parlamentarisch durchzusetzen scheint, entspricht ja gerade jenem
antichristlichen, von Nietzsche und Spengler vorbereitetem
Zeitgeist, dem die materielle Sicherheitsgarantie wichtiger ist als das
Lebensrecht der ungeborenen Behinderten. Adolf Hitler hätte seine helle
Freude an diesem „Volksempfinden“ gehabt, das die Kosten für Behinderte dadurch
zu reduzieren sucht, daß es die Existenz der Behinderten verhindert.
Das
Problem liegt nicht in der biologischen, sondern in der moralischen Degeneration.
Damit werden Fragen der christlichen und zugleich naturrechtlichvernünftigen Ethik
berührt, die auch zwischen den Kirchen zunehmend umstritten sind. Die
protestantischen Kirchenleitungen rücken in bioethischen Fragen immer weiter
von den Positionen des Lebensrechts ab und entfernen sich damit auch vom Ziel
der Ökumene. Und die katholische Kirche ist wegen der ihr allein angekreideten
pädophilen Mißbrauchsfälle derart in die Ecke gedrängt, daß sie sich in Sachen
Morallehre nicht mehr zu äußern wagt. Obwohl die evangelischen Gemeinschaften
mindestens dieselben Sexualprobleme gehabt haben wie die Katholiken, die ins
Kreuzfeuer der Massenmedien gerieten, haben sie kaum einen Finger gerührt, um
die antikatholische Hetzkampagne zurückzuweisen. Auch diese Haltung wirft kein
gutes Licht auf die ökumenische Solidarität; sie ist ein Zeichen der
ökumenischen Degeneration.
Wer
Degenerationen wahrnimmt und Unsicherheiten beklagt, muß dafür nicht einmal
mehr einzelne Beweise erbringen. Denn es geht mittlerweile nicht bloß um „gefühlte“
Stimmungslagen, sondern um objektive, allgemein erfahrbare Wirklichkeiten, die
uns zu schaffen machen. In Zeiten früherer Unsicherheiten, die von intellektuellen
Existentialisten der fünfziger und sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts
nahezu verklärt wurden, ging es nicht um die materielle Absicherung vor
ökonomischen Unwägbarkeiten. Das Sicherheitsdenken in diesem
Sinne wurde als spießig-bürgerlich denunziert. Inzwischen hat sich das Denken
in Kategorien materiell-physischer Sicherheit breiter Gesellschaftskreise bemächtigt
und auch die intellektuellen Schichten erreicht. Denn man befürchtet zu Recht,
daß sich die wohlstandsgesättigte, wohlfahrtsstaatlich abgesicherte und weithin
risikofreie Lebensweise nicht mehr lange auf dem gewohnten Niveau halten läßt.
Und nicht zu Unrecht befürchtet man eine Radikalisierung der Verteilungskämpfe und
des öffentlichen Protestverhaltens.
In
Zeiten der Unsicherheit erfreut sich, besonders in Deutschland, die Polizei höchster
Wertschätzung. Wenn sie uns auch bei Straßenverkehrskontrollen auf die Nerven
gehen, möchten wir nicht gern auf unsere uniformierten Sicherheitsorgane verzichten.
Wer sonst könnte uns vor wachsender Gewalt schützen, die öffentliche Ordnung
bewahren und die Einhaltung der Gesetze überwachen?
Die
polizeilichen Freunde und Helfer in der Not haben ihr Ansehen erheblich gesteigert.
Nach jüngsten Meinungsumfragen genießt die Polizei bei den Bürgern ein
weitaus höheres Vertrauen als Wirtschaft, Politik - und auch Kirche. Deren
Repräsentanten müssen sich demoskopisch fragen lassen, woher dieser dramatische
Vertrauensschwund kommt. Bedauerlich ist dieser Rückgang vor allem deshalb,
weil die hohen Erwartungen in Wirtschaft, Politik und Kirchen in den letzten
Jahren erheblich enttäuscht worden sind.
Vielleicht
sind aber auch die Erwartungen der Bevölkerung in die Leistungsfähigkeit von
Unternehmern, Politikern und Kirchenleuten viel zu hoch. Daß diese Bevölkerung –
von „Volk“ wagt man ja kaum noch zu reden – ausgerechnet der Polizei ihr
größtes Vertrauen entgegenbringt, weist auf ein übersteigertes
Sicherheitsbedürfnis hin. Und auf obrigkeits- und polizeistaatliche Tendenzen
in einer Gesellschaft, die von Krise zu Krise torkelt. Daß aus dieser
Unsicherheit die Sehnsucht nach einer starken Führung mit aufrechtem Gang
erwächst, die in die richtige Richtung vorangeht, verwundert nicht. Das aber
ist kein Polizeiproblem.
Gewiß
haben die jahrelang sich hinschleppenden Krisen auch moralische Ursachen, die
auf religiöse Defizite verweisen. Allenthalben hat man sich über moralische Mängel
in Wirtschaft und Politik beklagt, die keineswegs durch Polizeiaktionen bereinigt
werden können. Die Moralprobleme wurden hauptsächlich bei den Eliten
ausgemacht, deren Fehlverhalten öffentlich angeprangert wird. Inzwischen hat
sich die Moralkritik am lasterhaften Verhalten der Verantwortlichen auch auf
die Systemebene ausgedehnt. Denn auch die freiheitlichen Ordnungen von Demokratie
und Marktwirtschaft stehen jetzt verstärkt unter Beschuß.
Starke
charismatische Führerpersönlichkeiten müssen her, sagt man hinter vorgehaltener
Hand. Aber die lassen sich einstweilen kaum blicken. Sollten in Politik und
Wirtschaft die Populisten und Demagogen das Sagen bekommen, degeneriert auch
die Kultur freiheitlich-verantwortlicher Ordnungen. Dann hilft auch keine
Polizei mehr, sondern verstärkt die Unsicherheit. Die Kirche wurde wegen der
beklagenswerten Delikte kollektiv diskreditiert. Dabei sollte man von ihr wenigstens
noch erwarten dürfen, daß sie den Verantwortlichen ins Gewissen redet. Wenn es sein muß, sogar den Polizisten.
Quelle: http://www.die-neue-ordnung.de/
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