Erschienen in Ausgabe: No 58 (12/2010) | Letzte Änderung: 31.01.11 |
von Heike Geilen
„Wir sind auf absurde Weise an das Wunder
geschriebener Zeichen gewöhnt, denen die Fähigkeit innewohnt, unsterbliche
Vorstellungen zu beherbergen, Gedankenverwicklungen, neue Welten mit lebendigen
Menschen, welche sprechen, weinen, lachen. Und wenn wir eines Tages, jeder von
uns, aufwachten und fänden uns allesamt völlig des Lesens unkundig?“
(Vladimir Nabokov)
„In diesem Moment vollbringt Ihr Gehirn,
ohne dass es Ihnen bewusst würde, eine bemerkenswerte Leistung - es liest. Die
Augen eilen mit kleinen präzisen Bewegungen über die Zeilen. Vier oder fünf Mal
pro Sekunde verharrt Ihr Blick dabei auf einem Wort, gerade lange genug, dass
Sie es erkennen können. Nur der Klang und die Wortbedeutung erreichen dabei
unser Bewusstsein. Aber wie können diese wenigen schwarzen Zeichen (...), die
auf die Retina projiziert werden, ein ganzes Universum heraufbeschwören...“.
Mit diesen Sätzen beginnt Stanislas Dehaene sein Sachbuch, das sich ganz dieser
großen Erfindung der Menschheit widmet. Der französische
Kognitionswissenschaftler vermittelt darin auf beeindruckende Art und Weise die
jüngsten Fortschritte in der Wissenschaft vom Lesen und liefert einige
Orientierungspunkte, die deutlich machen, wie komplex die Abläufe sind, die
unser Gehirn für das Lesen in Gang setzt und wie faszinierend das
Ineinandergreifen der einzelnen daran beteiligten Komponenten ist.
Evolutionär
hat uns nichts darauf vorbereitet, sprachliche Informationen auch visuell
aufzunehmen. Nur wie gelingt es unserem Primatengehirn, das unseren Jäger- und
Sammlervorfahren vor zehntausend Jahren ermöglicht hat, am Leben zu bleiben,
heute die Emotionen Nabokovs oder Einsteins Theorie nachzuvollziehen? Wie kommt
es, dass es beimerwachsenen Leser hoch
entwickelte Mechanismen gibt, die perfekt an die zum Lesen erforderlichen
Abläufe angepasst sind? Wie erwirbt unser Gehirn diese spezialisierten
Schaltkreise, die es tatsächlich gibt?
In
acht Kapitel untergliedert der Autor sein Buch. Er beginnt mit der Frage, wie
wir überhaupt lesen: von der ersten Verarbeitung der Schrift im Auge (im
Zentrum der Retina), der anschließenden Wortzerlegung in viele tausend Teile
und der erneuten schrittweisen Zusammensetzung durch die Neuronen sowie
letztendlich der phonologischen und lexikalischen Verarbeitung. Das alles in
atemberaubend kurzer Zeit. „In
Sekundenbruchteilen und ohne bewusste Mühe löst unser Nervensystem ein Problem
der visuellen Erkennung, das für die derzeitigen Computerprogramme unerreichbar
bleibt: parallele Erkennung der verfügbaren Schriftzeichen, Auflösung von
Doppeldeutigkeiten, schneller Zugriff auf eines von 50 000 möglichen
Wörtern...“
In
weiteren Kapiteln untersucht, analysiert und erläutert Dehaene die spezielle
Region unseres Gehirns zur visuellen Erkennung der Wörter, die (mit wenigen
Millimetern Abweichung) immer dasselbe Areal umfasst. Dazu begibt er sich in
die mikroskopisch kleinen Regionen einzelner Neuronen. Der französische
Wissenschaftler beleuchtet wie sich das Gehirn verändert, wenn ein Kind Lesen
lernt, er beschäftigt sich mit Legasthenie und der Symmetrieerkennung unseres
Sehsystems. Zahlreiche, zum Teil farbige Abbildungen unterstützen das
Verständnis des anspruchsvollen Themas.
Erstaunlich
sind gleichfalls Dahaenes Betrachtungen zur Erfindung der Schrift, die erkennen
lässt, dass alle Schriften der Welt - so unterschiedlich sie auch aussehen
mögen - viele Merkmale gemeinsam haben, „in
denen sich die Beschränkungen unserer visuellen Schaltkreise widerspiegeln.“
Und noch viel bemerkenswerter mutet es an, dass sich in unserer Spezies als
einzige unter den Primaten eine so reichhaltige kulturelle Dimension entwickelt
hat. Letztendlich hat Stanislas Dehaene neben einer Fülle an Wissensvermittlung
und interessanten Einblicken in unsere „Schaltzentrale“ erreicht, dass uns „die
kulturelle Variabilität der menschlichen Gattung“ nicht mehr so ausgedehnt
erscheint. „Möglicherweise ist der
Eindruck von der unendlichen Vielfalt der Kulturen nichts weiter als eine
Illusion - zurückzuführen auf unsere Unfähigkeit, uns andere kulturelle Formen
vorzustellen als jene, deren Wahrnehmung unser Gehirn zulässt.“
Fazit:
Unsere
Hirnrinde ist keinesfalls eine Tabula rasa oder eine Wachsmatrize, die den
Abdruck aller kulturellen Erfindungen willkürlichster Art getreu verzeichnet. „Sie ist aber auch kein starres Organ, das
dem Lesen im Verlauf der Evolution ein ,Modul‘ gewidmet hat. Sie ähnelt
vielmehr einem Baukasten, mit dem das Kind sowohl das vom Hersteller
vorgesehene Modell bauen kann, aber auch andere mehr oder weniger funktionale
Maschinen.“ Entstanden ist ein überaus lehrreiches Buch auf allerhöchstem
Niveau, das dennoch flüssig zu lesen und dessen Inhalt gut nachzuvollziehen
ist.
„Lektüre, die zugleich gefällt und nützt,
ergötzt und belehrt, hat alles was man sich wünschen kann.“,
wusste schon der große Leser und Humanist Jacques Amyot. Für Stanislas Dahaenes
Buch kann dies ohne Einschränkungen bestätigt werden.
„Ich möchte, dass sie sich wundern; nicht
allein über das, was Sie lesen, sondern über das Wunder, dass man das lesen
kann.“ (Vladimir Nabokov)
Stanislas
Dehaene
Lesen.
Die größte Erfindung der Menschheit und was
dabei in unseren Köpfen passiert
Aus dem Französischen von Helmut Reuter
Titel der Originalausgabe: Les Neurones de
la lecture
Knaus
Verlag, München (September 2010)
470
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3813503836
ISBN-13:
978-3813503838
Preis:
24,99 EURO
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