Erschienen in Ausgabe: No 60 (2/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Heike Geilen
„Das Leben ist der Narr der Zeit, und Zeit
muss enden“, so steht es bei Shakespeare. „Doch bis es so weit ist, dass sie endet und mit ihr unser Leben,
haben wir keine Zeit - und danach gibt es sie eh nicht mehr.“, schreibt Christian
Haller in seinem schmalen Büchlein.
Wir
hetzen durchs Leben und Ungeduld und Rastlosigkeit sind unsere ständigen Begleiter.
Die zunehmende Beschleunigung des Alltags, von Robert Musil in seinem „Mann
ohne Eigenschaften“ Akzelerismus genannt, galt immer mehr als chic und modern.
Tempo war Ausdruck des städtischen Lebensgefühls. Heute werden wir ihr kaum
noch Herr. „Das Leben ist der Narr der
Zeit - ja, und es hat sein eigenes langsames Vorankommen, das des Wachsens.
Muße war das vornehmste Gut des Menschen, ihm als Einziges mit auf den Weg
gegeben. Von diesem Gut haben wir nichts mehr, wir haben dafür Waren - und eben
keine Zeit.“ Immer mehr Chancen werden verpasst, zu viele wertvolle
Menschen im aufgewirbelten Staub übersehen. Entgeht nicht gerade infolge
fehlender Aufmerksamkeit für den Augenblick Vieles? Zumal trotz Mechanisierung,
Automatisierung und letztendlich Computerisierung der Mensch irgendwie das alte
Modell blieb, „urtümlich hergestellt, mit
einem biologischen Chassis, einer psychischen Steuerung und einer nicht mehr
ganz stimmigen Anpassung an die von ihm selbst geschaffene Welt.“
Der 1943 im Aargau geborene Christian Haller versucht in seinem wunderbar
entschleunigten Buch dieser hohen Rotation zu entkommen, ihr etwas
entgegenzusetzen. 27 kurze Texte, die zwischen 2002 und 2009 in der Aargauer
Zeitung erschienen und nun erstmals in einem Band vereint sind, lenken unsere
luxusverwöhnten Augen auf andere, nicht immer glitzernde Dinge. Haller führt
uns weg von den Gadgets der Seele. Denn es sind meist die kleinen,
unscheinbaren und unspektakulären Dinge, die Großes bewirken.
Wir begleitet den Schweizer Autor in die Bibliothek seines Kopfes, nehmen
teil an einem Gedankenflug durch Gassen, Gärten und Ufer, durch helles, klares
Februarlicht, „das in sich schon das
Steigen des Jahres trägt und doch noch so winterlicht ist, leicht und flüssig
die Luft erfüllt“. Haller erzählt von der wundersamen Metamorphose der
Schmetterlinge aus einem „Darm mit viel Füßen“ zu einem filigranen, leichten
und flüchtigen Wesen. Der Autor beobachtet Museumsbesucher mit ihren
Audioguides, analysiert das Wort Unterhaltung oder sinniert über Aktenshredder
im Literaturbetrieb. Er erinnert sich an alte Worte, „halb zugedeckt in einer Seelenfalte“, sinniert beim Radfahren im
Park über die Komplexität des Einfachen, sucht sich seine ganz eigene Nische
beim Blick in den morgendlichen „Blätterteig der Aktualität“.
Alle seine vielfältigen und vielschichtigen „Lebenszufälligkeiten“ eint
eines: Sie werden dem Unscheinbaren gerecht und lassen die Stille neu
entdecken: „Selbst die Gedanken, dieses
innere Gerede, dieser Lärm einer Selbstbehauptung, wurde aufgesogen wie von
einem Fließblatt, trocknete aus zu weißen Wüstenrinnsalen...“ Christian
Haller hat genau wie dertitelgebende
Vladimir Nabokov, „mit dem Netz der
Wörter nichts anderes getan (...), als unser flüchtiges Dasein aus dem Licht in
die Sprache zu bringen, es über den Tag hinaus in (...) Form festzuhalten.“ Er
führt den Leser mit seinen wunderbar ausbalancierten Geschichten aktiv und
effizient in verschiedenste Ruhe-Nischen. Worte als „Unterbruch im
gleichbleibenden Gang der Dinge“, als Ferien vom Alltag, als Zwischenzeiten,
die die Wirkung eines warmen Landregens entfalten. „Lauter Tropfen, die fielen. Lauttropfen, und sie lösten Gefühle und
Vorstellungen aus.“
Der feinfühlige Poet zeigt wie bedeutungslos unsere Wichtigtuer- und
Wichtignehmerei eigentlich ist. Seine Erzählungen fungieren perfekt als
Übergang aus Alltag und Betriebsamkeit in die Welt der Bilder, in ein inneres
Erleben und Wahrnehmen. Hallers Texte lassen Spuren zurück, beruhigen den
„Bilderstollen“ des Großhirns und geben uns etwas sehr Wertvolles: „Zurückgewandtsein zur Wurzel“. Denn das „ist Stille. Stille, das ist Rückkehr zur
Bestimmung. Rückkehr zur Bestimmung: Das ist Ewigkeit. Wer die Ewigkeit nicht
erkennt, der handelt blindlings und unheilvoll.“
Christian
Haller
Die Stecknadeln des Herrn Nabokov
Luchterhand
Verlag, Berlin (September 2010)
154
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3630873502
ISBN-13:
978-3630873503
Preis:
19,90 EURO
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