Erschienen in Ausgabe: No. 20 (2/2003) | Letzte Änderung: 29.08.10 |
von Stefan Groß
Der Philosoph Hans Jonas zählt in unserem Jahrhundert zu
denjenigen bedeutsamen Persönlichkeiten, die im Mittelpunkt öffentlicher
Diskussionen stehen. Jonas ist analytischer Philosoph, der einerseits von den
Errungenschaften der Kantischen Philosophie ausgeht, andererseits als Zeitzeuge
der geschichtlichen Gegenwart auftritt. Die Theorie, d.h. die Philosophie muß
sich, so Jonas, an der gegenwärtig-konkreten Geschichte unserer Zivilisation
bewähren. Ihre Aufgabe ist es dabei, deutend in die Geschichtlichkeit der Welt
einzugreifen. Er sucht nach einer Ethik, die es ermöglicht, diese Welt
moralischer zu machen. Sein Denken kreist um Fragen, wie Verantwortung möglich
ist, und welche Rolle Gott in einer Welt spielen kann, die – aufgrund ihrer
Geschichtlichkeit – jedes Gottvertrauen aufgegeben hat. Im Unterschied zu
Fortschrittsoptimisten, die in jeder technischen Innovation die Möglichkeit
sehen, die Zivilisation auf ein höheres Niveau zu heben, an dessen Ende die
Verwirklichung des „optimum bonum“ steht, versteht sich Jonas als kritischer
Geist, dem es letztendlich um die Beschränkung des erreichten Fortschrittes
geht. Die Aufgabe der Philosophie ist es daher, die Grenzenlosigkeit modernen
Fortschrittdenkens einzugrenzen.
Hans Jonas wird 1903 in
Mönchengladbach geboren. Er studiert Philosophie bei Husserl, Heidegger und
Bultmann. 1933 emigrierte
er nach England und später nach Palästina. 1987 erhält Jonas den Friedenspreis
des deutschen Buchhandels. Er stirbt 1993
in New York. Zu seinem bekanntesten Büchern zählt das
„Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische
Zivilisation“ (1979). Dem stehen zwei Bücher mit den Titeln „Macht und Ohnmacht
der Subjektivität? Das Leib-Seele-Problem im Vorfeld des Prinzips
Verantwortung“ sowie „Technik, Medizin und Ethik, Zur Praxis des Prinzips
Verantwortung“ nicht nach. Bekannt wurde Jonas darüber hinaus durch seine Werke
„Der Gottesbegriff nach Auschwitz“ und „Dem bösen Ende näher“. In seiner
Altersphilosophie distanziert sich Jonas zunehmend von der spätantiken
Forschung und wendet sich der modernen Welt und den mit ihr verbundenen
Problemen zu. Nicht in der Weltflucht gnostischer Heilslehren sieht er eine
Antwort auf die Fragen, die die Moderne stellt, sondern in einer Philosophie
der Zukunft. Mit seiner Forderung einer weltlichen Askese beispielsweise
modernisiert er ein Paradigma spätantiker Philosophie und begreift sie als
Fundament neuzeitlicher Ethik.
In seinen Überlegungen zur Natur und Technik erweist sich Jonas als
detailgetreuer Chronist. Die Analyse des 20. Jahrhunderts, die
Globalisierungstendenzen und die permanente Zerstörung der Natur zeigen, so
Jonas, daß ein Paradigmenwechsel im neuzeitlichen Bewußtsein die Voraussetzung
dafür ist, eine ökologische Katastrophe zu vermeiden. Der Mensch, so das
überzeugende Argument, hat sich an den Rand seiner Existenz gespielt. Die
Dialektik der Aufklärung ist an einen Punkt angekommen, wo sie auf die
Katastrophe zusteuert. Aus dieser Erfahrung heraus sucht Jonas nach einem neuen
Prinzip von Verantwortung, das sich nicht mehr auf das wechselseitige
Verhältnis von Subjekten beschränkt. Verantwortung, so die neue Dimension,
erstreckt sich ebenfalls auf die Natur und auf ein Handeln, das sich der Natur
gegenüber verpflichtet weiß. Eine neue Ethik muß auf die Globalisierung, auf
die Thematik der Ökologie und auf eine durch die Technik veränderte Weltsicht
reagieren. Nicht nur das atomare Wettrüsten zeichnet sich als Bedrohung ab,
auch in der modernen Medizin, insbesondere in der Technik des Klonens sieht
Jonas eine kritisch zu hinterfragende Dimension technischen Fortschrittes.
Seine philosophische Argumentation entwickelt er daher vor dem Hintergrund
dessen, was notwendig und zugleich geboten ist. Da es zur Wesensnatur des
Menschen gehört, nur dann Verantwortung zu übernehmen, wenn das eigene Leben
unmittelbar auf dem Spiel steht, bedarf es einer Verlagerung dieser
Wahrnehmung. Bevor es zur Katastrophe kommt, muß der denkende Mensch auf diese
Möglichkeit bereits reflektieren. In dieser Vor-Reflexion sieht Jonas den Ort
seines philosophischen Denkens. Der Mensch muß sich von seiner Unmittelbarkeit
lösen und zu einem kritischen Mitstreiter werden. Genau an diesem Punkt setzt
Jonas‘ Theorie der Verantwortung an. Verantwortung beginnt also unmittelbar
beim Ich und seinem sittlichen Sollen. Darüber hinaus verlagert sie sich
zugleich auf die Dimension der Zukunft. Verantwortung bedeutet demnach:
Verantwortung für die künftige Generation. „Das Verhältnis von Mensch zur Natur
ist noch nie Gegenstand sittlicher Überlegungen gewesen. Das ist es jetzt
geworden, und das ist ein philosophisches Novum.“ Nur der handelt gemäß der
sittlichen Maxime verantwortlich, der das Projekt Zukunft in seiner sittlichen
Selbstbestimmung mit verankert. Eng verbunden mit dem Verantwortungsbegriff
steht Jonas‘ Forderung von der Selbstzurücknahme der Vernunft. Dies bedeutet
nicht, mit dem Denken aufzuhören, es meint aber eine kritische Reflexion auf
die Vernunft selbst. Die Vernunft soll sich selbst überprüfen, denn im
vernünftig-kritischen Handeln erblickt Jonas den Maßstab verantwortungsvollen
Denkens. Er plädiert daher für eine Ethik des Verzichtes. Das vernünftige
Individuum steht dabei vor den folgenden Problemen: Entweder benutzt es seine
Intelligenz – Jonas sagt Geist – dazu, einen grenzenlosen Fortschritt um den
Preis ökologischer Katastrophen in Kauf zu nehmen oder es nimmt seine
Erkenntnismöglichkeiten zurück. Dies bedeutet nicht, daß der Mensch aufhören sollte,
Wissenschaft zu betreiben, er sollte nur – vorausschauend – auch die möglichen
Konsequenzen seines Forschens mit einplanen. Nicht in der Vernunft, die nach
dem „Grenzenlosen“ und „Machbaren“ strebt, sieht Jonas eine Läuterung des
Menschen, sondern in der „Heuristik der Furcht“. „Wir wissen erst, was auf dem
Spiele steht, wenn wir wissen, daß es auf dem Spiele steht.“ Die Furcht, wie er
betont, „kann heilsam sein“. In seinem Buch „Mitleid allein begründet keine
Ethik.“ sagt Jonas: „Meine pessimistische Theorie ist, daß das, was Weisheit
und politischer Verstand nicht fertigbringen, vielleicht der Furcht gelingt.
Wir erhalten Warnschüsse von der Natur, und ich hoffe, daß eine Serie von
kleinen Naturkatastrophen uns noch so rechtzeitig zur Vernunft bringt, daß wir
vor der großen Katastrophe bewahrt werden.“ Die Angst überbietet die Vernunft,
ja zwingt diese zur Selbstkorrektur. Denn, „daß die Furcht erzwingt und
erreicht, was die Vernunft nicht erreicht hat“, daran glaubt Jonas. „Ich habe
eine gewisse paradoxe Hoffnung auf die Erziehung durch Katastrophen. Solche
Unglücke werden eventuell rechtzeitig noch eine heilsame Wirkung haben.“ Jonas
plädiert nicht für „Unglücke“, er sieht in diesen nur eine Möglichkeit, den
Menschen zu läutern, wenn sich dieser nicht seiner Endlichkeit bewußt wird.
Im Unterschied zu rein kognitiven Ansätzen geht Jonas von einer
Selbstorganisation der Natur aus. Die Natur ist keineswegs ein totes Produkt,
das der Vernünftigkeit des Geistes diametral entgegengesetzt ist, sie organisiert
sich selbst und hat ihren Zweck an sich selbst. Zwar soll sich der Mensch die
Natur untertan machen, er darf sie aber nicht in seinem Sinne
funktionalisieren. Der Mensch soll die Natur nicht restlos „vernutzen“, sondern
sich ihr gegenüber verantwortungsvoll verhalten. Die Natur wird damit zum
Paradigma verantwortungsvollen Handelns und zugleich zum Gegenstand einer Ethik
der Pflicht. Nicht in der Hoffnung, wie sie Ernst Bloch in einem Werk „Das
Prinzip Hoffnung“ formuliert, sieht Jonas den Zweck sittlicher
Selbstbestimmung, sondern in der Pflicht, vernünftig zu handeln, entdeckt er
den kategorischen Imperativ der Verantwortung. Im Unterschied zur
Gesinnungsethik von Immanuel Kant (1724-1804) ist es die Verantwortungsethik,
die dem Menschen als Fundament der Selbstbestimmung den sittlichen Leitfaden
geben muß. Mit Kant stimmt Jonas allerdings überein, daß ein sittliches Gebot,
wie es der kategorische Imperativ formuliert, allgemeingültig und allgemein
verbindlich sein muß, soll sittliche Verantwortung greifen. Jedoch, so die
Einschränkung von Jonas an der Leitformel der aufklärerischen Moralität: Der
Formalismus der Ethik Kants ist einerseits um eine Ethik des Gefühls zu
erweitern, wobei in diese die Sorge und die Ehrfurcht vor dem Leben
einzubeziehen sind. An die Stelle einer rein formalen Ethik setzt er die Ethik
von Werten und Gefühlen. Andererseits muß die Dimension zukünftiger
Verantwortlichkeit, d.h. die Perspektive der Zeitlichkeit im kategorischen
Prinzip Eingang finden. „Das sittliche Universum besteht aus Zeitgenossen und
sein Zukunftshorizont ist beschränkt auf deren voraussichtliche Lebensspanne.“
Kant entwickelt, so die Kritik, eine Ethik der Gleichzeitigkeit. Anerkennung,
so Kant, findet statt, weil das moralische Subjekt seinem Gegenüber eine sittliche
Qualität zugesteht. Die Gleichzeitigkeit der Verantwortung reicht aber, so
Jonas, nicht aus, da sie nur auf die unmittelbaren Folgen sittlichen Handelns,
nicht aber auf die zukünftige Dimension sittlicher Verantwortung abstellt.
Denn: Wenn jeder Einzelne vor dem inneren Gerichtshof Rechenschaft über seine
Sittlichkeit abgibt, indem er zugleich Richter und Gerichteter ist, läßt sich,
so Jonas, daraus nur eine subjektive Ethik ableiten, die zwar notwendig ist,
aus der sich aber keine universale Sittlichkeit ableiten läßt. Die Möglichkeit
sittlich zu handeln, sieht Jonas in der vernünftigen Anlage des Menschen,
betont aber mit Brecht, daß zuerst gewisse minimale Standards – zu denen er die
normalen Bedürfnisse der Lebenserhaltung zählt –, erfüllt werden müssen, damit
die Vernunft in der Lage ist, sittlich zu denken.
Jonas bestimmt seine Ethik als vertikale. Ethisches Handeln beschränkt sich
danach nicht auf die Horizontalität, d.h. auf den sich sittlich oder unsittlich
bestimmenden Anderen, sondern auf die Gesamtheit von Wesen im Kosmos. An die
Stelle einer rein horizontalen Ethik tritt die vertikale, in der dem Menschen
als Teil des universalen Kosmos auch Verantwortung zukommt. Die Rede,
d.h. die Unterscheidung von „vertikal“ und „horizontal“ hat aber noch eine
andere Bedeutung. Das, „worauf der Menschen hinzuleben hat“, kann „gar nicht in
der ‚Horizontale‘, im Fortgang des Zeitlichen, sondern muß in der ‚Vertikale‘,
im Ewigen gesehen werden, das die Zeitlichkeit überwölbt und natürlich in jedem
Jetzt unverkürzt da ist“. Anders gesagt: Jonas verabschiedet sich von Platons
Theorie des rein „an sich“ Guten und der daran anknüpfenden
Vollkommenheitslehre, er hält aber daran fest, daß das Ewige, d.h. die
Verantwortung als Idee beständig fortdauert. Es geht ihm vorrangig nicht um die
Suche nach dem vollkommenen Menschen, es ist die Bewahrung „des von der Natur
und in Natur lebenden moralfähigen Wesens Mensch und die Förderung seiner
Moralfähigkeit, insbesondere seiner, seit dem technologischen Zeitalter überlebensnotwendig
gewordenen, Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortungspflichten“. Das wahrhafte
Ziel als „höchstes Glück“ oder als „höchstes Gut“ verstanden, erlangt der
Mensch nicht im intelligiblen All und durch die Unsterblichkeit der Seele,
sondern in seiner Endlich- und Vergänglichkeit. „Verantwortlich kann man nur
für Veränderliches sein, für das von Verderbnis und Verfall Bedrohte, kurz für
Vergängliches in seiner Vergänglichkeit [...].“ Jonas verlagert den Bereich
verantwortlichen Tuns nicht nur in die endliche Lebenszeit hinein und sieht in
ihr das Fundament der Verantwortungsübernahme. Er distanziert sich auch vom
kategorischen Imperativ Kants. Nicht im „Du kannst, denn du sollst“ zeichnet
sich die neue Qualität von Verantwortung, sondern in der Umkehrung dieses
Satzes: „Du sollst, denn du tust, denn du kannst, das heißt dein exorbitantes
Können ist schon am Werk.“ Von der Tatsache ausgehend, daß unsere Welt selbst
gefährdet ist, d.h. vor dem Abgrund steht, geht es Jonas nicht um eine Ethik
der Vollkommenheit, in der die Einheit von Glückseligkeit und sittlicher
Würdigkeit angestrebt wird, sondern um „vulgärere“ Pflichten, „die unsere
ebenso vulgäre Kausalität in der Welt uns auferlegt“. Anders gesagt: Der
Anspruch auf sittliche Vollkommenheit als Ziel endlich-moralischer
Selbstbestimmung tritt in der gegenwärtigen Welt und ihrer Ethik zurück, die
sich in erster Linie um die Erhaltung ihrer Welt zu kümmern hat. Dies bedeutet
nicht, daß es in naher Zukunft möglich ist, erneut nach der sittlichen Vollkommenheit
zu streben. Aber: Zuerst gilt es die Welt zu retten, bevor sich der Einzelne
rettet. An die Stelle einer anthropozentrischen Ethik tritt ein
überindividuelles Paradigma ethischer Vernünftigkeit. Nur im gemeinsamen
Streben und nur durch die Einsicht, ein Ethos, d.h. eine Dimension der Zukunft
zu begründen, ist an eine Welt zu denken, die mit ihrer Schönheit noch künftige
Generationen begeistern kann.
Jonas beschäftigt sich bereits vor 20 Jahren mit medizinethischen
Fragestellungen (Klonen), wie sie gerade in Deutschland intensiv diskutiert
werden. Im Unterschied zu den Eiferern, die einen Fortschritt um jeden Preis in
Kauf nehmen, um das wissenschaftlich Machbare zu realisieren, nimmt Jonas
deutlich Stellung zugunsten einer Ethik der „Demut“. Nicht das, was machbar
ist, soll möglich sein, sondern der Machbarkeitswahn selbst ist kritisch zu
hinterfragen. Im „Das Prinzip Verantwortung, Versuch einer Ethik für die
technische Zivilisation“ heißt es: „Das Neuland kollektiver Praxis, das wir mit
der Hochtechnologie betreten haben, ist für die ethische Theorie noch ein
Niemandsland.“ Die Ethik muß sich am technischen Fortschritt orientieren und
auf die Innovationen des technisch Möglichen reagieren. Dabei – und dies betont
Jonas – muß sich die Ethik selbst neu begründen. Die ethischen Gebote
traditioneller Gebots- und Rechtsvorschriften reichen zwar aus, eine
sittlich-subjektive Selbstbestimmung zu begründen, sie scheitern aber an der
ethischen Forderung, die Welt als ganze zu erhalten. Um die Welt vor der Möglichkeit
eines totalen Infarktes zu bewahren, bedarf es einer kollektiven Verantwortung,
denn kein einzelner Mensch kann sich der geforderten Aufgabe entziehen.
Im Rahmen medizinischer Diagnostik plädiert Jonas wie in seiner Ethik der
Verantwortung für die Einschränkung optionaler Möglichkeiten. Im medizinischen
Fortschritt sieht er aber auch die Gefahr eines möglichen Mißbrauches, hebt
aber gleichzeitig hervor, daß die Medizin ein „neues Hoffnungslicht für eine
bestimmte Gruppe von Leidenden ist“. Die qualitative Differenz „zwischen bloßer
Reparatur von Schäden und einer kreativen Umformung“ und Weiterformung ist, so
Jonas, gravierend. „Die Gefahren sind um so ungeheuerlicher, daß es vielleicht
besser ist, auf gewisse Fortschritte zu verzichten, die vielleicht für einige
Leidensfälle Hilfe bringen könnten“. So sehr – aus technisch-medizinischer
Sicht – die Thematik des Klonens fasziniert, weil sie gegenüber der
reproduktiven Medizin ein neues Feld der Forschungstätigkeit eröffnet,
limitiert sie die persönliche Entwicklung des einzelnen Menschen. Ein Klon hat
keine Option auf seine individuelle Freiheit, denn sein Leben wird durch sein
genetisches Vorbild, dessen Abbild er ist, vorgezeichnet. Kein Mensch kann
wollen, daß er durch seinen „Vorgänger“ in seiner Lebensqualität vorherbestimmt
und determiniert wird.
In seiner Theorie der Verantwortung unterscheidet Jonas aber auch die aktive
von der passiven Sterbehilfe, wenngleich er im selben Zusammenhang betont, daß
die Differenz zwischen beiden medizinischen Methoden „fließend“ sei. Vor dem
Hintergrund der Geschichte des Nationalsozialismus und der im T 4 Euthanasie
erfolgten Auslöschung von Individuen lehnt Jonas die aktive Tötung radikal ab.
Ist es dem Arzt erlaubt, aktiv zu töten, ist der Schritt zur Selektion, die
einer nicht ethischen Euthanasie Tor und Tür öffnet, nicht mehr weit.
Demgegenüber sieht er in der Palliativmedizin eine diagnostische Methode, die
dem hippokratischen Eid und dem damit verbundenen Paternalismus nicht
widerspricht. Mit der Zurückweisung aktiver Tötung oder Sterbehilfe distanziert
sich Jonas von Peter Singer, der diese Methode – in gewissen Fällen –
befürwortet. Jonas geht sogar noch einen Schritt weiter: „Selbst wenn“, so das
Argument, „das Leiden einer betroffenen Person durch eine lebenserhaltende
Maßnahme verstärkt wird, obwohl diese durch eine aktive Maßnahme früher zu
beenden wäre, muß am aktiven Tötungsverbot festgehalten werden“. Das Leiden,
das nicht dem beratenden Arzt, sondern dem Kranken widerfährt, ist zwar schrecklich
und aus ethischer Sicht nicht zu rechtfertigen, dennoch: Die Option, aus
Mitleid aktiv zu töten, weist Jonas zurück. „Es ist schrecklich zu sagen, aber
eine auf Mitleid allein gegründete Ethik ist etwas sehr Fragwürdiges. Denn was
da an Konsequenzen drinsteckt für die menschliche Einstellung zum Akt des
Tötens, zum Mittel des Tötens als eine routinemäßig zu Gebote stehenden Weges,
gewisse Notlagen zu beenden, was sich da auftut, für eine, um es mal ganz scharf
zu sagen, progressive und kumulative Gewöhnung an den Gedanken und die Praxis
des Tötens, das ist unabsehbar.“
Auch im Hinblick auf das Leben des Ungeborenen vertritt Jonas einen
konsequenten Standpunkt. Anders als Singer, der immer wieder darauf hinweist,
daß es zwischen Menschsein und Personsein eine qualitative Differenz gibt, geht
Jonas davon aus, daß die Existenz des Ungeborenen bereits eine Pflicht zur
Verantwortung, d.h. ein sittliches Sollen ihm gegenüber mit einschließt. „Ich
meine wirklich strikt, daß hier das Sein eines einfach ontisch Daseienden ein
Sollen für Andere immanent und ersichtlich beinhaltet, und es auch dann täte,
wenn nicht die Natur durch mächtige Instinkte und Gefühle diesem Sollen zu Hilfe
käme [...].“ Bereits den Zellhaufen begreift Jonas als „Prototyp“ eines Objektes
der Verantwortung. „Wir werden finden, daß die Auszeichnung in dem
einzigartigen Verhältnis zwischen Besitz und Nichtbesitz des Daseins liegt, das
nur dem beginnenden Leben eigen ist und die Ursächlichkeit seiner Erzeugung,
als eine auch erst begonnene, zu jener Fortsetzung verpflichtet, die eben der
Inhalt der Verantwortung ist.“ Die Verantwortung für den Ungeborenen – und
später auch für den Neugeborenen – resultiert nicht aus seiner möglichen
Verantwortungsfähigkeit, die er in diesem Status gar nicht haben kann, sondern
aus dem Faktum, daß sich die Eltern zur Zeugung entschlossen haben. Da sich der
Embryo nicht an der Wahl, ihm ein Dasein zuzumuten, beteiligt hat, wird die
Pflicht, d.h. die Verantwortung für sein Leben automatisch auf die Eltern übertragen.
Die Eltern haben damit – in vertrauenswürdiger Absprache mit dem behandelten
Arzt – die alleinige Verantwortung. Sie haben aber darüber hinaus auch eine
Verantwortung für ihr Kind und für sein künftiges Leben. An diesem Punkt setzt
Jonas Medizinethik ein. Aus der Sicht der Verantwortung stellt sich ihm die
Frage, ob es ethisch-moralisch möglich sein könnte, das Leben des Ungeborenen
oder des Neugeborenen zu beenden? Dieser Extremfall tritt ein, wenn feststeht,
daß das Fortbestehen nur um den Preis unendlichen Leidens erkauft wird. Aus
moralischer Sicht ist daher abzuwägen, ob es auch eine Verantwortung
dafür gibt, ein Leben zu beenden. Handelt es sich um die begründete Annahme,
daß dieses Leben nicht „lebenswert“ sein wird, sieht Jonas kein ethisches
Problem darin, dieses Leben zu beenden. Dieses „Beenden“ darf keineswegs
mittels einer aktiven Sterbehilfe durchgeführt werden.
Jonas räumt immer wieder ein, daß es neben dem Recht auf Leben auch ein Recht
zu sterben gibt. Doch, so die Einschränkung: „Trotzdem dürfen wir das nicht auf
dem Weg der aktiven Tötung tun [...]. Eine solche Gewöhnung würde eben jene
Dammbruch-Situation schaffen. Aber es gibt Grenzen für das, wozu wir ein
solches Wesen verurteilen dürfen, und darum könnte das Sterbenlassen wirklich
ein sittliches Gebot sein.“ Fazit: Einerseits lehnt Jonas das aktive
Tötungsverbot ab, andererseits soll unter bestimmten Rahmenbedingungen eine
passive Tötung erlaubt sein. Er schreibt: „Nicht was wir dem Säugling zu seinem
Weiterleben schulden – das ist die positive Verantwortung –, sondern wie weit
wir gehen dürfen mit der Zumutung des Daseins an das von uns gezeugte Kind, ist
hier das Problem. Da gibt es Grenzen um dieses Wesens selbst willen, wo man
sagt: Nein, dazu dürfen wir es nicht verurteilen, und deswegen achten wir nicht
nur das Recht zu leben, sondern wir müssen auch ein Recht zu sterben achten.“
Den Begriff „lebensunwert“ will Jonas aus dieser Diskussion ausklammern. Das
Leben ist nicht deshalb „lebensunwert“, weil es mit gewissen – von der
Gesellschaft geforderten – Standards nicht übereinstimmt. Der Begriff
„lebensunwert“ läßt sich nur sinnvoll verwenden, wenn gemeint ist, daß das
„nicht wert zu leben für dieses Wesen selber“ gelte. Anders formuliert: Nicht
die Gesellschaft entscheidet über den Wert des Lebens und nicht eine durch die
Gesellschaft begünstigende Eugenik, sondern – und dies ist die Schwierigkeit –
die Verantwortung der Eltern. Dabei übersieht Jonas die Perspektive, daß die
positive Verantwortung an Dritte übergeben wird. Denn: Vielleicht kann eine
schwere Behinderung, die gentechnisch erkannt wird, letztendlich doch zu einem
„glücklichen“ Leben führen, das aber im vornherein zerstört wird, weil die
Eltern über die Lebensfähigkeit oder -unfähigkeit entscheiden? Jonas‘ Antwort
darauf lautet: Daß es sich hier um Extremfälle handelt, wo es keine allgemein
verbindliche Lösung geben kann. Seine Argumentation überzeugt in diesem Punkt
nicht, denn er hebt an anderer Stelle hervor, daß eine Behinderung nicht
entgegengesetzt zu einem glücklichen Leben steht. Er distanziert sich darüber
hinausgehend auch von einer Verklärung oder gar Heiligung der Behinderung, denn
ein Leben mit drastischen Einschränkungen zu führen, ist nicht zu verantworten.
Dies gilt nicht nur für den Ungeborenen oder den Neugeborenen, sondern auch für
Patienten, für die es keine Chance mehr gibt, ein „lebenswertes“ Leben zu
führen. Jonas erweitert damit seine medizinethischen Fragen, wenn er vom Anfang
des Lebens ausgehend, auch die Thematik des Sterbens im Alter oder nach
schweren, d.h. unheilbaren Krankheiten analysiert. „Wenn man jemanden über eine
Krise hinweghilft, ist das richtig, aber dies [...] dem Patienten aufzuzwingen,
erscheint mir unstatthaft, nicht nur aus Mitleid, sondern um der Würde des
Menschen willen. Es ist in einem konkreten Sinne sinnlos. Also ist der Abbruch
der Behandlung, nachdem einwandfrei festgestellt ist, daß mit einer Wiederkehr
nicht zu rechnen ist, etwas anderes, als die Verabfolgung einer tödlichen
Spritze.“ Ist es absehbar, daß die künstliche Verlängerung des Lebens – Jonas
diskutiert diese Frage am Beispiel des Hirntods – für den Betroffenen nichts
mehr bringt, dann ist das „Steckerziehen“ aus moralischer Sicht nicht
bedenklich, denn dieser Akt geschieht nicht aus der Sicht von Eugenik und
Euthanasie, sondern vor dem Hintergrund, die Würde des Menschen zu bewahren.
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.