Erschienen in Ausgabe: No 63 (5/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Heike Geilen
„Gewisse Vorurteile hat jeder Mensch.“ Davon war Sir Peter Ustinov
überzeugt, denn „sonst könnte er nicht einmal seine Koffer packen.“
Ressentiments begleiten unseren Alltag. Unser Leben wird von ihnen geleitet.
Jeder hat sie - man selbst natürlich nicht - und sie sind fast unmöglich aus
dem Bewusstsein zu löschen. Eng mit einem positiven Selbstbild, mit Eigennutz
und Gruppenkonflikten verbunden, bleibt ihr Wahrheitsgehalt allerdings höchst
strittig. Vielleicht alles nur eine evolutionsbiologische Einrichtung unserer
„grauen Masse“? „Der Mensch ist ein kognitiver Geizkragen“, sagt der Psychologe
Lars-Eric Petersen, „er versucht, mit so wenig Denkarbeit wie möglich durch das
Leben zu kommen.“ Vorurteile können allerdings auch schnell den harmlosen und witzigen Weg
verlassen, verletzend werden und negative Auswirkungen haben.
Am 07. November 2010 startete die ARD das politisch wohl inkorrekteste
TV-Magazin des Jahres: „Entweder Broder - Die Deutschland-Safari“. Zwei
pittoreske Typen - ein polnischer Jude und ein ägyptischer Moslem - begeben
sich auf Streifzug durch die deutsche Vorurteilswelt. Das hier besprochene, 190
Seiten starke, im Collage-/Comic-Stil gestaltete „BILD“hafte Büchlein gibt die
geführten Gespräche der fünf TV-Folgen, die dem „typisch deutschen Wesen“ auf
den Zahn fühlen, wortwörtlich wieder. In 26 kurzen Episoden begleitet der Leser
den chronisch rechthaberischen „Groß-Ajatolla der journalistischen Polemik“
Henryk M. Broder und den eher vernunftgeleiteten, sachlich, nüchternen und
differenzierten, „entwurzelten Integrationsaraber“ Hamed Abdel-Samad quer durch
Deutschland. Mit von der Partie Broders Drahthaar-Foxterrier Wilma.
30.000 Kilometer absolvierten die beiden Tourenden in ihrem Gefährt: ein
schrecklich aufgepimpter Volvo 760 namens Kurt, mit stöhnenden Türen, allerlei
Kitsch und Klimbim im Inneren sowie nicht minder abgeschmacktem, nein,
künstlerisch bemaltem Äußeren. Sie besuchen Gedenkstätten, Aussteigerkommunen,
Moscheen, die Bundeswehr oder Friedenskundgebungen. Da „plaudern“ sie auf einer
NPD-Zusammenkunft in Neu-Kölln mit den Anwesenden über Integration, dort
hinterfragen sie die Beweggründe einer „Politputze“, die sich auf das
Auslöschen von nazionalsozialistischen Graffitischmierereien durch erneutes
Übersprühen verschrieben hat. Sie werden vor einer Moschee in Duisburg-Marxloh
verjagt oder diskutieren mit ewiggestrigen Ex-DDRlern im Konferenzraum des
Verlagshauses „Neues Deutschland“. Als mobiles Mahnmal verkleidet, mischt sich
Henryk M. Broder unter die Feiernden am Holocaust-Denkmal in Berlin oder noch
schlimmer, mit stilechter Burka aufs Oktoberfest, um dort eine Gruppe von
türkischen Jugendlichen in einen sprachlichen Gedankenaustausch zu verwickeln.
Broder provoziert, Abdel-Samad schlichtet. Aber nicht alles ist Klamauk und
Affront. Auch ernsthafte Gespräche werden geführt, zum Beispiel bei einem
Besuch eines Panzerbataillons in Mecklenburg-Vorpommern oder bei
Friedenspolitiker Norman Paech. Unterwegs im Auto diskutiert man das Für und
Wider.
Alles in Allem ist trotz der schrillen Aufmachung ein nachdenkliches Buch
entstanden: böse und heiter, nicht wertend, sondern nachfragend, mit vielfach
sich selbst entblößenden Gesprächspartnern. Eine brisante Gradwanderung
zwischen Journalismus und Comedy, eine vergnüglich scheinende Fahrt in die
Abgründe menschlicher Beschränktheit und die Hochkultur unserer Vorurteilswelt.
Doch auch wenn sich Schubladendenken nicht so einfach abschaffen lässt und ein
vorurteilsfreies Leben wohl immer Utopie bleiben wird, gibt die
„Deutschland-Safari“ immerhin einen kleinen Anstoß, unser Verhalten und unsere
Entscheidungen zu überprüfen und sie einmal mehr auf die berühmte Waagschale zu
werfen. Denn, und hier möchte ich noch einmal Sir Peter Ustinov zu Wort kommen
lassen: „Es spricht vieles dafür, dass in einem leeren Kopf die Vorurteile
besonders blühen.“ Das beste Mittel also, sich Zeit zum Denken zu nehmen.
Henryk M. Broder und Hamed Abdel-Samad haben einen kleinen Anteil geleistet.
Mein Urteil: Gelungen!
Henryk M.
Broder, Hamed Abdel-Samad
Entweder Broder. Die Deutschland-Safari
Knaus
Verlag, München (Dezember 2010)
192
Seiten, Broschiert
ISBN-10:
3813504212
ISBN-13:
978-3813504217
Preis:
14,99 EURO
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