Erschienen in Ausgabe: No 63 (5/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Heike Geilen
Gibt es einen freien Willen? Können wir wirklich tun, was wir wollen oder
entscheidet sich das Gehirn an unserem Bewusstsein vorbei? Theologen und
Philosophen streiten darüber schon lange. Für die einen - zum Beispiel
materialistische Philosophen der Aufklärungszeit - sind alle Ereignisse seit
Anbeginn der Zeiten vorherbestimmt und Freiheit nur eine Illusion. Andere - zum
Beispiel Existentialisten wie Jean-Paul Sartre - meinen, wir haben selbst unter
Extrembedingungen (Gefangenschaft, Folter) die freie Wahl der Entscheidung,
unser Schicksal anzunehmen oder uns ihm zu widersetzen. Neurobiologische
Untersuchungen bestätigten jüngst die erste Vermutung.
Ist der freie Wille überhaupt naturwissenschaftlich nachweisbar? Reinhard
Werth, Professor am Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin an der
Universität München bejaht diese Frage. "Mit
zunehmender Kenntnis der neuronalen Prozesse, die Verhalten und Erleben
begleiten oder diesen vorausgehen, stellte sich die Erkenntnis ein, dass alles
Verhalten und Erleben von neuronalen Prozessen verursacht, festgelegt,
gesteuert, determiniert ist. Das verleitet zu dem voreiligen Schluss, alle
Entscheidungen seien unfrei, weil auch sie durch neuronale Prozesse verursacht,
festgelegt, gesteuert, determiniert seien.", so der Autor. Er tritt in
seinem Buch den Gegenbeweis an.
Der Münchner Neuropsychologe kreidet der Wissenschaft an, dass sie in all
ihren Behauptungen nie von einer klaren Begrifflichkeit ausgegangen sei. Man
kann nicht einfach den Begriff des freien Willens aus der Alltagssprache
übernehmen, so Werth und damit wissenschaftliche Aussagen formulieren. Wichtig
sei es, erst einmal den Begriff exakt zu fassen. Nicht nur die neurobiologische
Sichtweise ist dabei maßgebend, sondern ebenso mathematisch-logische Aspekte
und solche aus der Experimentalpsychologie. Erst mit einer exakten Definition
der Begrifflichkeit kann man die neurobiologischen Grundlagen dessen
erforschen, was den freien Willen ausmacht. Die bis dato verwendeten Begriffe zeigen,
dass es sich bei den meisten Behauptungen um eine Tautologie handelt, bei der
etwas mit sich selbst begründet wird.
Unumstritten ist natürlich, dass unsere Entscheidungen von
neurobiologischen Hirnfunktionen abhängen. Aber nicht nur. "Ob Ereignisse in unserer Umwelt überhaupt von unserem Gehirn
registriert werden und so weit von neuronalen Netzwerken verarbeitet werden,
dass sie in unser Bewusstsein gelangen, hängt (...) entscheidend davon ab, ob
und wie lange wir unsere Aufmerksamkeit auf sie richten." Und vor
allem, ob wir sie erkennen. Bewusstsein ist für Werth die Gesamtheit dessen,
was einer Person innerhalb eines bestimmten Zeitintervalls bewusst ist. Für ihn
lässt sich ein freier Wille nachweisen, auch wenn Hirnfunktionen "notwendige und hinreichende
ursächliche Bedingungen für Willensentscheidungen sind."
Anhand zahlreicher Fallbeispiele aus seiner eigenen Praxis versucht
Reinhard Werth zu widerlegen, dass der Mensch ein "unfreies Wesen"
sei. Auf 150 seines reichlich 200 Seiten starken Buches erläutert er in aller
Einzelheit die Bausteine und Funktionsweisen unseres
"Neuronenapparates". Diese Darlegungen sind nicht immer einfach zu
konsumieren, setzen sie doch ein gewisses neurobiologisches Grundwissen voraus.
Auch wirken sie mitunter über Gebühr ausführlich und detailliert, was die
Lesbarkeit und Aufmerksamkeit zusätzlich beeinträchtigt.
Allein den letzten 50 Seiten kommt die Definition des freien Willens zu.
Werth zeigt auf, wie Willensentscheidungen im Gehirn entstehen und dass es
Wahlmöglichkeiten zwischen Verhaltensweisen gibt. Es schließt sich ein kurzer
Ausflug in strafrechtliche Konsequenzen der Schuldlosigkeit bei unwillentlichen
Handlungen, aufgrund fehlender rationaler oder emphatischer Einsicht bis hin
zum freien Patientenwillen an. Den Schluss bildet ein Kapitel, das der Frage
nachgeht, ob es ein Bewusstsein nach dem Tod gibt.
Alles in Allem ein höchst interessantes Buch. Allerdings würde ich es
aufgrund seiner überbordenden Fülle an Informationen und der mitunter nicht
leicht zu lesenden, ausschweifenden Ausführlichkeit nicht in das Genre
populärwissenschaftlicher Literatur einordnen. Der Quintessenz Reinhard Werths
ist man jedoch gewillt zu folgen: dass das Gehirn uns zwar Vorschläge
unterbreitet, wir jedoch letztendlich selbst entscheiden, ob wir diesen
Vorschlag annehmen - Überraschungen inklusive...
Reinhard
Werth
Die Natur des Bewusstseins
Wie Wahrnehmung und freier Wille im
Gehirn entstehen
C.H.
Beck Verlag, München (Oktober 2010)
233
Seiten, Broschiert
ISBN-10:
340660594X
ISBN-13:
978-3406605949
Preis:
19,95 EURO
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