Erschienen in Ausgabe: No 61 (3/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Heike Geilen
Mit
dieser Schlagzeile wartet die Wiener Presse im Jahr 1910 in einer ihren
Gazetten auf und deutet damit eine sich anbahnende Sensation in der hiesigen
Schachwelt an. Aufsehenerregender konnte das stattfindende Ereignis nicht sein.
Leute, die vom Schach kaum mehr als die Gangart der Figuren wussten, es gar für
ein Welträtsel hielten, prügeln sich um Zuschauerplätze am Austragungsort. Was
treibt sie, dieser "Leidenschaft
magerer Kanzleiräte und schlitzohriger Juden", diesem eher
unspektakulären Sport, "langweiliger
noch als eine Meisterschaft der Briefmarkensammler oder
Spitzendeckenhäkler", beizuwohnen?
Lokalmatador
Carl Haffner ist im Begriff den bis dato seit sechzehn Jahren ungeschlagenen
Weltmeister, Gelehrten, Mathematiker und Philosoph Emanuel Lasker in die Knie
zu zwingen. Fünf Spiele von den angesetzten zehn sind bereits ausgetragen. Vier
Mal Remis hat sich Haffner erkämpft, einen durch ihn "bevorzugten"
Spielstand. In einer Partie zwingt er den Deutschen sogar in die Knie und
gewinnt. Der in greifbare Nähe gerückte Weltmeistertitel ist dabei zwar eine
erfreuliche Nebenperspektive, aber den Menschen geht es um etwas anderes: "um den Wettstreit, um Sieg oder
Niederlage, um Aufregung und - um eine Antwort. Die Art der Waffen war
nebensächlich. Man wollte ohne eigenes Risiko einen Vorgang beobachten, dem man
selbst im Alltäglichen ganz unfreiwillig unterworfen war. Einem Wettstreit,
dessen Regeln man zu kennen glaubte, lagen klare Muster zugrunde, ganz im
Unterschied zu den Konflikten des Lebens. Im Leben wusste man nur selten, ob
man ein Spiel gewonnen hatte. Und man wusste nicht, wer hinter den Spielregeln
steckte. Das war das Schlimmste."
Thomas
Glavinic schildert in seinem Debütroman aus dem Jahr 1998 diesen ganz realen
(Über-)Lebenskampf auf mehreren Ebenen. Die titelgebende Figur, seine
sportliche Auseinandersetzung mit dem deutschen Ausnahmespieler und vor allem
sein obsessiver, ja tragischer Werdegang, bildet dabei das Rahmengerüst. Geist
und Seele dem Schachspiel verschrieben, gibt sich Carl Haffner diesem blind,
bedingungslos, ausschließlich und fanatisch hin und geht daran letztendlich
jämmerlich zugrunde. Um diese Handlung herum taucht Thomas Glavinic in diverse
Lebenslinien des Haffnerschen Stammbaums ein: der Urgroßvater, ein wohlhabender
Tuchhändler aus Königsberg, der mittelmäßige, als Komödienschreiber jedoch
erfolgreiche Wiener Großvater sowie seine, auf der untersten Sprosse der
Sozialleiter stehenden Eltern sind dabei mehr als Nebenkriegsschauplätze. Der
Vater - ein Trinker - schlägt sich als Stehgeiger in Wiener Beiseln und
Heurigen durch. Mutter Maria verdient mit Näharbeiten und später, nachdem sie
der Mann wegen einer jüngeren Frau verlässt, als Toilettenfrau den
Lebensunterhalt. Zu Lina wiederum, seiner Halbschwester, hat Carl eine
besondere, ja beinahe magische Beziehung.
"Im Spiel der Meister, sagt Lasker,
liegt die Wahrheit, auf dem Brett kann man nichts verbergen: Man ist als Mensch
nackt." Thomas Glavinic weiß sehr wohl um dieses Offenliegen. Brachte
er es doch 1987 selbst bis zur Nummer 2 der österreichischen Schachrangliste
seiner Altersklasse. Als Schriftsteller ist er gleichsam entblößend. Entstanden
ist ein mitreißendes, bewegendes und gut lesbares psychologisches
Gedankenexperiment, das sich in seinem Grundgerüst am wahren historischen
Ereignis orientiert. Auch die Person des Herausforderers Carl Haffner
existierte. Sie wurde durch den österreichischen Autor mit der Biografie des
1874 geborenen Karl Schlechters ausgestattet, der tatsächlich 1910 gegen
Emanuel Lasker antrat. Allerdings ist anzunehmen, dass auch jede Menge
persönliche Züge in die Erzählung eingeflossen sind. Dafür stand Thomas
Glavinic zu nah an der Materie.
"Ein Dichter schreibt sein Buch nicht
einfach, er fügt darin eins zum anderen. Und ein großer Schachmeister spielt
seine Partien nicht. Er baut sie. (...) [und] verwendet für jeden Zug so viel Kraft und Phantasie wie ein Dichter
für jedes Wort jedes Satzes.", schreibt der Österreicher. In seinem
Roman ist ihm Gleiches gelungen. Er vereint beide Genre kongenial miteinander.
Quintessenz: "Im Schach ist es wie
im Leben: Man darf nur angreifen, wenn der Gegner einem zuvor die Waffen dazu
in die Hand gedrückt hat." Das allerdings vergaß Carl Haffner alias
Karl Schlechter zu berücksichtigen.
Thomas
Glavinic
Carl Haffners Liebe zum Unentschieden
Verlag
Volk & Welt, Berlin (1998)
232
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3353011110
ISBN-13:
978-3353011114
Preis:EURO
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