Erschienen in Ausgabe: No 62 (4/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Heike Geilen
"Hallo da draußen, geht es noch?
Ich glaube, wer mir regelmäßig zuhört, kann selber nicht ganz richtig im Kopf
sein. Wenn es jemanden gibt, der hier am Ball bleibt, würde ich ihn ziemlich
gern kennenlernen, selbst wenn es keine schöne Frau ist. Aber im Augenblick
bleibe ich lieber so isoliert, wie ich jetzt bin. Keine Lust, dass mich Lisa
statt der schönen Frau besuchen kommt. Na ja, vielleicht ist die auch schön.
Andererseits, bei dem Alter."
Direkt, offen, mit einem Hang zu wunderbar bizarrem Humor und immer ein
bisschen kryptisch... Genau so liest sich ein echter Glavinic. Sein Protagonist
ist, wie schon in "Die Arbeit der Nacht", seinem großartigen Roman
aus dem Jahr 2006, wieder einmal allein. Fast allein. Nur seinen achtjährigen
Sohn hat er bei sich, in dieser abgeschiedenen Berghütte, in die er sich
zurückgezogen hat, in die er geflüchtet ist. Irgendetwas lauert da draußen auf
ihn, eine unbestimmte Gefahr, eine brutale Serienmörderin, der man den Namen
Lisa gibt und die ihr Unwesen auf der ganzen Welt treibt. DNA-Spuren dieser
Frau sind im Lauf vieler Jahre nahezu bei allen Verbrechen gefunden worden. Nun
scheint sie es auf ihn abgesehen zu haben. Die Anzeichen mehren sich. Die
Paranoia wächst. Zumal der mit dem Fall betraute Kriminalist und mittlerweile
zum Freund fungierte Hilgert seit einigen Wochen wie vom Erdboden verschluckt
zu sein scheint. Hat Lisa etwa wieder zugeschlagen?
Der Leser schlüpft in die Rolle eines Internetradio-Hörers, der sich als
stummer Teilhaber des spinnerten Monologes von Glavinics Ich-Erzähler, einem
Computerspiele-Tester, versteht ("Ich
rede ja nur noch Blödsinn. Ihr versteht es hoffentlich trotzdem.").
Jener stöpselt jeden Abend seinen Computer an, betäubt sich mit Whisky, Wein
und schlimmeren Drogen und bedient derart zugedröhnt seine Zuhörerschaft mit
der Analyse der mysteriösen Mordfälle. "Ich
drehe sicher nicht durch, ich habe überhaupt keine Lust dazu. Deswegen rede ich
hier hinein, damit das nicht passiert, damit ich wenigstens das Gefühl habe,
noch im Kontakt mit Menschen zu stehen. (...) Es ist, als ob mir nichts
passieren könnte, solange ich hier sitze und rede, rede, rede. Alles ist gut,
solange ich durch dieses Gerät mit einem kleinen Ausschnitt der Welt
kommuniziere. Zu dem du, mein Zuhörer, gehörst."
Lisas Ermittlungsgeschichte und das langsame, systematische Herantasten an
die Aufdeckung ihrer mysteriösen Identität ziehen sich wie ein roter Faden
durch den Roman und bilden das Grundgerüst desselben. Um dieses orakelhafte
Szenario herum lässt der österreichische Autor seine literarische Figur, die
wohl einige Gemeinsamkeiten mit seinem eigenen Ich aufweist, über diverse
Gedankengänge und Alltagsgegebenheiten philosophieren ("Bei mir sind es ausnahmslos Seltsamkeiten"). Immer
wieder unterbrochen von diversen Kokaineinwürfen, wechselt der Ich-Erzähler von
A nach S, um über R und einem Abstecher nach F letztendlich zu B
zurückzufinden. Auf den ersten Blick muten diese Assoziationen alle etwas
konfus an, aber in Wirklichkeit liegen unter ihrer Oberfläche vielfältige und
tiefgängige Betrachtungen der Gesellschaft und ihrer "Vertreter", der
Menschen. Ein Kontrapunkt zu Lisas ominöser Präsenz.
Thomas Glavinic versteht es erneut mit seiner knappen, klaren, zuweilen
ziemlich derben und direkten Sprache, auf faszinierende Art und Weise ein
Gefühl der unterschwelligen Beklemmung zu erzeugen. Seine auf den ersten Blick
konfus erscheinenden Gedankengänge, die vielfach einen wunderbaren Humor
offerieren, erweisen sich in Wirklichkeit als spitznadelige Reflexion.
Unterschiedlichste Themengebiete spricht er an, sei es nun die Schönheit von
Frauenfüßen, abgehobenes Esskulturgefasel, Kindererziehung und Krebs. Er
witzelt über Perfomancekünstler, Sex, Bobos, Männerfantasien und allerlei
andere Alltagsereignisse. Über allem kann man jedoch drei zentrale Themen
ausmachen, mit denen sich der Autor bis dato in all seinen Romanen
auseinandersetzte: Angst, Einsamkeit und Liebe.
Letztendlich kumuliert auf der letzten Seite alles zu einer rätselhaften
Entdeckung. Oder war doch alles nur ein Spiel, ein Traum? Vielleicht gaukelt
uns die Realität nur gefälschte Bilder und Filme vor? Wie definiert sich
überhaupt Realität? Glavinics Ich-Erzähler fasst es treffend zusammen: "Vielleicht bin ich ein Spinner, der
sich hier oben seine Phantasien zimmert. Vielleicht aber auch nicht. (...) Die
Wirklichkeit ist nun mal das, was man aus ihr macht." Sein Protagonist
ist offensichtlich der Wächter dieser Faktizität: "Ich bin der, der oben auf den Zinnen lauert und mit einer Flinte
runterschießt auf alle diejenigen, die nicht verstehen... denn ich ertrage
alles, aber Unverständnis... Unverständnis aus Denkfaulheit heraus, das
nicht... ich mag die, die offen sind und zu verstehen versuchen, und ich
verabscheue die, die meinen, schon alles zu wissen..."
Der Österreicher treibt einmal mehr ein psychologisch fintenreiches Spiel
mit dem Leser. "Ich bilde mir nicht
ein, wahnsinnig viel über die Menschen zu wissen.", so beginnt Thomas
Glavinic seinen Roman. Ich stelle diesen Satz hintenan und dementiere ihn: Oh
doch, das tut er!
Thomas
Glavinic
Lisa
Carl
Hanser Verlag, München (Februar 2011)
204
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3446236368
ISBN-13:
978-3446236363
Preis:
17,90 EURO
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