Erschienen in Ausgabe: No 61 (3/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Siegmar Faust
Ein paar Vorworte
Religionskritiken,
sowohl gegen ihre ideellen als auch praktischen Grundlagen, werden so alt sein
wie die schriftlich fixierten Religionen. Sigmund
Freud dürfte sowohl die subtile Kritik Ludwig
Feuerbachs (1804-1872), die zersetzende von Karl Marx (1818-1883), aber auch die verzweifelte seines Zeitgenossen
Friedrich Nietzsche (1844-1900)
studiert haben, denn er beruft sich auf „bessere Männer“, die „vollständiger,
kraftvoller und eindrucksvoller“ als er Kritik an der Religion geübt hätten. Er
„habe bloß“ wie er bekennt, „der Kritik“ seiner „großen Vorgänger etwas
psychologische Begründung hinzugefügt“. Die besseren Männer zählt er nicht auf,
denn „es soll nicht der Anschein geweckt werden“, dass er sich „in ihre Reihe
stellen will“.[1]
Psychologische
Aspekte wurden auch zuvor schon in der Religionskritik geäußert, aber da Freud nun einmal der Begründer der
Psychoanalyse ist, konnte keiner zuvor seine Kritik mit psychoanalytischen
Begründungen würzen.
Freuds
Freund und Kollege Oskar Pfister
(1873-1956) bezichtigte ihn 1928 in seinem Aufsatz unter der entgegen
gesetzten Überschrift „Die Illusion einer Zukunft“[2], er
habe an die Stelle der religiösen lediglich eine wissenschaftliche Weltanschauung
gesetzt. „Freud wollte die bannende
Macht des Heiligen“, schreibt Reimut
Reiche in seiner Einleitung, „ganz durch die bindende Kraft rationaler
Verhältnisse abgelöst sehen, aber er verfügte über kein Instrument, um die andauernde
Reduktion von Vernunft und Zweckrationalität, den Missbrauch von Vernunft im
einzelnen im Namen von irrationaler Herrschaft im Ganzen zu erkennen.“[3]
Ilse Grubrich-Simitis hingegen vermutete in ihrem biografischen Essay „Freuds Moses-Studien als Tagtraum“[4], dass
Freud vor allem deshalb ein so wütender
Atheist war, weil er stets in Versuchung geriet, sich selber mit Moses als Religionsstifter zu
identifizieren. Aus seiner eigenen Biografie ließen sich wohl einige
Merkwürdigkeiten ableiten, die er selber in die psychischen Macken oder
Krankheiten seiner Patienten projizierte. Aber er ist damit weltbekannt geworden,
auch wenn sich heute viele Therapeuten bemühen, seine Irrtümer aufzudecken.
Allein im Internet erscheinen, wenn man in der Google-Suchmaschine seinen
Namen eingibt, an die acht Millionen Eintragungen. Doch nun zur Sache
selber!
I
Im ersten Kapitel
seines erstmals 1927 veröffentlichten Essays „Die Zukunft einer Illusion“
wollte er die Kultur untersuchen oder das, was er als „menschliches Getriebe“
bezeichnete, das „nur wenige Personen“, wie er übertrieben optimistisch
meinte, „in all seinen Ausbreitungen überschauen können“. Kultur war ihm etwas,
„was einer widerstrebenden Mehrheit von einer Minderzahl auferlegt wurde, die
es verstanden hat, sich in den Besitz von Macht- und Zwangsmitteln zu setzen“.
Das gab ihm Gelegenheit, mit seinen bekannten Begriffen wie „Triebopfer“,
Triebunterdrückung“ oder „Triebverzicht“ zu hantieren, was aber noch weit vom
Thema Religion entfernt zu sein scheint. Stattdessen räsonierte er über die
„kulturfeindliche Mehrheit von heute“, die es gelte, „zu einer Minderheit herabzudrücken“.
Das klingt zwar fast marxistisch, also erziehungsdiktatorisch, aber er
versicherte, dass es ihm „ferneliegt, das große Kulturexperiment zu beurteilen,
das gegenwärtig in dem weiten Land zwischen Europa und Asien angestellt wird“.[5] Er
meinte also das grausame „Kulturexperiment“ der Bolschewiki, das nach den
revolutionären, jedoch leicht abgewandelten Theorien der Freunde Marx & Engels den europäischen Bürgerkrieg entfachte. Wer sich heute über
die Ergebnisse dieses Experiments genauer unterrichten will, sollte das von
zumeist ehemaligen Marxisten selber zusammengestellte „Schwarzbuch des Kommunismus“[6]
studieren.
II
Im zweiten Kapitel
will uns Freud mit der Erkenntnis
beglücken, „dass jede Kultur auf Arbeitszwang und Triebverzicht“ beruhe. Mit
Verboten und Entbehrungen habe „die Kultur die Ablösung vom animalischen
Urzustand begonnen“. Und noch immer würden die Verbote „den Kern der
Kulturfeindseligkeit bilden“, denn unerfüllte „Triebwünsche“ bringe Neurotiker
hervor, „die bereits auf diese Versagungen mit Asozialität reagieren“. Unter
Triebwünschen zählte er Inzest, Kannibalismus und Mordlust auf. Des Weiteren
glaubte er, eine Entwicklung der menschlichen Seele, ähnlich den Fortschritten
der Wissenschaft und Technik, nachweisen zu können. Äußerer Zwang habe sich in
uns verinnerlicht und „eine besondere seelische Instanz, das Über-Ich“
hervorgebracht, das „ein höchst wertvoller Kulturbesitz“ geworden sei. Doch die
Unterschiede zwischen verschiedenen Gesellschaftsklassen bringe es mit sich,
dass „die Befriedigung einer Anzahl von Teilnehmern die Unterdrückung einer
anderen, vielleicht der Mehrzahl, zur Vorraussetzung hat“. Und dies sei bei
allen gegenwärtigen Kulturen der Fall. Ergo? „Es braucht nicht gesagt zu
werden, dass eine Kultur, welche eine so große Zahl von Teilnehmern
unbefriedigt lässt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd
zu erhalten, noch es verdient.“ Solche Sätze entsprachen ganz dem Geschmack
jener kleinbürgerlichen Revoluzzer, die ab 1968 gegen die mit Hilfe der
westlichen Alliierten aufgebaute Nachkriegsdemokratie Sturm liefen. Was ist
geblieben von den hochfahrenden Hoffnungen und Illusionen von Gerechtigkeit und
gleicher Triebbefriedigung? Lediglich der von Mao Tse-Tung (1883-1976) nachgeahmte „Lange Marsch“ durch die Institutionen,
flankiert von dem Sponti-Spruch „Feuer unterm Arsch verkürzt den langen
Marsch!“, verlief bis zur Machtspitze durchaus erfolgreich; das ist in diesem
kulturloser werdenden und verarmenden Land auch nicht mehr zu übersehen. Doch
ansonsten? „Viel Blödes ist uns geblieben und viel Böses“, meinte dazu der
Berliner Soziologie-Professor Alexander
Schuller in einer großen Sonntagszeitung: „Da ist vor allem der
Affektsturm: das Obszöne, das Vulgäre, das Besessene als vermeintliches
Korrelat der Befreiung. In Erinnerung bleibt der entfesselte, der jederzeit
zum Sprung bereite hemmungslose Hass.“ Und dann fragte er, welche unerträgliche
Kränkung sich da Bahn gebrochen habe. „Manifest war es die Empörung über die
Nazi-Sünden der Väter, der ubiquitäre Täter-Verdacht, ein Verdacht, der sich
bis in die Gegenwart als Kinderschändungs-Verdacht am Leben hält.“[7]
Ausgerechnet jene 68er, die ihren Vätern den „Nichtwiderstand gegen die
Tyrannei“ nicht verzeihen wollten und sich nun im „Widerstand gegen die
Nichttyrannei“[8] hervortaten, übersahen in
ihrer ideologischen Verblendung, dass sich auf deutschem Boden tatsächliche
eine zweite totalitäre Gewaltherrschaft unter sowjetischer Führung
breitgemacht hatte. Doch hier verweigerten sie zumeist den Opfern die
Solidarität und machten sich lieber mit den Diktatoren und nicht selten sogar
mit den Stasi-Bütteln gemein. Das hieße nach Freud, dass sie sich, als sie noch nicht die Machtzentren des
bürgerlichen Staates besetzt hielten, mit den Kräften der Unfreiheit, den
Unterdrückern und Besatzern sowohl des deutschen Nachbarstaates als auch der
ost- und südosteuropäischen Länder identifizierten, ohne selber davon
betroffen zu sein. Zu solcher Infamie hatte Freud noch keine Worte gefunden, die hier zitierbar wären. Am
Ende des Kapitels meinte er, das „vielleicht bedeutsamste Stück des psychischen
Inventars einer Kultur“ erwähnen zu müssen: „Es sind ihre im weitesten Sinn
religiösen Vorstellungen, mit anderen, später zu rechtfertigenden Worten,
ihrer Illusionen.“[9]
III
Nun geht Freud der Frage nach, worin der
besondere Wert der religiösen Vorstellungen liegt. Es wird deutlich, dass er
auch Hegel (1770-1831) studiert hat,
denn dieser lehrte sinngemäß, dass die Entwicklung der menschlichen Freiheit in
mehreren Etappen verläuft: der
orientalische Despot wusste, dass einer frei ist, nämlich nur er. Bei den
Griechen und Römern waren einige frei; und in der Welt der Germanen galten alle
als frei. Da nach Freud der
Naturzustand, der zwar keine Triebeinschränkungen verlange, deshalb schwer zu
ertragen sei, weil die Natur „kalt, grausam, rücksichtslos“ ist, haben die
Menschen sich „zusammengetan und die Kultur geschaffen“, um sich besser gegen
die Natur verteidigen zu können. Nur „ein Tyrann, ein Diktator“ kann dieser
Logik zufolge als „einziger durch solche Aufhebung der Kultureinschränkungen
uneingeschränkt glücklich werden“, wenn alle „anderen wenigstens dies
Kulturgebot einhalten: Du sollst nicht töten“.
Gegenüber
denjenigen, die wie zum Beispiel die Marxisten daran glauben, dass die Natur
„einmal dem Menschen ganz unterworfen sein wird“, zeigte sich Freud äußerst skeptisch. Lediglich
eines hob er positiv hervor: „Es ist einer der wenigen erfreulichen und
erhebenden Eindrücke, die man von der Menschheit haben kann, wenn sie
angesichts einer Elementarkatastrophe ihrer Kulturzerfahrenheit, aller inneren
Schwierigkeiten und Feindseligkeiten vergisst und sich der großen gemeinsamen
Aufgabe, ihrer Erhaltung gegen die Übermacht der Natur, erinnert.“ Ansonsten
sei das Leben eine Zumutung, also „schwer zu ertragen“. Die Natur verhält sich
gegenüber dem Menschen gefühllos, ja feindselig; und die Kultur will den
Menschen abrichten, einordnen, zurechtstutzen. Das „schwer bedrohte Selbstgefühl
des Menschen verlangt nach Trost“. Was macht der ums Überleben kämpfende
Mensch? Er beginnt, „die Natur zu vermenschlichen“ indem er den Gewalttaten
der Natur zum Beispiel einen bösen Willen unterstellt, und schon glaubt er,
Wesen um sich zu haben, die ihm bekannt vorkommen, „dann atmet man auf, fühlt
sich heimisch im Unheimlichen“ und kann seine „sinnlose Angst“ besser bändigen.
Dieser Situation unterstellt Freud
„ein infantiles Vorbild“, nämlich die hilflose Situation, in der man sich als
Kind gegenüber den Eltern befand, die man einerseits fürchtete, andererseits
auch als Beschützer erlebte. So gibt schließlich der verängstigte Mensch den
Naturkräften einen „Vatercharakter, macht sie zu Göttern“.
Doch mit der Zeit
werden immer mehr Naturgesetze erkannt, die den Naturkräften ihre menschlichen
Züge nehmen. „Aber“, so Freud, „die
Hilflosigkeit der Menschen bleibt und damit ihre Vatersehnsucht und die
Götter“, denen er eine dreifache Funktion zuschreibt:
1.die Schrecken der Natur zu bannen;
2.mit der Grausamkeit des Schicksal, wie es sich
besonders im Tode zeigt, zu versöhnen;
3.für die Leiden und Entbehrungen zu entschädigen, die
uns durch das kulturelle Zusammenleben aufgenötigt werden.
Im Laufe der
weiteren Entwicklungen begreifen die Menschen, dass auch „Götter selbst ihre
Schicksale haben“, die sich immer mehr aus der Natur zurückziehen und in die
Kultur des Menschen einmischen. Bald bildet sich die Vorstellung heraus, dass
das Leben einem höheren Zweck dient, „der zwar nicht leicht zu erraten ist,
aber gewiss eine Vervollkommnung des menschlichen Wesens bedeutet“. Die
Spaltung des Menschen in Körper und Geist (Seele) bewirkt ein Glaubenkönnen an
eine uns überlegene Intelligenz oder später an Hegels Weltgeist, „der schließlich alles zum Guten“ lenkt. „Über
jedem von uns wacht eine gütige, nur scheinbar strenge Vorsehung, die nicht
zulässt, dass wir zum Spielball der überstarken und schonungslosen Naturkräfte
werden; der Tod selbst ist keine Vernichtung, keine Rückkehr zum organisch
Leblosen, sondern der Anfang einer neuen Art von Existenz, die auf den Wege
der Höherentwicklung liegt.“ Die von den Menschen aus der Not heraus geborenen
Kult- und Sittengesetze rücken immer mehr ins Zentrum menschlichen
Bewusstseins, „nur werden sie von einer höchsten richterlichen Instanz mit
ungleich mehr Macht und Konsequenz behütet“.
Wer das als
schlüssig nachvollziehen kann, wundert sich auch nicht mehr, dass nun plötzlich
alles „Gute endlich seinen Lohn“ findet, „alles Böse seine Strafe“. Und wenn
nicht sofort, dann wenigstens in einer der „späteren Existenzen, die nach dem
Tod beginnen“. Es wird in dieser wundervollen Entwicklung nicht mehr lange
dauern, dann taucht der Konvertit Paulus
(ca. 5-67) auf, der dann als Apostel verkünden wird: „Nun aber bleiben Glaube,
Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.”[10]
Zuvor lag nur noch die „Kleinigkeit, dass sich die vielen Götter zu einem
„göttlichen Wesen“ verdichteten. „Das Volk, dem zuerst solche Konzentrierung
der göttlichen Eigenschaften gelang, war nicht wenig stolz auf diesen
Fortschritt. Es hatte den väterlichen Kern, der von jeher hinter jeder
Gottesgestalt verborgen war, freigelegt; im Grunde war es eine Rückkehr zu den
historischen Anfängen der Gottesidee. Nun, da Gott ein Einziger war, konnten
die Beziehungen zu ihm die Innigkeit und Intensität des kindlichen
Verhältnisses zum Vater wiedergewinnen.“
Freud
meinte, dass diese Vorstellungen „- die im weitesten Sinne religiösen – als der
kostbarste Besitz der Kultur eingeschätzt“ werden, „weit höher geschätzt als
alle Künste, der Erde ihre Schätze zu entlocken, die Menschheit mit Nahrung zu
versorgen oder ihren Krankheiten vorzubeugen“. Überleitend zum Kapitel IV
stellte er die Fragen: „Was sind diese Vorstellungen im Lichte der Psychologie,
woher beziehen sie ihre Hochschätzung und (...) was ist ihr wirklicher Wert“?[11]
IV
Neu in diesem
Kapitel IV ist, dass Freud die Form
des Monologs zugunsten eines Dialogs mit einem fiktiven Gegner aufgibt. Als
Atheist erklärt er sich die Religion „aus demselben Bedürfnis hervorgegangen
wie alle anderen Errungenschaften der Kultur“, die sich also, wie er
wiederholt betonte, „gegen die erdrückende Übermacht der Natur zu verteidigen“
habe. Als ein weiteres Motiv käme der Drang hinzu, „die peinlich verspürten
Unvollkommenheiten der Kultur“ korrigieren zu wollen. Dasjenige, was als
„göttliche Offenbarung“ behauptet wird, „vernachlässigt ganz die uns bekannte
historische Entwicklung dieser Ideen und ihre Verschiedenheiten in
verschiedenen Zeiten und Kulturen“.
Angesprochen auf
sein erstes kulturtheoretisches Werk „Totem und Tabu“ von 1912/13, in dem er
den Elternkomplex als „die Wurzel des religiösen Bedürfnisses“ zu erkennen
glaubte, räumte er jetzt ein, dass das Verhältnis zum Vater „mit einer eigentümlichen
Ambivalenz behaftet“ sei, da „man ihn nicht minder“ fürchte, „als man sich nach
ihm sehnt und ihn bewundert“, was übrigens in allen Religionen so sei. Vielen
Menschen, welchen Kulturkreises auch immer, sei es gegeben, stets „ein Kind zu
bleiben“, das es schaffe, sich die Götter, die es trotz aller Furchtsamkeit für
sich zu gewinnen sucht, zu einem Schutzheiligen zu erklären. Dem Motiv solcher
Vatersehnsucht verdanke jeder einzelne Schutzbedürftige die
„charakteristischen Züge“ der Religionsbildung.[12]
V
Erneut wird die
Frage nach der psychologischen „Bedeutung der religiösen Vorstellungen“
aufgeworfen und festgestellt, dass sie „nicht leicht zu beantworten“ sei. Freud wagte dennoch eine Formulierung:
„Es sind Lehrsätze, Aussagen über Tatsachen und Verhältnisse der äußeren (oder
inneren) Realität, die etwas mitteilen, was man selbst nicht gefunden hat, und
die beanspruchen, dass man ihnen Glauben schenkt“. Wer solches in sein Wissen
aufgenommen habe, dürfe „sich für sehr bereichert halten“. Wer dennoch die
Frage aufwirft, „worauf sich ihr Anspruch gründet, geglaubt zu werden“, erhält
drei Antworten, „die merkwürdig schlecht zusammenstimmen“:
1.)Sie „verdienen
Glauben, weil schon unsere Urväter sie geglaubt haben“
2.)Wir besitzen
„Beweise, die uns aus eben dieser Vorzeit überliefert sind“
3.)Es ist verboten,
„die Frage nach dieser Beglaubigung auszuwerfen“.
Das Verbot erweckt
in jedem sich aufgeklärt wähnenden Menschen nur Misstrauen, so dass es Freud ein leichtes war, Gegenargumente
vorzubringen. Die aus der Vorzeit überlieferten Beweise tragen „alle Charaktere
der Unzuverlässigkeit an sich“, sie seien also „widerspruchsvoll,
überarbeitet, verfälscht; wo sie von tatsächlichen Beglaubigungen berichten,
selbst unbeglaubigt“. So käme es dazu, „dass gerade diejenigen Mitteilungen
unseres Kulturbesitzes, die die größte Bedeutung für uns haben könnten“, die
„allerschwächste Beglaubigung haben“. Viele Menschen stürzten dadurch in
quälende Zweifel, selbst Intellektuelle würden an diesem Konflikt scheitern
und sogar „an den Kompromissen“ Schaden nehmen. Was auch immer vorgebracht
wurde und wird, um die Zweifel und Absurditäten auszuräumen, für Freud gab es „keine Instanz über der
Vernunft“. Und wenn jemand „aus einem ihn tief ergreifenden ekstatischen
Zustand die unerschütterliche Überzeugung von der realen Wahrheit der
religiösen Lehre gewonnen hat“, dann fragte er provozierend: „Was bedeutet das
dem anderen?“ Auch jene dem „Als ob“ verschriebenen „Künste der Philosophie“
richten bei den nicht davon beeinflussten Personen nichts aus, denn ihnen
scheint „mit dem Zugeständnis der Absurdität, der Vernunftwidrigkeit, alles
erledigt“ zu sein. Trotzdem sind weltweit die religiösen Vorstellungen nicht
tot zu kriegen. Freud fragte, worin
„die innere Kraft dieser Lehren“ bestehe, „welchem Umstand verdanken sie ihre
von der vernünftigen Anerkennung unabhängige Wirksamkeit“?[13]
VI
Seine Antwort im
Kapitel VI lautet: Die religiösen Lehrsätze „sind nicht Niederschläge der
Erfahrung oder Endresultate des Denkens, es sind Illusionen, Erfüllungen der
ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit; das Geheimnis ihrer
Stärke ist die Stärke dieser Wünsche“. Das zukünftige Leben nach dem Tode
stelle „den örtlichen und zeitlichen Rahmen bei, in dem sich diese Wunscherfüllungen
vollziehen sollen“. Antworten auf unlösbare Rätselfragen nach dem Woher und
Wohin, nach dem Sinn des Lebens, nach der „Beziehung zwischen Körperlichem und
Seelischem“ entwickelten sich „unter den Voraussetzungen dieses Systems“, da
es „eine großartige Erleichterung für die Einzelpsyche“ bedeute, „wenn die nie
ganz überwundenen Konflikte der Kinderzeit aus dem Vaterkomplex ihr abgenommen
und einer von allen angenommenen Lösung zugeführt“ würden.
Die religiösen
Vorstellungen sind Freud in Gänze unbeweisbare
Illusionen, die nicht notwendig ein Irrtum sein müssen, doch niemand dürfe
gezwungen werden, sie für wahr halten und an sie glauben zu müssen. Einige
dieser Vorstellungen seien jedoch „so sehr im Widerspruch zu allem, was wir
mühselig über die Realität der Welt erfahren haben, dass man sie (...) den
Wahnideen vergleichen kann“. Freilich, was unbeweisbar ist, lässt sich auch
nicht widerlegen. Ebenso wenig die „überdehnten Bedeutungen“ der Philosophen,
die sich „rühmen, einen höheren, reineren Gottesbegriff erkannt zu haben“. Freud meinte, „es wäre ja sehr schön,
wenn es einen Gott gäbe“ samt einer gütigen Vorsehung und einer daraus
ableitbaren Weltordnung und obendrauf noch ein jenseitiges Leben, aber es sei
doch „sehr auffällig, dass dies alles so ist, wie wir es uns wünschen müssen“.
Wer sich jedoch „demütig mit der geringfügigen Rolle des Menschen in der großen
Welt bescheidet“, sei „irreligiös im wahrsten Sinne des Wortes“.[14]
VII
Freud ist
sich durchaus der kulturtragenden und ordnungsstiftenden Bedeutung der Religion
bewusst. Über seinen fiktiven Gegner lässt er uns mitteilen, dass man über die
religiösen Lehren nicht „klügeln“ dürfe wie „über einen beliebigen anderen“
Gegenstand, denn „unsere Kultur ist auf ihnen aufgebaut, die Erhaltung der
menschlichen Gesellschaft hat zur Voraussetzung, dass die Menschen in ihrer
Überzahl an die Wahrheit dieser Lehren glauben. Ansonsten breche wieder das
Chaos aus, „das wir in vieltausendjähriger Kulturarbeit gebannt haben“. Und
wer möchte schon gern unzähligen Menschen den Trost rauben, den sie in der
Religion finden und mit deren Hilfe das Leben erst erträglich wird? Doch Freud hat sich auf solche Anklagen
vorbereitet, „ihnen allen zu widersprechen“. Er sieht „eine erschreckend große
Anzahl von Menschen“, die „mit der Kultur unzufrieden und in ihr unglücklich
ist, sie als ein Joch empfindet, das man abschütteln muss“. Die Unsittlichkeit
habe „zu allen Zeiten an der Religion keine mindere Stütze gefunden als die
Sittlichkeit“. Die Religionskritik habe „die Beweiskraft der religiösen
Dokumente angenagt, die Naturwissenschaft die in ihnen enthaltenen Irrtümer
aufgezeigt, der vergleichenden Forschung“ sei „die fatale Ähnlichkeit der von
uns verehrten religiösen Vorstellungen mit den geistigen Produkten primitiver
Völker und Zeiten aufgefallen“.
Der
“wissenschaftliche Geist“ erzeuge „eine bestimmte Art, wie man sich zu den
Dingen dieser Welt einstellt; vor den Dingen der Religion macht er eine Weile
halt, zaudert, endlich tritt er auch hier über die Schwelle“. Doch wohin tritt
der Wissenschaftler? In die „einzige wissenschaftliche Weltanschauung“, wie der
Marxismus selbstherrlich genannt wurde? Ich vermute, dass heute unter den
Natur-Wissenschaftlern – im Gegensatz zu den Geisteswissenschaftlern – mehr religiös
Bekennende als Marxisten existieren, soll heißen, rationales Denken hält viele
Wissenschaftler nicht von einem religiösen Glauben ab, zumal sie nun auch noch
mit wissenschaftlichen Methoden festgestellt haben, dass religiös
praktizierende Menschen länger und gesünder leben. Außerdem wissen viele, die
allzu viel wissen, dass sie nichts wissen, jedenfalls nichts Wesentliches. Mit Gottfried Wilhelm Leibnitz (1646-1716)
lässt sich nämlich noch immer staunend fragen: „Warum gibt es überhaupt etwas
und nicht vielmehr nichts?“[15]
Andererseits ist
es nicht zu übersehen, dass die Verbreitung wissenschaftlicher Lehrgebäude den
„Abfall vom religiösen Glauben“ und den Anstieg von Depressionen in unserem
Kulturkreis beschleunigt haben.
VIII
Das Kapitel VIII
beginnt Freud sozusagen mit einer
Kosten-Nutzen-Rechnung. Was lässt sich gewinnen, wenn die Religion aus der
Kultur verschwindet? Zwar gibt er zu, dass sich die Zehn Gebote der Bibel in
„alle weiteren kulturellen Einrichtungen, Gesetze und Verordnungen ausgebreitet“
haben, doch denen stehe „der Heiligenschein oft schlecht zu Gesicht“, so dass
es ein „unzweifelhafter Vorteil“ wäre, „Gott überhaupt aus dem Spiel zulassen
und ehrlich den rein menschlichen Ursprung aller kulturellen Einrichtungen und
Vorschriften einzugestehen“. Freud
unterstellte, dass die „Gebote und Gesetze“ einem Herrschaftsanspruch dienten,
und er glaubte, dass die Menschen „ein freundlicheres Verhältnis zu ihnen
gewinnen“ könnten, wenn sie erkennen, dass sie vielmehr geschaffen sind, ihren
Interessen zu dienen: „Das wäre ein wichtiger Fortschritt auf dem Wege, der zur
Versöhnung mit dem Druck der Kultur führt.“
Freud räumte
auch ein, „dass der Schatz der religiösen Vorstellungen nicht allein
Wunscherfüllungen enthält, sondern auch bedeutsame Reminiszenzen“. Zu diesem
Zusammenwirken von Vergangenheit und Zukunft sagte er nur staunend: „...welch
unvergleichliche Machtfülle muss es der Religion verleihen!“ Einerseits sprach
er sich für die Entmachtung der Religion aus, andererseits setzte er sich für
ihre Entmythologisierung ein, gewissermaßen dem späteren Theologen Rudolf Bultmann (1884-1976) das
Stichwort liefernd: „Die Wahrheiten, welche die religiösen Lehren enthalten,
sind doch so entstellt und systematisch verkleidet, dass die Masse der
Menschen sie nicht als Wahrheit erkennen kann“.
Da Freud unterstellte, es gäbe eine
„allgemein menschliche Zwangsneurose“, die faktisch jeder habe, der unter der
Erziehung eines Vaters aufwuchs und deshalb in seiner Kindheit unter einem
Ödipuskomplex leiden musste; deshalb wäre vorauszusehen, „dass sich die
Abwendung von der Religion mit der schicksalhaften Unerbittlichkeit eines
Wachstumsvorganges vollziehen muss“. Doch das Wesen der Religion ist mit dieser
Diagnose nicht erschöpft, denn sie enthält nämlich noch „ein System von
Wunschillusionen mit Verleugnung der Wirklichkeit, wie wir es isoliert nur bei
einer Amentia, einer glückseligen halluzinatorischen Verworrenheit, finden“.
Sein Gegenmittel ist bekanntlich die Analyse, also die rationelle Geistesarbeit,
obwohl er doch ansonsten das Triebleben und die Leidenschaften des Menschen für
die ihn beherrschende Kraft hält.[16]
IX
Freuds
fiktiver Gegner weist auch auf die Tatsache hin, dass solche Versuche, „die
Religion durch die Vernunft ablösen zu lassen“ mindestens schon zweimal kläglich
gescheitert sind: in der Französischen Revolution unter Maximilien de Robespierre (1758-17994) und unter dem
marxistisch-leninistischen Experiment in Russland. Freud setzte diesem Argument hauptsächlich die Kritik an der
Kinder-Erziehung entgegen: „Verzögerung der sexuellen Entwicklung und
Verfrühung des religiösen Einflusses, das sind doch die beiden Hauptpunkte im
Programme der heutigen Pädagogik, nicht wahr?“ Er hätte lieber eine „Erziehung
zur Realität“ installiert, was immer das heißen mag, denn „der Mensch kann
nicht ewig ein Kind bleiben, er muss endlich hinaus ins ‚feindliche Leben’“.
Das was hier so martialisch klingt, entpuppt sich als idyllischer Kitsch, denn
der wissenschaftsgläubige Mensch wird als „ehrlicher Kleinbauer auf dieser
Erde (...) seine Scholle zu bearbeiten wissen, so dass sie ihn nährt“. Zieht
der Kleinbauer nur seine überflüssigen „Erwartungen vom Jenseits“ ab und konzentriert
dann „alle freigewordenen Kräfte auf das irdische Leben“[17], kann
eigentlich dem Paradies auf Erden nichts mehr entgegenstehen. Fröhlich wird er
im Winterurlaub nach Versen Heinrich
Heines (1797-1856) trällern: “Ja, Zuckererbsen für jedermann, / Sobald die
Schoten platzen! / Den Himmel überlassen wir / Den Engeln und den Spatzen.“[18]
X
Im X. Gebot –
Pardon! – im X. Kapitel wirft der fiktive Gegner Freud vor, selber Illusionen zu produzieren, was Freud auch zugibt. Doch seine
Illusionen wären „nicht unkorrigierbar wie die religiösen“ oder gar von
„wahnhaften Charakter“. Er sei aber „optimistisch genug anzunehmen, dass die
Menschheit diese neurotische Phase überwinden wird, wie so viele Kinder ihre
ähnliche Neurose auswachsen“. Er setzt voll auf den „Primat des Intellekts“,
dessen alles erlösender Herrschaft dann „die Menschenliebe und die
Einschränkung des Leidens“ herbeiführen wird. Auch wenn die „ersten Versuche
misslingen“, aber das Fallenlassen der Religion sei nicht aufzuhalten, denn
„auf die Dauer kann der Vernunft und der Erfahrung nichts widerstehen“. Wer
sich von der Leibeigenschaft der Religion befreit, ist auch bereit, „auf ein
gutes Stück unserer infantilen Wünsche zu verzichten“, so dass man es auch
erträgt, „wenn sich einige unserer Erwartungen als Illusionen herausstellen“.
Obwohl Freud von seiner hochgeschätzten
Wissenschaft wusste, „dass sie heute als Gesetz verkündet, was die nächste
Generation als Irrtum erkennt und durch ein neues Gesetz von ebenso kurzer
Geltungsdauer ablöst“, verteidigte er sie vorbehaltlos: „Die Wandlungen der
wissenschaftlichen Meinungen sind Entwicklung, Fortschritt und nicht Umsturz.“
„Nein“ sagt er
abschließend, „unsere Wissenschaft ist keine Illusion. Eine Illusion aber wäre
es zu glauben, dass wir anderswoher bekommen könnten, was sie uns nicht geben
kann.“
Ein paar Nachworte
Es ist
erstaunlich, dass sich nach den schrecklichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts,
die ja Sigmund Freud selber nicht
nur zu großem Ruhm kommen ließen, sondern ihn auch ins Exil trieben, noch
immer Fortschrittsglauben, Machbarkeitswahn und Atheismus so ungeniert
ausbreiten können, also jene Attribute, die sowohl das rote als auch das
braune Terrorregime deutlich charakterisierten.
Es gäbe unendlich
viel zu erwidern, aber das empfinde ich nicht als meine Aufgabe. Nur noch ein
Zitat des katholischen Kreuz- und Querdenkers Hans Küng (geb. 1928) sollen meine Bedenken abrunden: „Nicht dass
der Gottesglaube psychologisch erklärt werden kann, ist das Problem.
Psychologie oder nicht Psychologie ist hier eine falsche Alternative.
Psychologische gesehen weist der Gottesglaube immer Strukturen und Gehalte
einer Projektion auf oder kann als reine Projektion verdächtigt werden. Auch
jeder Liebende projiziert notwendig sein eigenes Bild auf seine Geliebte. Aber
heißt das, dass seine Geliebte nicht existiert oder nicht doch wesentlich so
existiert, wie er sie sieht und sich denkt? Kann er sie mit seinen Projektionen
nicht vielleicht tiefer erfassen als der, der sie als neutraler Beobachter von
außen zu beurteilen sucht? Das Faktum der Projektion also entscheidet nicht
über Existenz oder Nicht-Existenz des Objekts, auf das sie sich bezieht.“[19]
[1]In: Massenpsychologie und Ich-Analyse. Die
Zukunft einer Illusion, 6. Auflage, Frankfurt/M. 2002, S. 138 (fortannur Seitenangabe)
[2]In: E. Nase und J. Scharfenberg
(Herausgeber): Psychoanalyse und Religion. Darmstadt 1977, S. 101-1041
[3]S. 20
[4]Weinheim 1991
[5]S. 109-113
[6]Untertitel: Unterdrückung, Verbrechen und
Terror, herausgegeben von Stéphane Courtois u. a., München 1998
[7]In: Chaos oder Karzer. Institutionen sind
Schutz und Heimat. Die „68er“ wollten sie zerstören – und das Bürgertum
hinderte sie nicht daran, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 09. Mai
2004, S. 13
[8]Odo Marquard: Verweigerung der
Bürgerlichkeitsverweigerung. In: Individuum und Gewaltenteilung. Philosophische
Studien, Stuttgart 2004, S. 36
[9]S. 114-118
[10]1 Kor 13,13
[11]S. 118-124
[12]S. 124-128
[13]S. 128-132
[14]S. 133-136
[15] Zitat aus: Volker
Steenblock: Die großen Themen der
Philosophie. Eine Anstiftung zum Weiterdenken, Darm-stadt, 2003, S. 65
[16]S. 142-147
[17]S. 147-152
[18]Aus: Deutschland - Ein Wintermärchen. (1844)
[19]Aus: Existiert Gott? München 1981, S. 338 f.
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