Erschienen in Ausgabe: No. 24 (1/2006) | Letzte Änderung: 27.01.09 |
von Papst Benedikt XVI., 25. Dez. 2005, 59 Seiten
von Robert Lembke
Die
Überraschung war groß, als am ersten Weihnachtsfeiertag
letzten Jahres das erste Sendschreiben des neuen Papstes der
Öffentlichkeit übergeben wurde. Man hatte dem als
intellektualistisch geltenden, deutschen Kardinal Joseph Ratzinger
ein solch populäres Thema nicht zugetraut: Deus caritas est
– Gott ist die Liebe. Offenbar scheinen sich nicht nur Name und
Institut geändert zu haben, sondern der nun oberste katholische
Würdenträger Benedikt XVI. auch seine eigene Haltung, die
sich nicht zuletzt im ausdrücklichen und konsequenten Versuch
ausdrückt, an seinen ‚volksnahen‘ Vorgänger
Johannes Paul II. anzuknüpfen, dem er mehrmals im Text seine
Referenz erweist.
Die Schrift gliedert sich äußerlich in zwei Teile: In
einem ersten, theoretisch angelegten Teil geht es um die Klärung
des Begriffs der Liebe; ausgehend vom antiken Eroskonzept wird die
christliche Vorstellung einer Einheit von Gottes- und Nächstenliebe
entwickelt. Der zweite Teil ist der Umsetzung der theoretisch
aufgezeigten Liebesvorstellung in die Realität bzw. ihrer
Beziehung zur realen Lebenspraxis gewidmet. Auch wenn hier oft
innerkirchliche, Probleme der Organisation betreffende Fragen
angesprochen werden, finden sich doch interessante Bemerkungen zur
aktuellen weltgeschichtlichen Lage sowie zur angemessenen Position
der Kirche in der Gesellschaft.
Zunächst zum ersten Teil: Der Papst versucht hier recht
unvoreingenommen, eine Kontinuität herzustellen zwischen der
antiken Erotik (als Lehre vom Eros) und der christlichen Form
der Liebe, der Agape bzw. Caritas. Gegen die
weitverbreitete These einer historisch dominierenden Leibfeindschaft
des Christentums, für die er ausgerechnet Friedrich Nietzsche
als Zeugen hinstellt, setzt er die Behauptung der Einheitlichkeit des
Phänomens Liebe, in dessen Wirklichkeit die erotisch-begehrende
und die karitativ-schenkende Dimension untrennbar vereinigt seien. Er
bedient sich dabei des folgenden, scheinbar ‚realistischen‘
Arguments: Die Unterscheidungen, die die begriffliche Reflexion
macht, sind Abstraktionen von einer einheitlichen Wirklichkeit,
die in ihr nicht rein vorkommen, sondern nur für den Verstand
gegeben sind. Auf den ersten Blick ist dies ein geschickter
Schachzug: Es gelingt so dem Papst, einen zukunftsfähigen,
vielleicht sogar ‚modisch‘ zu nennenden Katholizismus zu
entwickeln, der den Entartungen und schadhaften
Vereinseitigungen der modernen Welt entgegentritt. Von ihm aus
kann gleichermaßen der falsche Körperkult unserer Zeit,
der statt des lebendigen, im Einklang mit der Seele stehenden Leibes
die Ware Körper zum Prinzip erklärt, kritisiert
werden wie auch allzu asketische (protestantische?) Traditionen, die
den Geist überbetonen. Dass der Versuch, in dieser Art die
vorübergehend verlorengegangene Kontinuität zwischen
Eros und christlicher Liebe neu zu stiften, möglicherweise nicht
viel mehr als ein Zugeständnis an die Jugend der Welt ist, zeigt
m.E. der weitere Verlauf des Textes.1
Bevor jedoch der spezifische Charakter der christlichen Liebe
herausgearbeitet wird, geht es zunächst um den christlichen
Glauben: Dieser wird unvermittelt eingeführt als die
historische Wahrheit des Christentums, die ausgehend vom jüdischen
Volk sich verbreitet und die antike Welt besiegt hat. Für den
Nichtgläubigen tut sich hier natürlich ein unüberwindlicher
Abgrund auf: Wie kommt er von der zuvor ins Recht gesetzten
weltlichen Realität der Liebe (Eros) zum Glauben an den
liebenden Schöpfer als weisem Urheber und gütigem Regierer
der Welt? Im Hintergrund steht hier natürlich – wenn auch
im Text vollkommen unausgesprochen – die Autorität
der Offenbarung, die die unumstößliche Wahrheit des
Glaubens garantiert. Dies muß man sich bei der Lektüre vor
Augen halten, wenn nicht der Eindruck entstehen soll, die
Berechtigung des Glaubens sei in seiner historischen Wirksamkeit
gegeben.
Wie entwickelt sich nun der reine, immer von Entartung bedrohte Eros
zur christlichen Liebe? Die Liebe ist eine Himmelsleiter, die sich
dem erschließt, der sich der Wahrheit des christlichen Glaubens
öffnet: In Jesus Christus ist Gott Mensch geworden und hat sich
für seine Geschöpfe geopfert, und damit die Liebe zum
Äußersten getrieben. Dieser göttliche Liebesakt, der
im Kreuzestod Jesu gipfelt, gibt dem Menschen die Möglichkeit
der Erwiderung der Liebe: Weil Gott bis in den Tod hinein sich zu ihm
bekannte, kann auch er sich liebend ihm zuwenden. Dabei ist das
fleischliche Element keineswegs ausgeschieden, sondern wird durch das
Sakrament der Kommunion in ein soziales transformiert: In der
symbolischen Vereinigung mit dem Leib und Blut Christi werden die
Gläubigen zugleich aneinander gebunden und so zur Einheit der
Kirche. Die Feier der Eucharistie stiftet so eine Verbindung von
Gottes- und Nächstenliebe, indem vom Gläubigen erwartet
wird, daß sich seine Liebe zu Gott in karitativen Akten
gegenüber seinen Nächsten manifestiert. Ausdrücklich
sind dabei unter dem Begriff des Nächsten alle Menschen
verstanden, ungeachtet ihrer Nähe oder Ferne oder sonstiger
Qualitäten – die christliche Liebe erweitert sich durch
den Gottesbezug zur akosmischen Brüderlichkeit.
Damit ist der Entwicklungsgang der christlichen Liebe abgeschlossen:
Während sie sich zunächst entzündet an den Freuden der
körperlichen Liebe, bezieht sie zunehmend Verstand und Wille mit
ein und läutert sich so allmählich zur allumfassenden
Liebe zu Gott, die sich unmittelbar in Akten der Nächstenliebe
ausspricht, aber sich nicht in ihnen erschöpft, sondern über
sie hinausgreift im Rahmen eines umfassenden Glaubens an den Erlöser
Jesus Christus, der durch seinen selbstlosen Tod das Prinzip Liebe
über das der ‚bloßen‘ Gerechtigkeit, der
Mentalität des do ut des, siegen läßt.
Problematisch an dieser Herleitung ist m.E., daß der Autor
zuwenig klar macht, wie der Entwicklungsgang zu verstehen ist:
Handelt es sich, wie im Falle des Augustinus, um eine individuell zu
vollziehende Stufenleiter, die ohne die einzelnen Momente nicht
komplett wäre? Oder ist die Darstellung nur die eines Resultats
der geschichtlichen Entwicklung des Christentums, die man weder zu
kennen braucht noch individuell nachvollziehen muß? Während
der auf Kontinuität und Harmonisierung zielende erste Teil
eher Ersteres nahe legt, spricht der zweite Teil doch stark für
letztere Annahme.
Dieser ist der angemessenen Zusammenführung des idealen
Liebesgebots mit der institutionalisierten Struktur der Kirche
gewidmet. In beinahe militärischem Ton verkündet der Papst
zu Beginn programmatisch: „Auch die Kirche als Gemeinschaft
muss Liebe üben. Das wiederum bedingt es, dass Liebe auch der
Organisation als Voraussetzung für geordnetes gemeinschaftliches
Dienen bedarf.“ (20)2
Benedikt XVI. vertritt mit Nachdruck die Auffassung, daß die
diakonia, der aktive Sozialdienst der Kirche, fast seit
Anbeginn einen wesentlichen Teil der ekklesialen Gemeinschaft
ausmacht, der sich schon früh – im Ägypten des 4. bis
6. Jh. – zu einer eigenen, in Zusammenarbeit mit dem Staat
stehenden Körperschaft ‚ausdifferenziert‘. Anders
als man meinen könnte, soll die Betonung der Institution den
Einzelnen jedoch keineswegs von seinem Liebestun entlasten;
vielmehr hat gerade er dafür zu sorgen, daß diese Art der
caritas nicht bloß abstrakt-formal bleibt, sondern sich
dem Einzelnen persönlich zuwendet.3
Diese Aufgabe wird vom Papst im Verlauf seiner Ausführungen bis
zum Heroismus der Heiligen und Märtyrer gesteigert. Der wahre
Christ überläßt die gerechte Einrichtung der
Gesellschaft der Politik („Gott regiert die Welt, nicht wir“,
35) – eine künstliche herzustellende Naivität, die
mit dem Verweis auf die Falschheit und das Scheitern des Marxismus im
20. Jahrhundert begründet wird – und zieht aus seinem zum
Äußersten gesteigerten, liebenden Gottesverhältnis
immer neue Kraft: „Die Liebe Christi drängt uns“
(35) – nämlich zum Liebesdienst an den leidenden
Mitmenschen. Auffallend ist daran die Diskrepanz der Forderungen an
Staat und den einzelnen Gläubigen: Während jener in seiner
Aufgabe, Gerechtigkeit herzustellen, vollkommen in Ruhe gelassen
wird, soll dieser (kompensatorisch?) mit maximalem persönlichen
Einsatz all seiner Kraft für die von der Gesellschaft
Marginalisierten und Ausgeschlossenen aufkommen.
Man kann mit diesem Eindruck nun auf zweierlei Arten umgehen:
Einerseits kann man die Realitätsferne der christlichen
Nächstenliebe kritisieren und fragen, ob und wie das vom
gegenwärtigen Schub neoliberalistischer Vergesellschaftung
„erschöpfte Selbst“4,
das alle Hände voll zu tun hat, mit der zunehmenden
Beschleunigung mitzuhalten, zu einer solchen Hingabe fähig
sein soll; umgekehrt wird man jedoch mit desto stärkerer
Bewunderung auf solche Menschen blicken, denen es gelingt, ihr Leben
in Liebe auf Gott und den Nächsten auszurichten. Der Papst
selbst scheint von der Erreichbarkeit dieses Ideals der Heiligkeit
durchaus überzeugt zu sein – anders ließe sich sein
emphatisches Lob der Gläubigen kaum verstehen: „Obwohl sie
wie alle anderen Menschen eingetaucht sind in die dramatische
Komplexität der Ereignisse der Geschichte, bleiben sie gefestigt
in der Hoffnung, dass Gott ein Vater ist und uns liebt, auch wenn uns
sein Schweigen unverständlich bleibt.“ (38)
1
Es handelt es sich hierbei um ein genuin jüdisches Element. So
führt bspw. Schalom Ben-Chorin die „asketischen Exzesse
und Perversionen, zu denen es im Christentum kam“, auf den
Einfluß anderer Religionen, vor allem der Gnosis, zurück:
Für ihn haben „die Auswirkungen hellenistischer und
parsistischer Einflüsse auf das frühe Christentum […]
zu einer Perversion des biblischen Heiligkeitsbegriffes geführt.
Sex und Sacrum wurden als unüberwindliche Gegensätze
gesehen. Die jüdische Frömmigkeit hingegen hat diesen
Extremismus vermieden“; weiterhin liest man im Vorwort: „Der
Leib wurde nie – gnostisch – als minderwertige Hülle
der Seele empfunden, und dessen Abtötung galt und gilt nicht
als Ideal.“ (Schalom Ben Chorin, Was ist der Mensch.
Anthropologie des Judentums, Tübingen 1986, S. 63, S. 62f,
S. 9)
2
Das Schreiben ist in numerierte Abschnitte gegliedert, auf die sich
die Zahlen in Klammern jeweils beziehen.
3
Man kann in diesem Moment der persönlichen Zuwendung, die sich
jedem Menschen als diesem besonderen Einzelnen annehmen soll, die
angemessene Transformation der im ersten Teil so auffällig
herausgekehrten erotischen Komponente sehen, und damit den Eindruck,
dies wäre ein störender Fremdkörper, zumindest etwas
abschwächen.
4
Nach dem Buchtitel des Psychoanalytikers Alain Ehrenberg, Das
erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der
Gegenwart, Frankfurt/M. 2004.
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