Erschienen in Ausgabe: No 61 (3/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Heike Geilen
Nicht weniger als der griechischen Mythologie hat sich Philip Roth in
seinem neuen Roman bedient und mit Nemesis deren Rachegöttin in sein jüngstes
Werk implementiert. Der Legende nach agierte Nemesis als die starke Macht, die
das Universum im Gleichgewicht hielt; ein gerechtes,aber unerbittlich Verzweiflung verbreitendes
Wesen oder besser, ein moralischer Sinn, sollte man die Götter mit Hybris
beleidigen.
Roths Protagonist Bucky Cantor fungiert dabei als Mittler dieser Gottheit.
Vielleicht wird an ihm gar ein Exempel statuiert. Auf jeden Fall stellt er das
Bindeglied zwischen der göttlichen Gerechtigkeit und der Menschheit dar,
wenngleich er den Sinn, der im Sommer 1944 erteilten "Strafe" nicht
zu deuten vermag. Auf dem europäischen Schlachtfeld sterben seine
Klassenkameraden und auf dem heimische Sportplatz seiner Schule, den er als
aufsichtsführender Lehrer betreut, die ihm anvertrauten Jungen. Eine
Polio-Epidemie greift um sich und rafft sinnlos unschuldige Kinder dahin bzw.
macht sie zu lebenslangen Krüppeln. Noch ist der rettende Impfstoff gegen diese
tückische Viruserkrankung nicht erfunden.
"Warum treffen solche Tragödien
immer Menschen, die es am wenigsten verdient haben?", fragt sich Cantor. Als Halbwaise wächst
er bei seinen Großeltern im jüdischen Viertel von Newark auf. Die Mutter starb
bei seiner Geburt, seinen Vater, einen Spieler und Dieb, hat er nie
kennengelernt. Seine Ideale, mit denen er groß wurde, versucht er an seine
Schüler weiterzugeben. Zähigkeit und Willenskraft, körperliche Stärke und
Tapferkeit sowie Entschlossenheit, sich niemals herumstoßen oder als jüdischer
Schwächling beschimpfen zu lassen, bringen ihm bei den Buben Bewunderung und
Achtung entgegen. Nach einem souverän gemeisterten Vorfall mit italienischen
Halbstarken wird er gar zum regelrechten Helden, zum verehrten und
beschützenden großen Bruder.
Doch die Epidemie greift gnadenlos um sich und auch die Flucht zu seiner
Verlobten an die Küste, stoppt sie nicht. Im Gegenteil: es mehrt sich der
Verdacht, das gerade er, Bucky, der Unheilsbringer sein könnte.
"Und wenn du den Preis bezahlen
musst", bemerkte sein Großvater häufig, "dann
bezahlst du ihn eben." Schien das Leben des jungen Mannes trotz aller
Hindernisse durch seine Herkunft bisher in geordneten Bahnen zu verlaufen, so
wendet Roth das Szenario kurz vor dem Ende abrupt. Seine relativ nüchterne, zum
Teil auch bewegende Erzählung bricht ab und offenbart den wirklichen
Lebensverlauf von Mister Castor, der - das wird nun klar - rückwirkend von
einem ehemaligen, ebenfalls an Polio erkrankten Schüler Jahre später notiert
wird und als Retrospektive dem Leser in "Nemesis" vorliegt.
Falsche Ideale, Vorurteile, Ressentiments, Schuldvorwürfe,
Verantwortlichkeit, aber auch der Glücksbegriff des Einzelnen sind die
behandelnden Themen in Philip Roths neuem Roman. Und immer wieder die Suche
nach dem Warum und die Frage nach einer göttlichen Gerechtigkeit. Dabei lotet
er vorzüglich menschliche Verhaltensweisen in Extremsituationen aus, schaut
ihnen sozusagen von außen in die Seele. "Er
staunte über die Vielfalt des Lebens und über die Machtlosigkeit des Einzelnen
gegenüber den Umständen." Die eigene Hilflosigkeit bahnt sich dabei in
Form von Hass, Verachtung und Schuldzuweisungen ihren Weg durch die Köpfe der
Menschen. Und nicht zuletzt bleibt die bittere Erkenntnis zurück, dass
Sorglosigkeit und Abenteuer ganz schnell zu einer Hybris anwachsen können, die
unter Berufung auf einen gerechten göttlichen Zorn, die Nemesis, gerächt wird.
Dann jedoch hilft auch kein Davonlaufen mehr...
Philip Roth
Nemesis
Aus dem Amerikanischen von Dirk van
Gunsteren, Titel der Originalausgabe: Nemesis
Carl
Hanser Verlag, München (Februar 2011), 221 Seiten, Gebunden, ISBN-10: 3446236422
ISBN-13:
978-3446236424,
Preis: 18,90 EURO
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