Erschienen in Ausgabe: No 62 (4/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Heike Geilen
"Innere Vorgänge, die niemand sieht,
sind das einzig Interessante. (...) Das, was niemand sieht, das macht Sinn,
aufzuschreiben." (Thomas Bernhard)
Unser Gehirn ist ein erstaunliches Organ. Es vollbringt permanent
Höchstleistungen. So steuert es nicht nur die gesamten lebensnotwendigen
Funktionen des Körpers, sondern vergleicht gleichzeitig sämtliche Bilder, die
von außen kommen, mit den Informationen, die bereits gespeichert sind, mit
Objekten und Gefühlseindrücken, die wir im Laufe unseres Lebens gesammelt
haben. Aus all diesen Daten lässt es dann in Sekundenbruchteilen die Eindrücke
entstehen, die wir wahrnehmen. Und es ermöglicht den Menschen auch als einziges
Lebewesen über seine Vergangenheit und seine Zukunft nachzudenken und sich die
Fragen zu stellen: Was bin ich und was ist nicht ich.
Diese Divergenz zwischen dem Ich und dem Rest der Welt erscheint uns,
gleichwohl wie das Leben auf der Erde mit seinen Schwerkraftverhältnissen, ganz
selbstverständlich. "Erst wenn
Menschen in Raumkapseln die Erde verlassen und sich weltraumkrank in der
Schwerelosigkeit bewegen müssen, erlangen sie eine Anschauung über die
Nichtselbstverständlichkeit der Schwerkraft und ihrer Kostbarkeit. Nur wer im
Psychosevietnam war, weiß um die innersten Dinge.", schreibt Dr.
Markus Preiter. Jedoch gerade die "endogenen
Erkrankungen des Gehirns offenbaren den Weltsichtgrundriss, über die
Bezugsräume von uns Menschen, mit deren Hilfe wir über die Straße des Lebens
dahingleiten."
Der stellvertretende Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie und
Psychotherapie der Asklepios Klinik Harburg in Hamburg, der seit über zehn
Jahren die Bedeutsamkeit evolutionärer Prozesse für die menschliche
Psychopathologie erforscht, räumt auf mit den negativen Assoziationen, die das
Wort Psychiatrie auslöst. Er begleitet den Leser auf einem faszinierenden Weg
durch das menschliche "psychisch-krank-Sein" und beantwortet
kompetent und schlüssig Fragen, die sich zweifelsohne schon viele gestellt haben:
Warum kann sich ein Mensch überhaupt vom Geheimdienst verfolgt und von den
Nachbarn beobachtet fühlen? Wie kann das sein, dass jemand Stimmen hört, die
ihm Befehle geben? Warum wird ein Mensch lebensmüde und will sich umbringen?
Warum hat jemand plötzlich panische Angst wie aus dem Nichts?
Markus Preiter beschreitet in seinem Buch einen neuen Weg. Er untersucht
die "Verrückungen", die die Fachleute Psychose, Depression, Manie,
bipolare Erkrankung, Phobien oder Angsterkrankungen nennen, mit dem Menschsein
an sich. Sicherlich haben Störungen im "normalen" Gefüge eines
Menschen Ursachen, die unterschiedlichster Couleur sein können, aber - und hier
kritisiert der Autor das vielfach in seinem eigenen Fachgebiet vorherrschende
unvollständige Kerninteresse - erst durch ein übergreifendes Verständnis
sämtlicher psychopathologischer Phänomene kann man wirkliche Rückschlüsse auf
seelische Gesundheit ziehen. "Man
gibt sich zufrieden mit der Symptomoberfläche und verweigert den Blick in die
Strukturtiefe des Menschen.", so Preiter. Sein Buch ist ein gelungener
Gegenentwurf und eine Ergänzung, um das unstrukturierte
"Zettelkastendenken" der Psychiatrie, "in dem die einzelnen Krankheitsbilder bezugslos nebeneinander
aufbewahrt sind, in ein systematisiertes 'periodisches System' der Seele zu
überführen."
Entstanden ist ein äußerst interessantes und verständiges, wenn auch auf
hohem fachspezifischem Niveau geschriebenes Buch, das sich weniger auf
Teilwissen beschränkt oder Krankheitsbilder wie Schizophrenie und die Depression
ausführlich erläutert, sondern das beim medizinisch interessierten Laien
Verständnis dafür erwecken will, was "jenseits
des Einzelfalles eigentlich hinter den sogenannten psychopathologischen
Auffälligkeiten des Menschen generell steht." Gleichzeitig offenbart
es sich auch als Blick in den Spiegel, mit immer wieder überraschenden
Ansichten unserer selbst.
In "Die Logik des Verrücktseins" entwickelt Preiter ein
Basismodell, das die Evolutionstheorie als Orientierungskompass heranzieht. Er
entdröselt das verworrene menschliche Seelenlabyrinth, indem er es in fünf
Räume einteilt, die aus der Geschichte des Menschen hervorgegangen und immer
noch fest in jedem von uns manifestiert sind. Evolutionäres Denken ist die
Kernessenz in seinem Werk, "da der
Mensch doch zweifelsfrei das Produkt einer evolutionären Entwicklung ist. (...)
Die Evolution hat (...) soziale 'Navigierungskapazitäten' in unsere Vorfahren
integriert, die das Sein unter den anderen erleichtern und (...) vor allem mit
vier großen psychiatrischen Krankheitsbildern assoziiert sind: mit der
Schizophrenie, der Manie, der Depression und den bipolaren Störungen."
Eine Vernachlässigung dieser Analyse, so Preiter, hat ein rudimentäres
Verstehen und Fehlinterpretationen zu Folge. Sein Buch versteht sich als
Versuch, "genau jenen bisher
vernachlässigten Aspekt menschlichen Seins, seine evolutionäre Geschichte, in
das Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken und mit der schon immer sichtbaren
Individualgeschichte zu vereinen." Denn psychopathologische Phänomene
sind immer auch "Ausdruck einer
Fehlalarmierung und einer unzutreffenden Selbsttäuschung im Simulationsprozess
des Weltverständnisses."
Der Autor gliedert sein Buch in zwei Teile. Zunächst beschäftigt er sich
mit der menschlichen Kindheit, begibt sich jedoch gleichfalls noch viel weiter
zurück: in die Kindheit der Menschheit. Markus Preiter formt sozusagen den
Schlüssel zum Seelenlabyrinth. Er beschäftigt sich ausführlich mit dessen
Raumstruktur und behandelt Themen wie die evolutionäre Bedeutung von Emotionen.
In Teil II öffnet er mit diesem Schlüssel die Tür und betritt das
Labyrinth. Hier erfährt der Leser, was Psychopathologie über das Menschsein
verrät. Hier lernt er den Menschen als Raumverhältnissuchenden kennen, der "mindestens so lange unruhig ist, bis
sich ein stimmiges und ausreichend beruhigendes Raumverhältnis" um ihn
herum einstellt. Und hier geht Preiter auf die einzelnen Krisenzeiten des
Menschen, die vier großen psychiatrischen Krankheitsbilder, ein.
Nicht nüchtern, objektiv und kühl, sondern mit immer wieder eingestreuten
Fallbeispielen aus seiner eigenen Praxis, würzt Markus Preiter seine
Abhandlungen mit lockeren Vergleichen, die sogar vor den Insassen von
Raumschiff Enterprise oder dem Einflechten von Lyrik nicht haltmachen.
Quintessenz des hervorragenden Buches: "Psychisch
krank sein ist kein Verrücktsein in einen anderen Sinnraum außerhalb der
menschlichen Normalität. Vielmehr handelt es sich um eine Verdichtung dessen,
was wir als Menschen sind und was uns ausmacht. Die befremdlichen und manchmal
verstörenden psychiatrischen Phänomene sind Verdichtungszitate der
anthropologischen Matrix, die uns alle formt und prägt."
Psychopathologische Phänomene sind "Chiffren
einer hoch komplizierten biologischen Struktur, eines biologischen Superrechners,
der wunderbare Leistungen erbringt, aber eben auch Fehlerpotenzen hat. Eine
Systematik der Fehleranalysen (...) ermöglicht, Fragen zu beantworten nach dem
generellen Strukturaufbau des Superrechners und seiner Funktionsweise im
fehlerfreien Betriebsmodus."
"Alle Menschen können anhand des
Phänomens Psychopathologie lernen, wie wir wurden und wer wir sind."
Markus
Preiter
Die Logik des Verrücktseins, Einblicke
in die geheimen Räume unserer Psyche, Kösel-Verlag, München (Oktober 2010), 352
Seiten, Gebunden, ISBN-10: 3466308860, ISBN-13: 978-3466308866, Preis: 19,95 EURO
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