Erschienen in Ausgabe: No 62 (4/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
Marko Martins freiheitstrunkene Prosa „Schlafende Hunde“
von Ulrich Schacht
Kürzlich wurden wir ein weiteres
Mal Zeugen einer medialen Erregung, die der Textmasse einer jungen Autorin galt.
Die Verbal-Orgie gab sich aber nicht nur obszön, sie rahmte sich auch progressiv. Wie beim
Tontaubenschießen flog ihr Buch allerdings in genau jenem Moment in zahlreiche
Plagiats-Trümmer auseinander, als es auf dem Scheitelpunkt der Aufwärtsbewegung
stand, wohin ihm fast alle Augenpaare des bundesdeutschen Literaturbetriebs wie
in einem Pawlowschen Reflex gefolgt waren - und so mitten hinein in ein totales
Glaubwürdigkeits-Desaster. Nun schadet über Bücher zu streiten an sich
niemandem, wäre es denn so. Denn es schadet selbstverständlich der Aufmerksamkeit
für Bücher, die es ungleich mehr verdient hätten, auf hohe feuilletonistische
Umlaufbahnen geschossen zu werden: Wie zum Beispiel „Schlafende Hunde“, der
neue Erzählband des heute vierzigjährigen Journalisten und Autors Marko Martin,
der aus Sachsen stammt, seit langem aber in Berlin lebt. Martin ist ebenso
Vollblutjournalist wie Vollbluterzähler: Seine Romane, Geschichten und
Reportagen strotzen vor Vitalität. Es ist die Vitalität eines gelebten, nicht
geborgten Lebens. Denn wie nur wenige Autoren seines Alters ist Martin
tatsächlich in der Welt zu Hause, nicht bloß ideologisch. Reise- und Lebenshunger sind bei ihm deckungsgleich,
das Tiefenmotiv dieses literarisch folgenreichen Weltbürgertums ist aber ein
politisches: Marko Martin wuchs in einer Diktatur auf, der zweiten in der
deutschen Geschichte, und wurde sie erst 1989, mit knapp Zwanzig, wieder los:
1989. Wenn es nicht zu pathetisch klänge, müßte man die Prosa dieses Autors als
Prosa eines Freiheitstrunkenen charakterisieren, dessen Bewegungen durch die
Welt nicht von Ekel-Fluchten vor dem normalen Leben angetrieben werden, wohl
aber vom Wissen um die Einmaligkeit individuellen Daseins wie von der
Erfahrung, daß es Ideologien gibt, deren politische Praxis darin besteht,
beides zu bestreiten, notfalls mit Hilfe der Normativität des Totalitären und
den dazugehörigen Maßnahmen.
Die acht Geschichten des neuen
Buches von Martin illustrieren dies allerdings nie vordergründig. Was sie zudem
auszeichnet, ist ihre Unmittelbarkeit: Der Leser stürzt aus dem Stand in einen
reißenden Erzählstrom, der ihn schlagartig nach Tel Aviv führt, nach Mexico City,
Prag, Teheran oder Somalia. Zugleich sind alle Orte im Moment des Erreichens
nicht nur Raum für lediglich exotische Geschichten, sondern politischer Geschichtswirbel
von ungeheurer Dramatik und Dynamik: Prag 1968 und nach 1989, Iran während der
blutigen Etablierung eines islamischen Gottestaates, das Pulverfaß Palästina,
Mexico als Haifischbecken sich bekämpfender kommunistischer Emigranten, die vor
Stalin oder Hitler geflohen sind. Und es gibt, wie in einer Matrjoschkapuppe,
Orte in allen diesen Orten, die Teil der weltweiten Community homosexuell
lebender und liebender Menschen sind. Die Souveränität, mit der Marko Martin an
diesem zentralen Punkt zu Werke geht, ist allerdings beeindruckend, stellt er
doch die sexuelle Präferenz seiner Helden nie aufdringlich aus, vielmehr bricht
er sie nicht zuletzt mit dem Mittel radikaler Selbstironie. Am radikalsten
vielleicht in der Geschichte „Letzte Detektive“, die den Leser nach Mexico City
entführt und dort in einen plüschigen Schwulenclub, in dem es, am Rande eines
PEN-Kongresses, zu einer letztlich unheimlichen
Begegnung zwischen dem auch erotischen Abenteuern nie abgeneigten Reisenden und
einem auf die Sechzig zugehenden Intellektuellen kommt, in deren Verlauf
allerdings nicht das Altersdrama des Mannes Hauptgegenstand des Gesprächs mit
dem jungen Deutschen ist, sondern eine Art politische Beichte über Hoch- und
Endzeiten des Kommunismus und seiner Sympathisanten sowie die Moral oder
Unmoral darin verwickelter Intellektueller. Marko Martin nutzt für diese Geschichte
das Erzählmodell eines der berühmtesten Bücher des 20. Jahrhunderts: des Romans „Der Fall“ von Albert Camus. Beichtet
bei Camus ein Richter in einer Amsterdamer Bar einem Wildfremden sein moralisch
verfehltes Leben, so monologisiert bei Martin ein alternder Dichter über seine
Existenz, der sich zugleich verdammt gut auskennt in der Welt linker Künstler
und Politiker und wie sie in Mexiko aufeinandertrafen. Das Erzählschiffchen
jagt im Verlaufe des großen Monologs, der, wie bei Camus, den zufälligen
Gesprächspartner nie zu Wort kommen, aber in den eigenen Reaktionen Gestalt
annehmen läßt, in einem Meer von Namen, Anekdoten, Politdramen und
zwischenmenschlichen Tragödien so geschickt und schnell hin und her, daß am
Ende ein absurdes Geschichtsmuster das dicht geknüpfte Textgewebe durchzieht
und sich in den Worten des Monologisierers zum Schlußbild verdichtet: „Was als
Komödie beginnt, endet als Tragödie. Warum dämmert es den jungen Leuten nicht,
daß wir ein Pack von Lügnern sind?“ Kein Zweifel: „Schlafende Hunde“ erzählt
mit Leidenschaft und sprachlicher Opulenz Geschichten aus einer Welt der
Leidenschaften. Daß in einer solchen Welt das Glück oft der Zwillingsbruder der
Katastrophe ist und vice versa, das verschweigen diese Geschichten gerade
nicht. Aber genau das macht sie doppelt glaubwürdig.
Marko Martin: „Schlafende
Hunde“, Erzählungen, Die andere Bibliothek, Eichborn, Frankfurt am Main 2009, 382 S.
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