Erschienen in Ausgabe: No. 27 (1/2007) | Letzte Änderung: 27.01.09 |
von Bernd Ehlert
Das Christentum besaß zu keiner Zeit eine einheitliche Lehre oder Theologie. Meister Eckhart eröffnet den Zugang zu einer alten christlichen negativen Theologie und Tradition, die eng mit der Philosophie (des Neuplatonismus) und dem Entstehen der christlichen Theologie überhaupt verbunden ist. Diese negative Theologie gründet entsprechend des Philosophiebezuges auf der Vernunft, geht gleichzeitig aber trotz dieses natürlichen und vernünftigen Ansatzes in einer wahren Transzendenz und Mystik über alles Weltliche hinaus. Gerade in der heutigen Zeit mit ihren religiösen Problemen ist diese strikte negative Theologie in ihrer Vernunft dabei alles andere als überholt.
Meister
Eckhart (ca. 1260-1327), aus Thüringen stammend, gilt als der
größte deutsche Mystiker. Allerdings war er kein Vertreter
einer gefühlsmäßigen, schwärmerischen Mystik.
Sein erklärter Ansatz war es, „die Schrift beider
Testamente mit Hilfe der natürlichen Gründe der Philosophen
auszulegen“1.
Der heutige Theologe Udo Kern ordnet ihn daher richtig ein, wenn er
sagt, dass Eckhart „zu den herausragenden Gestalten nicht nur
des hohen Mittelalters, sondern des westlichen Denkens überhaupt“2
gehört. Noch besser trifft es Ludwig Marcuse, der über
Eckhart feststellt:
Der
stärkste Kopf, der energischste, radikalste Denker unter den
Mystikern, der, welcher das zu Verschweigende am eindringlichsten
bewusst gemacht hat, war Meister Eckhart. Lange bevor die
„Entmythologisierung“ erfunden wurde, war er der
radikalste Entmythologisierer.
Eckehart
war die Aufklärung – ohne Verklärung, war
aufgeklärter als die Aufklärung. Er war in der Tat viel
gefährlicher als später Luther, als die Entlarvung des
Priester-Betrugs im achtzehnten Jahrhundert, als der harmlose Atheist
des zwanzigsten. Eckehart deckte den „Abgrund“ auf, den
alle Religionen und Philosophien zudeckten.3
Angesichts
dieser Worte wird verständlich, warum sich Meister Eckhart vor
der Inquisition verantworten musste und verurteilt wurde, und zwar
nach Worten des Eckhart-Forschers Kurt Ruh als einziger Theologe von
Rang des gesamten Mittelalters.4
Doch was ist es, das Eckhart eigentlich auszeichnet und das ihm dann
auch die Probleme mit dem herkömmlichen Theologieverständnis
einbrachte? Meister Eckhart ist ein Vertreter der negativen
Theologie, und wer sich näher mit ihm beschäftigt, wird bei
einer unvoreingenommenen Herangehensweise eine starke Nähe zum
Neuplatonismus feststellen, und zwar zum ursprünglichen
Neuplatonismus Plotins (203-269) und dessen wirkmächtigsten
Schülers und „erklärte[n] Christenfeind[es]“
5
Porphyrios (232-304). In der Problematik des Verhältnisses des
Christentums zum Neuplatonismus finden nicht nur die oft seltsamen
Aussagen Eckharts ihre Erklärung, sondern darin lassen sich
ebenfalls die wahren, natürlichen Wurzeln der Entstehung des
Christentums erkennen und nachvollziehen und vor allem auch der große
Irrtum des allgemeinen, bis heute gültigen christlichen
Selbstverständnisses.
Porphyrios
versuchte, die religiösen Inhalte ihrer mythischen
Vorstellungsformen zu entkleiden und in philosophische Begriffe zu
übersetzen, um die gesamte religiöse Überlieferung
systematisch in die Philosophie zu integrieren, was damals nichts
anderes als die Schaffung eines einheitlichen Weltbildes bedeutete.
Die religiöse Überlieferung philosophisch zu deuten ist
ausdrücklich auch der Ansatz von Meister Eckhart, wobei Eckhart
von einer Quelle und Wurzel der Wahrheit spricht, aus der alles
hervorgeht, „was wahr ist, sei es im Sein, sei es im Erkennen,
in der Schrift und in der Natur“6.
Porphyrios ist damit genau wie später Eckhart gescheitert, und
wir besitzen bis heute noch kein einheitliches Weltbild, das
Religion, Philosophie und (heute moderne) Naturwissenschaft vereinigt
und darin objektiven Wahrheitsansprüchen genügt.
Die
Probleme in der heutigen Globalisierung, in der die verschiedenen
Religionen und Kulturen aufeinanderprallen und miteinander auskommen
müssen (Schlagwort: Kampf der Kulturen), machen deutlich, dass
die Auseinandersetzung mit Meister Eckhart und den Wurzeln des
Christentums kein abstraktes Thema für weltabgewandte
Spezialisten und Theoretiker ist. Das, was schon in der Antike mit
kühnen Ideen versucht wurde, ist heute nicht nur wünschenswert
und nötig, sondern überlebenswichtig, nämlich die
Überwindung der Widersprüche zwischen den verschiedenen
Religionen sowie die Spaltungen in den einzelnen Religionen und die
Schaffung eines einheitliches Weltbildes. Meister Eckhart ist hier
wegweisend, wenn der Theologe Bernhard Welte selbst zu so entfernten
Religionen wie dem Buddhismus feststellt, dass sich über Meister
Eckhart die so gegensätzlichen Religionen Christentum und
Buddhismus gleichsam aus weiter Entfernung „zuwinken“7.
Wenn Eckhart neuplatonisch gesehen und gedeutet wird, winken sie sich
nicht nur aus weiter Entfernung und über eine dann nur scheinbar
unüberwindbare Kluft zu.
Die
natürlichen Wurzeln des Christentums sind nur über die
abendländische Geistesgeschichte erklärbar, wobei schon
vorchristliche Entwicklungen eine wichtige Rolle spielen. Das
Wissenschaftszentrum um die Zeitenwende „mit der erste[n]
Universität im modernen Sinn“8
und dem „Bestreben, die Welt aus sich selbst, also rational zu
erklären“9,
war die von Alexander dem Großen im Jahre 331 v. Chr.
gegründete und nach ihm benannte ägyptische Hafenstadt
Alexandria, in der die griechische Philosophie und Kultur eine neue
und letzte Blüte erlebte. Hier unternahm der Jude Philon (etwa
25 v.Chr.-50 n.Chr.) den kühnen Versuch, die griechische
Philosophie, besonders die von Platon, mit der jüdischen
Religion zu vereinbaren.
„Philon
von Alexandria setzte den Einen Gott des Judentums mit dem Einen
Platons gleich“10.
Das war nur möglich, wenn der personale jüdische Gott zu
einem „negativen“ Gott wurde, der völlig
unbestimmbar und unerkennbar sich über allem befand. Die
Verbindung dieses „negativen“ Gottes zur Materie und Welt
sah Philon durch Platons Ideen hergestellt, wobei der Inbegriff
dieser Ideen für ihn der Logos war, die weltdurchwaltende
Vernunft. Den Logos nannte Philon Gottes Sohn (ohne dass dem
Zeitpunkt entsprechend irgendwie der gekreuzigte Jesus dabei eine
Rolle spielte). „Es ist klar zu sehen, wie hier christliche
Gedanken vorgebildet sind“11.
Ein
weiteres Kennzeichen der negativen Theologie und Philosophie Philons,
das wie die negative Theologie ebenfalls später bei Meister
Eckhart auftaucht, ist die allegorische Methode. Die Gestalten und
Ereignisse der Bibel stehen bei Philon für die einzelnen
Tugenden oder Verhaltensweisen des Menschen und werden in
philosophischer Weise auf die Gegenwart bezogen, d.h. Adam steht etwa
für das Denken, Eva für die Wahrnehmung, der Garten Eden
für den Überfluss, Kain für die Selbstsucht usw.
Meister Eckhart sagt ganz ähnlich in dieser Weise: „»Petrus«
sagt soviel wie Erkenntnis“12,
und der Sohn steht bei Eckhart, manchmal auch „Fünklein“13
genannt, für die höchste, göttliche Erkenntnis des
Absoluten, nicht dagegen für ein göttliches, reales Wesen.
Der
in der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts in Syrien lebende
griechische Philosoph Numenios, der als ein Vorreiter des
Neuplatonismus gilt, baute diese Vorstellung von Gott und Sohn von
Philon mit Hilfe der Chaldäischen Orakel (der alten Sumerer) zu
einer Trias von Göttern aus. Numenios erweiterte das Vorhaben
von Philon, griechischen und jüdischen Geist zu vereinbaren,
denn Numenios verstand seine Trias als „Übereinstimmung
Platons mit der religiösen Weisheit aller alten Kulturvölker,
namentlich der indischen Brahmanen, der Juden, der Magier (der
Anhänger Zarathustras) und der Ägypter“14.
Auf diese Weise hinterließ das bis nach Indien ausgedehnte
Großreich Alexanders nachfolgend auch in der geistigen
Entwicklung seine Spuren.
Auch
der Neuplatonismus entstand in Alexandria. Er verfolgt die
abschließende Synthese der gesamten antiken Philosophie, und
zwar ebenfalls unter der Lehre Platons, denn auch für Plotin
vertrat allein Platon die richtige Lehre von der absoluten
Transzendenz des Einen selbst über Sein und Geist.15
Ganz nach der Alexandrinischen Philosophie war auch Plotin an den
orientalischen Weisheiten und Philosophien interessiert, so sehr,
dass er nach dem Tod seines Lehrers Ammonius Sakkas (175-242) sich
einem gefahrvollen Feldzug der Römer nach Persien anschloss, mit
dem ausdrücklichen Wunsch, die „bei den Persern und bei
den Indern gebräuchliche und angesehene Philosophie
kennenzulernen“16.
Der Feldzug scheiterte allerdings und Plotin gründete dann im
Jahre 244 in Rom seine philosophische Schule.
Während
Plotin die Chaldäischen Orakel und die Trias von Numenios noch
ignoriert hatte, nahm sein Schüler Porphyrios, der mit der
Kultur und den Religionen des Orients gründlich vertraut war,17
dieses Bild der dreieinigen Gottesvorstellung und das damit
verbundene gewaltige und kühne Vorhaben von Numenios wieder auf.
Porphyrios versuchte eine systematische Integration der gesamten
religiösen Überlieferung in die Philosophie, wobei er davon
ausging, dass sich die religiösen Inhalte ihrer mythischen
Vorstellungsform entkleiden und in philosophische Begriffe übersetzen
lassen.18
Die Chaldäischen Orakel wurden für Porphyrios dabei
„zum wichtigsten Unterpfand für die Einheit von
philosophischer und religiöser Wahrheit und spielten von da an
eine gewaltige Rolle im gesamten späteren Neuplatonismus“19.
„Die höchste Gottheit der Orakel war eine Triade,
bestehend aus «Vater» (patêr), «Macht»
(dynamis) und «Geist» (nous), die Porphyrios mit der
Platonischen Trias von Sein, Leben und Geist gleichsetzte und im
Sinne seiner Triadik als die sich selbst durchdringende Dreieinigkeit
des göttlichen Geistes interpretierte“20.
Entscheidend für die neuplatonische Rezeption der Orakel war es
aber, „dass diese die Transzendenz ihrer triadischen Gottheit
deutlich aussprechen“21.
Der «Vater» wird dabei als der «einfach
Transzendente» oder der «Transzendente in der Weise der
Einheit» bezeichnet, was Porphyrios mit dem überseienden
absoluten Einen oder Absoluten identifizierte.
Dieses
gleichermaßen für die wahre Transzendenz und die Einheit
der Religionen stehende Bild der damalig vorherrschenden griechischen
Philosophie und Wissenschaft übernahm das sich zu dieser Zeit
entwickelnde Christentum. Dabei muss berücksichtigt werden, dass
die christliche Kirche in den ersten Jahrhunderten alles andere als
eine einheitliche Lehre vertreten hat. Es gab erbitterten Streit um
das Verständnis von Christus, ob dieser nur eine
gott-menschliche Natur besitzt, oder zwei getrennte Naturen
(Monophysitismus oder Dyophysitismus), ob er mit Gott wesenseins ist
oder Gott untergeordnet und damit nur wesensähnlich (was die
Arianer lehrten) und es gab sogar das christliche Glaubensverständnis
des Marcion (85-160), einem Gnostiker, der sich radikal vom Judentum
trennte und den Monotheismus aufgab, indem er zwischen dem bösen
Gott des Alten Testaments und dem guten Gott des Neuen
Testaments unterschied. Die marcionitische christliche Kirche hatte
in manchen Regionen weit mehr Anhänger als die im römischen
Sinn „rechtgläubigen“ Gemeinden und hielt sich bis
ins 4. Jahrhundert.
Im
Jahre 313 wurde das Christentum vom römischen Kaiser Konstantin
anerkannt. Im Konzil von Nicäa im Jahre 325 kam es zu einer
ersten Entscheidung gegen den Arianismus und erst in der Synode von
Konstantinopel (381) und dem Konzil von Chalcedon (451) wurde die
Trinität als neues Gottesbild endgültig definiert und als
verbindliches Dogma festgelegt (dem sich aber nicht alle ganz
anschlossen, denn die koptische Kirche etwa blieb beim
Monophysitismus).
Welche
entscheidende Rolle der Neuplatonismus in diesem Prozess der
theologischen christlichen Selbstfindung spielte, macht Jens
Halfwassen deutlich, wenn er in Bezug zu Porphyrios feststellt, dass
es zu den merkwürdigsten Ironien der Geschichte [gehört],
dass ausgerechnet der erklärte Christenfeind Porphyrios mit
seinem trinitarischen Gottesbegriff, den er aus der Interpretation
der Chaldäischen Orakel entwickelte, zum wichtigsten
Anreger für die Ausbildung des kirchlichen Trinitätsdogmas
im 4. Jahrhundert wurde. […] Es war ausgerechnet Porphyrios,
der die rechtgläubigen Kirchenväter gelehrt hatte, wie man
die wechselseitige Implikation und damit die Gleichwesentlichkeit von
drei unterschiedenen, aber nicht getrennten Momenten in Gott mit der
Einheit Gottes zusammendenken kann, wodurch die Gottheit Christi erst
mit dem biblischen Monotheismus vereinbar wurde. Kein geringerer als
Augustinus bestätigt Porphyrios denn auch ausdrücklich das
richtige Verständnis der Trinität.22
Die
theologische Grundlage des Christentums, das spezifische und vom
Judentum unterschiedene Gottesbild, das trotz der darin enthaltenen
Unterscheidungen monotheistisch bleiben sollte, wurde also nicht etwa
von Jesus verkündet, sondern geht „ausgerechnet“ auf
den „erklärten Christenfeind“ Porphyrios zurück,
und zwar Jahrhunderte nach Jesus. Wie es Halfwassen weiter ausführt,
galt am Ende der Epoche der Neuplatonismus nicht nur als der
Inbegriff der griechischen Philosophie, sondern trotz des
hartnäckigen Heidentums der Erben Platons in Athen auch als die
dem Monotheismus angemessene Deutung des Zusammenhangs von Gott, Welt
und Mensch. Das Christentum übernahm, mit unabsetzbaren Folgen
für die gesamte weitere Geschichte Europas, vom Neuplatonismus
die Ausrichtung auf die Transzendenz des Absoluten, die Überzeugung
vom Primat des Geistes als der eigentlichen und höchsten
Wirklichkeit sowie eine geistbezogene, intellektualistische Sicht des
Menschen und der Welt. So wurden das Römische Reich und seine
griechische Kultur im Verlauf der Spätantike christlich, aber
das Christentum, das sie annahmen, wurde im gleichen Zug, in dem es
siegte und zur kulturbestimmenden Macht aufstieg, selber immer mehr
eine griechisch-philosophische, neuplatonisch interpretierte
Religion.23
Das
von der griechischen Philosophie übernommene Bild der
dreieinigen Gottheit ermöglichte es dem Christentum, sich mit
einem neuen und anderen Gottesbild theologisch als vom Judentum
unabhängige Religion zu etablieren, obwohl es gleichzeitig in
seiner sich letztlich durchsetzenden Strömung eine Religion
jüdischen Geistes blieb. In allen diesen Aussagen wird deutlich,
welche entscheidende Rolle der Neuplatonismus und damit die
griechische Philosophie für das theologische Selbstverständnis
als eigenständige Religion für das Christentum spielte.
Dieses neue Gottesbild ist nicht durch übernatürliche
Ereignisse offenbart worden, sondern entstand auf rein natürliche
Weise mit all ihren typischen Kennzeichen, nämlich nach langen
erbitterten Auseinandersetzungen, Intrigen, gegenseitigen
Verbannungen und (nicht nur geistigen) Kämpfen. In einem Bild
ausgedrückt ist das Christentum das „Gebirge“, das
sich durch das Aufeinanderdriften zweier geistiger
„Kontinentalplatten“, dem griechischen und dem jüdischen
Geist, an deren Nahtstelle aufgetürmt hat.
Doch
warum war Porphyrios ein Christenfeind? Dazu ist zunächst in
Hinblick auf die zwei verschiedenen Fundamente, auf denen das
Christentum steht und von denen aus es sich entwickelte, zwischen
einem mehr griechisch geprägten Christentum zu unterscheiden,
das vor allem in Alexandria mit seiner griechischen Wissenschaft
vertreten war, und einem mehr jüdisch geprägten, das sich
schließlich in Rom durchsetzte und letztlich dort zur
Staatsreligion und Weltreligion wurde. Die alexandrinischen
Kirchenväter Clemens von Alexandria (ca. 150-215) und Origenes
(185-254) sahen Christus nicht als einzigartigen Erlöser
(Clemens sah etwa auch Platon darin), sondern gemäß der
philosophischen Logosvorstellung und allgemein gemäß dem
mehr griechisch geprägten Christentum vielmehr als Vorbild, Weg
oder Prinzip einer geistigen Rückkehr des Menschen in das
unnennbare und unvorstellbare göttliche Absolute, Eine. Das
spiegelte sich dann auch im Monophysitismus wieder, und wie dieser
lebte trotz der Konzilsbeschlüsse und der daraus folgenden
Verbote und Verfolgungen auch die griechisch geprägte
alexandrinische negative christliche Theologie weiter.
Halfwassen
stellt den entscheidenden Schritt fest, den das (jüdisch
geprägte) Christentum trotz aller Verflechtung mit dem
Neuplatonismus bezüglich der Transzendenz nicht
mitvollzieht (im Gegensatz zu einer Richtung oder Spielart der
christlichen negativen Theologie über Dionysius Areopagita,
Eriugena bis hin zu Meister Eckhart):
Victorinus,
Augustinus und Boethius denken ihren Gott als das Eine, und sie
bedienen sich auch der Denkform der negativen Theologie. Aber sie
scheuen dabei vor der letzten Konsequenz zurück: Ihr Gott ist
zugleich Sein, Leben, Geist und Liebe, er ist unbeschadet seiner
Unbegreiflichkeit die Fülle alles Positiven.
Eine
zweite Spielart des christlichen Neuplatonismus bleibt dagegen näher
an Plotin, der von dem Einen selbst jede denkbare Bestimmung strikt
ferngehalten hatte.24
Der
entscheidende Unterschied zwischen Neuplatonismus und dem jüdisch
geprägten Christentum ist, dass für den ursprünglichen
Neuplatonismus und die mehr von diesem geprägte christliche
Spielart auch die personale Dreifaltigkeit wie alle anderen Bilder
und Vorstellungen nur eine Metapher oder ein Hilfsmittel ist und
bleibt, das in der „Negation der Negation“ ebenfalls
überwunden werden muss, während das jüdisch geprägte
Christentum dieses bestimmte Bild exklusiv mit dem Absoluten
dogmatisch gleichsetzt und darin nicht negiert. So hält
Eriugena (810-877) entgegen dem allgemeinen christlichen Verständnis
„an der Transzendenz des Absoluten über alle Bestimmtheit
mit allem Nachdruck fest: das Eine bleibt jenseits von allem, auch
wenn es in allem erscheint, das Übersein hebt sich nicht selbst
auf ins Sein, sondern bleibt dessen transzendenter Ursprung“25
und Gott ist „kein bestimmtes und d. h. immer auch: begrenztes
Etwas, das positiv gewusst werden könnte, sondern das unendliche
Nichts der reinen Transzendenz“26.
Im
diesem mehr neuplatonisch-christlichen Verständnis ist auch der
Sohn entsprechend dem philosophischen Logos-Begriff eher ein Prinzip
oder eine Hilfsvorstellung und in diesem Sinne eben eine Metapher,
die für den Prozess des Kontaktes mit dem Einen in der eigenen
Seele oder dem eigenen Geist steht, aber nie in einer einzigartigen
Weise ein ganz bestimmter Mensch in der äußeren Welt. Die
Verehrung eines historischen Menschen als Menschwerdung Gottes und
als göttliches personales Wesen ist für den Neuplatonismus
ein „Rückfall in den schon von Platon und dem
Vorsokratiker Xenophanes (6.Jahrhundert v. Chr.) bekämpften
Anthropomorphismus“ und widerspricht „dem Dogma der
Unveränderlichkeit Gottes“27
bzw. des Absoluten.
Neuplatonismus
und Christentum benutzten also ein gemeinsames Bild, das das
Christentum als neues Gottesbild übernahm, doch letztlich
verstanden sie etwas gänzlich Gegensätzliches unter diesem
Bild des dreieinigen Gottes und verfolgten gänzlich
unterschiedliche Ziele damit. Der mit diesem unterschiedlichen
Verständnis verbundene „christliche Anspruch auf den
exklusiven Zugang zum Heil“28
und das Bekenntnis zum historischen Christus als Gottheit waren für
Porphyrios die konkreten Gründe dafür, das Christentum in
dieser Form strikt abzulehnen.
Der
Neuplatonismus kennt zwar grundsätzlich neben der Negation als
„aufsteigende Dialektik“29
auch den Weg der Analogie als „absteigende Dialektik“30,
in der das Eine in die Welt und als Welt ausfließt. Darin wird
das Eine etwa als «das Gute» benannt, worin auf diesem in
die Welt absteigenden Weg „seine alles Sein setzende und
erhaltende Überfülle“31
positiv ausgedrückt wird. Plotin umschreibt so den Hervorgang
der Vielheit aus der Überfülle des Einen „durch
ausdrucksstarke Metaphern und bildhafte Analogien“32
als Überfließen in den Bildern von Quelle und Fluss, Licht
und Ausstrahlung, usw. Dadurch wird dieser Akt des Entspringens der
Wirklichkeit aus dem Absoluten in einer positiven Weise vorstellbar
(heute müsste etwa die Evolutionstheorie auf diesem Weg
angesiedelt werden), bleibt aber in der Dialektik gleichzeitig stets
unbegriffen. Der in die Welt absteigende Weg mit seinen positiven
Bildern ist ein Aspekt der Wirklichkeit, aber im Neuplatonismus
ausdrücklich nicht der entscheidende und letztlich wahre.
Während
das jüdisch geprägte Christentum auf diesem positiven Weg
mit einem ganz bestimmten Bild sozusagen steckenbleibt und es für
absolut setzt, nämlich dem aus den Chaldäischen Orakeln
entwickelten der dreieinigen Gottheit, gilt für den
Neuplatonismus: „Bestimmend für den Sinn auch der Analogie
bleibt darum die Negation“33.
Restlos alle diese positiven Bilder, Benennungen und Beziehungen, die
sich in dieser analogischen Dialektik mit ihrer Seinsfülle und
Vielheit ergeben, gelten daher nur als „uneigentliche und
transzendente Quasi-Selbstbeziehung, Quasi-Selbstbegründung
und Quasi-Selbstbestimmung des Absoluten“34
und werden letztlich in einer allumfassenden Negation immer wieder
aufgehoben. „Jene analogen Quasi-Prädikationen, die Plotin
dem Einen in der zweiten Gedankenreihe zuspricht, erweisen sich damit
als ein Durchgangsstadium seiner Argumentation, das die
negative Theologie weder durchbricht noch einschränkt“35.
Im
Neuplatonismus ist dabei auch die einfache Verneinung noch ein Akt
des Denkens, d.h. was in den Verneinungen gedacht wird, ist nicht das
Absolute selbst, sondern nur das, was ihm abgesprochen wird. „Im
Verneinen bleibt darum die Intentionalität des Denkens und damit
dessen grundlegende Zweiheit erhalten“36.
Durch die Negation der Negation wird dann die Intentionalität
des Denkens zurückgenommen, so dass sich das Denken selbst
aufhebt. „Dabei übersteigt das Denken sich selbst, indem
es seine konstitutive Zweiheit zurücknimmt in jene einfache,
ununterschiedene Einheit (henôsis) mit dem Absoluten,
die Plotin Ekstasis genannt hatte“37.
Das im Übersteigen des Denkens verwirklichte Eine ist „so
zuletzt jenseits des Seins schlechthin. Weil das Absolute in seiner
reinen Transzendenz somit nicht ist, kann man von ihm nicht
einmal sagen, dass es Eines ist“38,
wobei „auch die Benennung des Absoluten als «das Eine»
darum nur uneigentlich und metaphorisch “39.
„«Wir nehmen selbst das Ist von Ihm weg», darum
«existiert Es auch nicht (oude hypestê)»,
sondern ist «vor aller Existenz (pro hypostaseôs)»
und «über das Sein hinaus (hyperontôs)»“40.
Das
bedeutet auch, „dass das transzendente Absolute, das Eine
selbst, [nicht] als Gott oder gar als ein irgendwie personaler Gott
gedacht wird; das Eine selbst ist vielmehr auch «mehr als
Gott»“41.
„Der Gottesgedanke gehört selbst zu dem, was in einer
konsequenten negativen Theologie transzendiert wird“42.
Diese radikale Transzendenz findet sich im Gegensatz zum mehr jüdisch
geprägten Christentum, für das es in dieser Relativierung
und Negierung der eigenen Gottesvorstellung nichts als Ketzerei ist,
in dergleichen Weise ganz konkret bei Meister Eckhart, wenn er bei
seiner Negierung und Transzendierung auch der christlichen
Gottesvorstellung nicht nur die Personalität abspricht („Soll
Gott je darein lugen , so muss es ihn
alle seine göttlichen Namen kosten und seine personhafte
Eigenheit“43),
sondern darüber hinaus neben den Kategorien von Raum und Zeit44
(wie bei Kant) auch die des Seins. Gott ist in der Mystik Eckharts
keine Person, sondern das Absolute, Eine, über das er etwa ganz
im neuplatonischen Sinn sagt:
Gott
wirkt oberhalb des Seins in der Weite, wo er sich regen kann; er
wirkt im Nichtsein. Ehe es noch Sein gab, wirkte Gott; er wirkte
Sein, als es Sein noch nicht gab.45
Das
eigentliche Kenzeichen der sich im Römischen Reich
durchsetzenden Spielart des Christentums war es, dass dieses sein
Gottesbild nicht relativiere, negierte und transzendierte. Darin
kommt auch der große Wesensunterschied zwischen dem jüdischen
und dem griechischen Geist zum Vorschein. Hans Joachim Störig
beschreibt in seiner „Kleinen Weltgeschichte der Philosophie“
die großen und unvereinbaren Unterschiede zwischen dem
griechischen und dem christlich-jüdischen Geist und stellt fest,
dass vor allem „die Vorstellung einer weiten Kluft zwischen
Gott und Mensch besonders den Religionen der semitischen Völker
eigen ; sie stammt aus dem alten Judentum“46.
Diese grundsätzlich unüberwindbare Kluft schließt die
wahre Einheit und wahre Transzendenz des griechischen Neuplatonismus
aus, sie bedingt stattdessen zwei reale, sich gegenüberstehende
Wesenheiten, die Kreatur und der Gott. Dieses Verständnis
erfordert für den Gläubigen immer ein bestimmtes, heiliges
und darin einzigartiges Bild des gegenüberstehenden Göttlichen,
das in diesem Verständnis unter keinen Umständen negiert
oder transzendiert werden kann oder darf. Das reale Sein und
Selbstverständnis der Kreatur hängt daran, wobei der
gegenüberstehende Gott die Aufgabe hat, dieses reale Sein und
Selbstverständnis der Kreatur zu sichern und zu retten.
Der
Gott ist dabei stets ein personaler und im Christentum dann auch
persönlicher Gott, da ihm hier jeder einzelne Mensch als Person
gegenübersteht. Es geht nicht mehr wie im Judentum um das Volk,
sondern um das Individuum. Über das gänzlich
unterschiedliche Seelenverständnis zwischen griechischem und dem
neuen jüdisch-christlichem Geist zitiert Störig, dass für
die antike Philosophie die Seele im Grunde ein Es ist, ein
Unpersönliches, ein Naturfaktor, weshalb es ihr
selbstverständlich ist, die Begriffe Seele und organisches Leben
in engste Verbindung zu bringen, und der Gedanke der Weltseele, von
der die einzelne Seele ein Ableger ist, stets naheliegt, wo von Seele
die Rede ist. „Der Gedanke, dass die Seele gerade als einsame
Seele vor Gott steht und seinen Blick auf sich ruhen fühlt, ist
im Grunde nicht antik“47.
Bei
Meister Eckhart steht statt diese Art von Einheit (im Gegenüber
und Miteinander von Kreatur und Gott) genau wie im Neuplatonismus die
wahre Einheit und bei ihm wird heute vollkommen zu Recht von der
kirchlichen oder christlich-jüdischen Theologie die Tendenz
festgestellt und kritisiert, „die personalen Kategorien Liebe
und Beziehung durch intellektuale oder natural-substantiale zu
ersetzen“48.
Der Versuch, Meister Eckhart trotzdem heute für die
christlich-jüdische Theologie zu vereinnahmen und dabei die
klaren Aussagen Eckharts zur der Nichtigkeit der Kreatur hinsichtlich
des Absoluten so umzudeuten, dass Geschöpflichkeit und
Personalität im Absoluten ermöglicht wird, ergibt dann in
dieser Deutung Eckharts so widersprüchliche und wirre Ergebnisse
wie das folgende:
Und
gerade dadurch wäre es dann ein vollkommen personales, weil
freies, Denken und Handeln, dem die Beschränkung des Personalen
genommen ist. Das Ziel aller Formulierungen [Eckharts], die sagen,
das Personhafte müsse überwunden werden, ist die
Personalisierung der gesamten Wirklichkeit.49
Im
Gegensatz zu dem eigentlichsten Wesenzug des jüdischen bzw.
semitischen Geistes mit seiner unüberbrückbaren Kluft und
dem Gegenüber und Miteinander zwischen menschlicher und
göttlicher Personalität (in einem realen Gottesreich mit
weltlichen Strukturen) und dem dazu nötigen dogmatischen
Gottesbild spricht Eckhart von einer wirklichen und darin apersonalen
Einheit, in der es „keinerlei Unterschied gibt“50.
Auch diese ununterschiedene Einheit im Absoluten findet sich, wie
andere neuplatonische Aussagen, in den verurteilten Sätzen des
Inquisitionsprozesses gegen Eckhart und besonders in dem folgenden
Zitat wird dieser Verstoß gegen den jüdisch-christlichen
Geist und gleichzeitig die Nähe zum ursprünglichen
Neuplatonismus deutlich (wobei die Aussage in diesem Zitat eben nicht
so gemeint ist, dass die Kreatur oder Person Eckhart als Kreatur
oder Person mit dem Göttlichen eins wird):
Du
sollst ihn bildlos erkennen, unmittelbar und ohne Gleichnis. Soll ich
aber Gott auf solche Weise unmittelbar erkennen, so muss ich
schlechthin er, und er muss ich werden.
Genauerhin sage ich: Gott muss schlechthin ich werden
und ich schlechthin Gott, so völlig eins, dass
dieses »Er« und dieses »Ich« Eins ist, werden
und sind und in dieser Seinsheit ewig ein Werk wirken. Denn,
solange dieses »Er« und dieses »Ich«, das
heißt Gott und die Seele, nicht ein einziges Hier und ein
einziges Nun sind, solange könnte dieses »Ich« mit
dem »Er« nimmer wirken noch eins werden.51
Meister
Eckhart vertritt eindeutig die griechisch-naturalen Lehren vom
Absoluten, nicht die personalen der jüdisch-christlichen
Tradition, obwohl er äußerlich auch deren Begriffe
verwendet.
Im
(jüdisch-)christlich gewordenen Römischen Reich wurden
gemäß dem Ausschließlichkeitscharakter dieses
Religionsverständnisses fortan alle anderen Religionen und auch
das mehr neuplatonisch geprägte Christentum bekämpft und
verboten. Dennoch lebte die neuplatonische Richtung weiter,
insbesondere in den Schriften eines unbekannt gebliebenen
christlichen Neuplatonikers im 5. Jahrhundert, der sich Dionysius
Areopagita nannte. In dessen Buch von den göttlichen Namen sah
Meister Eckharts Schüler Heinrich Seuse den „Kern der
Heiligen Schrift“52
(der damit in der heutigen Bibel gar nicht enthalten ist). Diesen
durch und durch neuplatonischen Kern, der darin auch die christliche,
personale und dreifaltige Vorstellung des Absoluten, Einen, Einfachen
nur als „irgend einen Namen“ ansieht, den man zum
Sprechen und zur Lehre darüber benötigt, führt Seuse
in seinem Buch weiter aus, was darin gleichzeitig eine klare
Definition der negativen Theologie ist:
Nun
hat Dionysius dieses ursprungslose Wesen [das Eine] unverhüllt
angeschaut und sagt dazu - ebenso wie andere Lehrer -, dass das
Einfache, von dem die Rede ist, mit allen Namen letztlich ungenannt
bleibt. Denn wie man aus der Logik weiß, muss der Name die
Natur und die Definition des benannten Dinges ausdrücken. Es ist
nun aber bekannt, dass die Natur des genannten einfachen Seins
endlos, unermess1ich und unbegreiflich für alles kreatürliche
Denken ist. Darum ist allen gelehrten Theologen bekannt, dass eben
dieses Wesen, das keine Weise hat, auch ohne Namen ist. Und darum
sagt Dionysius in den Buch „Von den göttlichen Namen“,
Gott sei ein »Nichtsein« oder ein »Nichts«,
und das ist in Bezug auf alles Sein und jedes bestimmte Etwas zu
verstehen, das wir ihm nach kreatürlicher Weise zulegenkönnen. Denn »was man ihm in dieser Weise
zuschreibt, das ist alles in gewissem Sinn falsch, und seine
Verneinung ist wahr«. Und daher könnte man ihn ein »ewiges
Nichts« nennen. Andererseits, will man von etwas sprechen, wie
erhaben und über alles Verstehen es ist, so muss man ihm irgend
einen Namen geben.53
Wenn
auch die eigene Vorstellung des Absoluten letztlich nur als bloßes
Hilfsmittel relativiert wird, das als „irgendein Name“
oder Bild nur nötig ist, um darüber zu sprechen, es
mitzuteilen und in der Welt als Mensch damit umzugehen, so bedingt
das nicht nur ein völlig anderes Verhältnis zu dem
Absoluten, sondern vor allem auch zu den Andersgläubigen. Wenn
dagegen das jeweils eigene Bild oder die eigene Vorstellung mit dem
Absoluten gleichgesetzt wird und darin eine absolute Besonderheit und
Heiligkeit erfährt, so muss ein anderes Bild oder eine andere
Vorstellung falsch und teuflisch sein, es geht gar nicht anders. Das
führt zwangsläufig zu unüberwindbaren Gräben und
Spaltungen, während die Relativierung des eigenen Bildes und der
eigenen Vorstellung genauso zwangsläufig diese Widersprüche,
Gräben und Spaltungen aufhebt. Über etwas, das sich
letztlich nicht vorgestellt werden kann, mit keinem Bild und keinem
Begriff, kann logischerweise auch nicht gestritten werden, d.h. mit
dem neuplatonischen christlichen Verständnis wären die
Widersprüche zwischen den Religionen und natürlich erst
recht die Spaltungen in den einzelnen Religionen schlagartig und
nachhaltig überwunden.
Meister
Eckhart vollzieht dieses neuplatonische Verständnis ganz konkret
und praktisch schon dadurch, dass er oft „heidnische Meister“
in einem zustimmenden Sinne zitiert und manchmal sogar deren Aussagen
über die der christlichen Heiligen Schrift stellt.54
Er identifiziert nicht (im Gegensatz etwa zu Nikolaus von Kues) das
christliche Bild des Absoluten mit dem Absoluten, Einen selbst,
sondern relativiert und durchbricht ganz im Sinne des Neuplatonismus
auch dieses Bild, besonders klar, prägnant und eindeutig an
folgender Stelle:
Denn,
liebst du Gott, wie er Gott, wie er Geist, wie er Person und
wie er Bild ist, - das alles muss weg. ‚Wie denn aber soll ich
ihn lieben?‘ – Du sollst ihn lieben wie er ist ein
Nicht-Gott, ein Nicht-Geist, eine Nicht-Person, ein Nicht-Bild, mehr
noch: wie er ein lauteres, reines, klares Eines ist, abgesondert von
aller Zweiheit. Und in diesem Einen sollen wir ewig versinken vom
Etwas zum Nichts. Dazu verhelfe uns Gott. Amen.55
Ganz
im Sinne dieses geistigen, inneren Weges kritisiert Eckhart die
äußere Verehrung des historischen Christus durch die
Menschen mit den Worten (wobei er wie die alexandrinischen
Kirchenväter in Jesus ebenfalls kein göttliches Wesen sah):
„Was hülfe es mir, wenn ich einen Bruder hätte, der
da ein reicher Mann wäre und ich wäre dabei ein armer Mann?
Was hülfe es mir, hätte ich einen Bruder, der da ein weiser
Mann wäre, und ich wäre dabei ein Tor?“56.
Während
Eckhart ganz nach dem ursprünglichen Neuplatonismus die
christliche dreieinige Gottesvorstellung relativiert, letztlich
negiert und transzendiert, sieht das jüdisch geprägte
Christentum das bis heute ganz anders, indem es das Bild mit dem
Absoluten identifiziert. Welche dramatischen Folgen die Gleichsetzung
eines Bildes oder eben gar einer bestimmten menschlichen Person mit
dem Absoluten bis heute hat, verdeutlicht eine Aussage Nikolaus von
Kues’ (1401-1464), die dieser damals noch offen tätigte:
„Du siehst, wenn ich mich nicht täusche, dass es keine
vollkommene, die Menschen zum letzten, heißersehnten Ziel des
Friedens führende Religion gibt, die Christus nicht als Mittler
und Erlöser, als Gott und Mensch, als Weg, Leben und Wahrheit
umfasst“57.
Nikolaus von Kues beklagt in der weiteren Ausführung dieses
Satzes die Unstimmigkeit des Glaubens der Sarazenen oder
Mohammedaner, die die Gottheit des Menschen Christus leugnen: „Sie
sind in der Tat verblendet, weil sie Unmögliches behaupten“58
und weiter: „Mit diesen bekennen die Juden gleicherweise den
Messias als größten, vollkommensten und unsterblichen
Menschen, dessen Gottheit sie, durch dieselbe teuflische Blindheit
gehindert, leugnen“59.
Hier
kommt ganz der (semitische) religiöse
Ausschließlichkeitscharakter zum Vorschein, den schon
Porphyrios so stark kritisierte. Wenn ein bestimmtes Bild oder eine
bestimmte Vorstellung mit dem Absoluten gleichgesetzt wird, so können
andere Menschen, die nicht an dieses ganz bestimmte Bild glauben, nur
„teuflisch“ sein, selbst wenn sie sich auf dieselben
Wurzeln wie hier die drei abrahamitischen Religionen berufen. Es kann
in diesem Religionsverständnis keine wirkliche und tiefe
Verständigung und kein einheitliches Weltbild geben. Die heutige
Situation im sogenannten „Heiligen Land“ dieser drei
Religionen veranschaulicht gut den Charakter dieses religiösen
Glaubens, der meint, das Absolute in einem bestimmten Bild und einer
bestimmten Vorstellung erkannt zu haben, es exklusiv zu wissen und zu
besitzen.
Porphyrios
stand ganz in der Tradition der Alexandrinischen Schule, die
Widersprüche zwischen den verschiedenen Philosophien und
Weisheitslehren mit rationalen Erklärungen zu einem
einheitlichen Weltbild hin aufzulösen (und dabei gleichzeitig zu
einer wahren Transzendenz zu gelangen). Das war nur möglich,
wenn sich die religiösen Inhalte ihrer mythischen
Vorstellungsform entkleiden und in philosophische Begriffe übersetzen
lassen.60
Das ist dann nichts anderes als es der von Bultmann im letzten
Jahrhundert eingeführte Begriff der „Entmythologisierung“
(der Bibel) aussagt. Marcuse hat diesen Begriff auf Meister Eckhart
übertragen und das vollkommen zu Recht, da Eckhart selbst es
ist, der seine Methode und seinen Ansatz genau in dieser Weise
definiert. Ganz wie Porphyrios hat Eckhart „in allen seinen
Werken [...] die Absicht, die Lehren des heiligen christlichen
Glaubens und der Schrift beider Testamente mit Hilfe der natürlichen
Gründe der Philosophen auszulegen“61.
Für Eckhart ist es „also dasselbe, was Moses, Christus und
der Philosoph lehren“62.
Eigentlich sollte das selbstverständlich sein, denn es kann in
dieser Welt nur ein einzige letztendliche Wahrheit geben, oder, wie
es Eckhart in dem folgenden Zitat ausdrückt, eine Quelle und
Wurzel der Wahrheit:
Demgemäß
wird also die Hl. Schrift sehr angemessen so erklärt, dass mit
ihr übereinstimmt, was die Philosophen über die Natur der
Dinge und ihre Eigenschaften geschrieben haben, zumal aus einer
Quelle und einer Wurzel der Wahrheit alles hervorgeht, was wahr ist,
sei es im Sein, sei es im Erkennen, in der Schrift und in der Natur.63
Diese
Zitate zeigen, dass es ein gemeinsames Anliegen von Porphyrios und
Meister Eckhart war, ein einheitliches Weltbild zu erreichen. Sie
sind beide damit gescheitert. „Nicht weniger als viermal, 324,
448, 451 und 536, wurde die Schrift des Porphyrios [seine
Bibelkritik] durch kaiserliche Edikte verboten“64,
das Ende der neuplatonischen Schule wurde gewaltsam von außen
herbeigeführt und im Jahre 529 schloss der christliche Kaiser
Justinian endgültig die Akademie Platons, die über 900
Jahre bestanden hatte.65
Auch Meister Eckhart fiel der Inquisition zum Opfer, „die
Brüder der deutschen Ordensprovinz [hatten] eine eigentliche
„Säuberungsaktion“, durch „höhere
Autorität“ dekretiert, gegen Eckhart-Freunde gerichtet,
über sich ergehen zu lassen“66
und der Name Eckhart wurde in der Geschichtsschreibung des
Dominikanerordens „ausradiert“67.
Das war kein bloßes Missverständnis, wie es heute versucht
wird darzustellen, sondern hatte seinen Grund darin, dass Eckhart dem
jüdisch-christlichen Verständnis den Boden unter den Füßen
wegzog und dessen Gottesbild um einer größeren und wahren
Einheit willen durchbrach und negierte. Das bedingt ein völlig
neues Selbst- und Weltverständnis, in dem sich die ganze Welt
nicht mehr nur um die Kreatur des Menschen dreht. Diese ist darin als
Kreatur in letztendlicher Hinsicht auch nur ein Nichts.
Heute
wäre es an der Zeit, das kühne Anliegen von Numenios,
Porphyrios und Eckhart weiterzuführen, denn heute ist ein
einheitliches Weltbild, und zwar eines, das objektiven
Wahrheitskriterien genügt, nicht nur wünschenswert, sondern
aus vielerlei Gründen überlebenswichtig für die
Menschheit. Heute würde dieses einheitliche Weltbild wegen der
„innere[n] Affinität des Neuplatonismus mit dem
spekulativen Deutschen Idealismus“68
besonders den Idealismus von Kant und darüber auch die moderne
Naturwissenschaft betreffen. Denn diese stößt mit ihrem
Realismus an unüberwindbare Grenzen, wie es sich in der
Quantenphysik und Hirnforschung zeigt. Beide Disziplinen laufen, auch
wenn uns das unvorstellbar erscheint (was im Sinne Plotins kein
Mangel, sondern das eigentliche Ziel ist) und daher abgelehnt wird,
auf idealistische Lösungen hinaus. In der Physik wird so bis
heute vergeblich versucht, von der ungeliebten „subjektivistischen
Lehrbuch-Meinung“69
über die Quantenproblematik wegzukommen, und „eine
künftige Quantentheorie auf eine objektive Wirklichkeit
beziehen, die unabhängig von Beobachtungen und Messungen [real]
existiert“70.
In der Neurobiologie haben H.R. Maturana und F.J. Varela gezeigt, wie
hier eine idealistische Lösung aussieht, die für uns
dabei immer nur eine Gratwanderung zwischen repräsentationistischen
Objektivismus oder Realismus und solipsistischen Idealismus sein
kann.71
Auch
in der allgemeinen weiteren Entwicklung des Menschen in der Welt
zeichnet es sich ab, dass der Mensch in den weltlichen Strukturen und
seinem scheinbar realen Sein darin trotz aller Annehmlichkeiten, die
er heute mit der modernen Technik verwirklichen kann, keine wahre
Erfüllung finden kann, sondern diese seine Versuche nur in
Exzessen von Macht, Reichtum und Konsum und letztlich in dem
begrenzten Ökosystem der Erde in der Selbstzerstörung
enden. Das idealistische Weltbild weist hier den Weg aus diesen
sozialen und ökologischen Schieflagen und Fehlentwicklungen zu
einer wahrhaft geistigen Weiterentwicklung. Der Mensch ist vor allem
ein geistiges Wesen und kann keine wirkliche Erfüllung in
weltlich-materiellen Dingen finden, zu denen auch die realistischen
Religionsverständnisse mit ihren erhofften Verewigungen und
damit Vergöttlichungen des nur dadurch als real erwiesenen
Kreatur- oder Personenseins zu rechnen sind. Meister Eckhart spricht
dabei nicht nur nie von einem Gottesreich in der Zeit, in dem
Kreaturen verewigt und vergöttlicht werden, seine strikt
negative Theologie schließt diese Art von Reich und Erlösung
grundsätzlich aus. „Eckhart dechiffriert die
endeschatologischen Aussagen ins Präsentisch-Eschatologische“72.
Der heutige Mensch wähnt sich demnach in einer sehr trügerischen
Sicherheit, die ihn existentiell in genau den (mit einem Bild und
einer falschen Hoffnung „zugedeckten“) „„Abgrund““
führt, den er eigentlich vermeiden will.
Es
zeigt sich, dass nur der Idealismus und die strikt negative Theologie
mit ihren unerkennbaren Absoluten und der damit verbundenen
letztendlichen Erscheinungshaftigkeit des Weltlichen ein
einheitliches Weltbild schaffen kann, während in jedem absolut
verstandenen Realismus die Widersprüche und Gräben nur
vertieft werden. Das ist auch eine, wenn auch indirekte Erkenntnis
einer letztendlichen Wahrheit, d.h. ein einheitliches Weltbild wäre
als größtmögliche Überwindung der Widersprüche
in der Welt praktisch eine Widerspiegelung einer letztendlichen und
darin jenseitigen Einheit in der Welt und darin eine indirekte
Erkenntnis des für uns direkt immer unerkennbar und
unvorstellbar bleibenden jenseitigen Absoluten. Wir in unseren
weltlichen Seins-, Denk- und Vorstellungsstrukturen werden nicht
einmal sicher wissen, ob es dieses jenseitige Absolute überhaupt
gibt, geschweige denn was es ist. Darum ist für Meister Eckhart
dieses jenseitige Absolute „das verborgene Dunkel der ewigen
Gottheit und ist unerkannt und ward nie erkannt und wird nie erkannt
werden“73.
Meister
Eckhart, Die lateinischen Werke Bd. III, hrsg. und
übers von Karl Christ u.a., Stuttgart 1994
Kues,
N.v. Die belehrte Unwissenheit, Buch III, Meiner, Hamburg 1999
Harder,
R. (Übersetzer), Plotins Werke, Bd. Vc, Hamburg 1958
Aster,
E.v. Geschichte der Philosophie, Leipzig 1932
Büchner,
Chr. Gottes Kreatur — "ein reines Nichts"? Einheit
Gottes als Ermöglichung von Geschöpflichkeit und
Personalität im Werk Meister Eckharts, Innsbruck-Wien 2005
Clauss,
M. Alexandria – Schicksale einer antiken Weltstadt,
Stuttgart 2003
Halfwassen,
J. Plotin und der Neuplatonismus, München 2004
Kern,
U. „Gottes Sein ist mein Leben“ - Philosophische
Brocken bei Meister Eckhart, Berlin 2003
Maturana,
H.R./ F.J. Varela, Der Baum der Erkenntnis, München 1987
Quint,
´J. Meister Eckehart - Deutsche Predigten und Traktate -,
Zürich 1979
Ruh,
K. Meister Eckhart – Theologe, Prediger, Mystiker –,
München 1985
Seuse,
H. Das Buch der Wahrheit, hg. v. L. Sturlese, R. Blumrich,
Hamburg 1993
Stirnimann,
H./ R. Imbach, Eckardus Theutonicus, homo doctus et sanctus –
Nachweise und Berichte zum Prozess gegen Meister Eckhart,
Universitätsverlag, Freiburg (Schweiz) 1992
Störig,
H.-J. Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Frankfurt/M. 1988
Welte,
B. Meister Eckhart – Gedanken zu seinen Gedanken,
Neuausgabe Freiburg 1992
1
Meister Eckhart, Die lateinischen Werke Bd. III, hrsg.
und übers von Karl Christ u.a., Stuttgart 1994, S. 4
2
U. Kern, „Gottes Sein ist mein Leben“ -
Philosophische Brocken bei Meister Eckhart, Berlin 2003, S. 1
3
J. Quint, Meister Eckehart - Deutsche Predigten und Traktate -,
Zürich 1979, hinterer Bucheinband
4
Vgl. K. Ruh, Meister Eckhart – Theologe, Prediger, Mystiker
–, München 1985, S. 172-173
5
J. Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, München
2004, S. 152
6
Eckhart, Lateinische Werke III, S. 154-155
7
B. Welte, Meister Eckhart – Gedanken zu seinen Gedanken,
Neuausgabe Freiburg 1992, S. 110 und S. 174
8
M. Clauss, Alexandria – Schicksale einer antiken Weltstadt,
Stuttgart 2003, S. 92
9
Clauss Alexandria, S. 103
10
Halfwassen Plotin, S. 149
11
H.-J. Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie,
Frankfurt/M. 1988, S. 202
12
Quint, Meister Eckehart, Predigt 3, S. 165
13
Quint, Meister Eckehart, Pred. 2, S. 163
14
Halfwassen Plotin, S. 149
15
Vgl. Halfwassen Plotin, S. 13
16
R. Harder (Übersetzer), Plotins Werke, Bd. Vc, Hamburg
1958, S. 7
17
Vgl. Halfwassen Plotin, S. 142
18
Vgl. Halfwassen Plotin, S. 149
19
Halfwassen Plotin, S. 149
20
ebd.
21
ebd.
22
Halfwassen Plotin, S. 152
23
Vgl. Halfwassen Plotin, S. 165
24
Halfwassen Plotin, S. 167
25
Halfwassen Plotin, S. 171
26
ebd.
27
Halfwassen Plotin, S. 151
28
ebd.
29
Halfwassen Plotin, S. 157
30
ebd.
31
Halfwassen Plotin, S. 158
32
Halfwassen Plotin, S. 89
33
Halfwassen Plotin, S. 158
34
Halfwassen Plotin, S. 139
35
ebd.
36
Halfwassen Plotin, S. 161
37
ebd.
38
Halfwassen Plotin, S. 45
39
ebd.
40
Halfwassen Plotin, S. 49
41
Halfwassen Plotin, S. 43
42
ebd.
43
Quint, Meister Eckehart, Pred. 2, S. 164
44
Quint, Meister Eckehart, Pred. 36, S. 325
45
Quint, Meister Eckehart, Pred. 10, S. 196
46
Störig Weltgeschichte, S. 213
47
E.v. Aster, Geschichte der Philosophie, Leipzig 1932, S. 102
48
Chr. Büchner, Gottes Kreatur — "ein reines
Nichts"? Einheit Gottes als Ermöglichung von
Geschöpflichkeit und Personalität im Werk Meister
Eckharts, Innsbruck-Wien 2005, S. 499
49
Büchner Nichts, S. 316
50
Quint, Meister Eckehart, Pred. 7, S. 186
51
Quint, Meister Eckehart, Pred. 42, S. 354
52
H. Seuse, Das Buch der Wahrheit, hg. v. L. Sturlese, R.
Blumrich, Hamburg 1993, S. 5
53
Seuse Wahrheit, S. 7-9
54
Vgl. Quint, Meister Eckehart, Pred. 14, S. 219
55
Quint, Meister Eckehart, Pred. 42, S. 355
56
Quint, Meister Eckehart, Pred. 6, S. 178
57
N. v. Kues, Die belehrte Unwissenheit Buch
III, Meiner 1999, S. 57-59
58
v. Kues Unwissenheit, S. 59
59
v. Kues Unwissenheit, S. 59
60
Halfwassen Plotin, S. 149
61
Eckhart, Lateinische Werke III, S. 4
62
Eckhart, Lateinische Werke III, S. 155
63
Eckhart, Lateinische Werke III, S. 154-155
64
Halfwassen Plotin, S. 151
65
Vgl. Halfwassen Plotin, S. 164
66
H. Stirnimann, R. Imbach, Eckardus Theutonicus, homo doctus et
sanctus – Nachweise und Berichte zum Prozess gegen Meister
Eckhart, Universitätsverlag Freiburg Schweiz 1992, S.
290-291
67
Stirnimann/Imbach Eckardus, S. 292
68
Halfwassen Plotin, S. 9
69
bild der wissenschaft 8/2004, S. 40
70
ebd.
71
H.R. Maturana/ F.J. Varela, Der Baum der Erkenntnis, München
1987, S. 259
72
Kern, Gottes Sein, S. 244
73
Quint, Meister Eckehart, Pred. 23, S. 261
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