Erschienen in Ausgabe: No 64 (6/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Nathan Warszawski
Der 18. Mai 2011, der Tag, an dem deutsche Soldaten in mehr
oder weniger Notwehr mehr oder weniger friedliche oder feindliche einheimische
Demonstranten verletzt und getötet haben, sollte den Abzug deutscher Soldaten
aus Afghanistan einleiten, auch wenn bisher die üblichen Pazifisten, Experten und
Moralisten mehr oder weniger überraschend leise treten oder schweigen.
Was könnten die Ursachen für einen plötzlichen und
vorzeitigen Abzug sein?
Analysieren wir als Einstiegshilfe den unvorhersehbaren
Ausstieg aus der Kernenergie. Ein Tsunami in Japan erzwingt die Energiewende in
Deutschland. Hätte sich dieser Tsunami nicht ereignet, würden die Politiker
weiterhin über Laufzeitverlängerungen der AKWs diskutieren.
Hätte der Tsunami Fukushima Monate später getroffen, so wäre
der Ausstieg aus der Kernenergie Monate später erfolgt.
Hätte der Tsunami eine menschenleere, AKW-lose Insel im
Pazifik zerstört, so wäre der Ausstieg aus der Kernenergie nicht erfolgt.
Der Ausstieg aus der Kernenergie erfolgte auf Grund eines
unvorhersehbaren Ereignisses: ein Beispiel, welches die Chaos-Theorie
bestätigt.
Nun hat der Tsunami in Fukushima die Energiewende in
Deutschland bewirkt, in anderen Ländern ist der hinterlassene Eindruck geringer,
nicht nachweisbar.
Was zeichnet Deutschland von der übrigen Welt aus?
Die Bereitschaft zum AKW-Ausstieg war vorhanden. Es bedurfte
lediglich eines Anstoßes von außen.
Warum misstraut die schweigende Mehrheit in Deutschland (und
in Österreich) den Atomkraftwerken, während Franzosen, Belgier, Tschechen,
Amerikaner, Russen, Chinesen und selbst Japaner und Ukrainer keine Antipathie
empfinden?
Nun darf angenommen werden, dass Deutsche in Verhalten,
Glauben, Kultur und Zivilisation nicht grundsätzlich von ihren Nachbarn
verschieden sind. Sie verfügen (mit den Österreichern) lediglich über eine gesonderte
Historie. Liegt hierin der Schlüssel? Der Versuch soll es wert sein, es
herauszufinden.
Deutschland hat den Zweiten Weltkrieg und ein Drittel seines
Territoriums verloren. 40 Jahre war das Land geteilt. Die fleißigen,
technikbegeisterten Deutschen haben ein Wirtschaftswunder bewirkt, welches
ihnen half, die Schuld an den unaussprechlichen Bestialitäten während der
Naziherrschaft zu verdrängen. Irgendwann wurden die Deutschen satt und das
Verdrängte meldete sich zurück.
Solange die Bundeswehr von den Siegermächten kontrolliert
wurde, fand sich in Deutschland kein Grund, über den Pazifismus nachzudenken.
Mit steigender wirtschaftlicher Macht und nach der Wiedervereinigung mussten
die Deutschen sich bekennen. Sie bekannten sich zum Pazifismus und töteten, um
Kosovaren zu retten, aus hoher Höhe vom Flugzeug aus serbische Zivilisten.
Diese Schizophrenie setzt sich in Afghanistan fort. Auch die Absage an die
Verbündeten, sich am Krieg in Libyen zu beteiligen, basiert auf unverarbeitete
Verdrängung. Und nirgendwo anders wurde der Tod eines Top-Terroristen derart
moralisch und tiefenpsychologisch in allen Facetten gedreht und gewendet wie in
Deutschland.
Zusätzlich mussten die Deutschen, wie auch andere Europäer,
erkennen, dass sie wegen Geburtenrückgang ihren luxuriösen Lebensstil nicht
halten konnten, wenn sie nicht fremde Arbeiter ins Land holten. Doch ihr
nationales Denken verbietet es ihnen, sich als Einwanderungsland zu verstehen.
Deshalb müssen die zum Luxuserhalt notwendigen Ausländer eingedeutscht,
integriert werden. Die Schwierigkeiten, unter denen Menschen bestimmter
Kulturen darunter leiden, werden nicht realisiert.
Bedingt durch Einwanderung, Wiedervereinigung,
Globalisierung und Arbeitsverdichtung haben sich die deutschen Werte
verschoben. Konnte man früher seine Uhr nach dem Zug stellen, so freut man sich
heute, wenn der Zug überhaupt kommt. Waren früher die CDU konservativ und die
SPD progressiv, so sind heute die politischen Unterschiede zwischen ihnen und
den Grünen verschwunden. War früher Sparen eine Tugend, so ist seit Einführung
des € und der Bankenkrise Sparen eine Dummheit. Stritt man sich früher über
politischen Proporz zwischen Protestanten und Katholiken, so sind die meisten
Deutschen heute Atheisten oder Agnostiker und gestritten wird, ob der Islam zu
Deutschland gehört.
Essentielle Veränderungen wechseln sich im rasenden Tempo
ab, ihre Geltungsdauer geht rapide zurück.
Ein chaotisches Ereignis in Form eines Tsunami auf der
anderen Seite des Globus trifft auf eine Bevölkerung, die ihre Vergangenheit
verdrängt, zur Schizophrenie neigt, unter Identitäts- und Werteverlust leidet,
mit der Geschwindigkeit der Werteveränderungen nicht Schritt halten kann und
den AKW-Ausstieg wünscht. Das Ergebnis: Das Volk wendet sich gegen
Atomkraftwerke, die abgeschaltet werden.
Auf die gleiche Konstellation trifft ein weiteres
chaotisches Ereignis, diesmal in Form eines militärischen Einsatzes mit
tödlichem Ausgang gegen zivile Demonstranten. Die deutsche Armee, die keinen
Krieg führen will, die den Anspruch hat, den Frieden zu sichern, erschießt nach
deutschem Verständnis wehrlose Demonstranten, und das Deutsche Volk schweigt!
Keine Friedensmärsche, keine parlamentarischen Sondersitzungen, business as
usual.
Obwohl das Volk in seiner Mehrheit seit Jahren den
militärischen Abzug fordert, schweigt die Republik in einem selten günstigen
Augenblick für die Bundeswehr, Afghanistan den Rücken zu kehren.
Welche Ereignisse hindern die Bundeswehr, Afghanistan zu
verlassen?
Die Erschießung von Demonstranten fand nach Ostern statt.
Ostermärsche finden an Ostern statt.
Zwischenzeitlich wurde der für den Krieg verantwortliche
Terrorist bin Laden liquidiert.
Die Bundeswehr ist keine Volksarmee mehr.
Das erste Argument erklärt das Fehlen von Friedenmärschen,
nicht das Schweigen der Pazifisten.
Das zweite Argument spricht für einen baldigen Abzug der
Bundeswehr aus Afghanistan, es sei denn, dass ohne bin Laden die Situation in
Afghanistan sicherer, also für die Bundeswehr ungefährlicher geworden ist. Das
Erschießen wehrloser Demonstranten fällt somit weniger ins Gewicht.
Das dritte, dass die Bundeswehr nun eine Berufsarmee ist,
ist das gewichtigste Argument. Pazifisten wenden ihre Blicke von Untaten der
Freiwilligen-Armee genauso ab, wie sie die Unterstützung des Irans beim Bau von
Atomreaktoren durch deutsche Firmen nicht beachten oder wie sie nicht erkennen
wollen, wenn Regimegegner in arabischen Diktaturen mit Hilfe deutscher
Rüstungsexporte ermordet werden.
Solange Deutschland nicht die richtigen Konsequenzen aus
seiner Vergangenheit ziehen kann, wird es ethisch und moralisch falsch handeln
müssen. Und somit hat die Bundeswehr den günstigen Moment verpasst, sich aus
Afghanistan zurückzuziehen.
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