Erschienen in Ausgabe: No. 33 (3/2008) | Letzte Änderung: 19.06.11 |
Der Privatisierungswahn ist an sein Ende gekommen. Nicht der Markt, sondern die Politik ist für das Gemeinwohl zuständig: Ein Gespräch mit dem Philosophen Jürgen Habermas über die Notwendigkeit einer internationalen Weltordnung
von Jürgen Habermas
DIE ZEIT: Herr Habermas, das internationale Finanzsystem
ist kollabiert, es droht eine Weltwirtschaftskrise. Was beunruhigt Sie am
meisten?
Jürgen Habermas: Was mich am meisten beunruhigt, ist die
himmelschreiende soziale Ungerechtigkeit, die darin besteht, dass die
sozialisierten Kosten des Systemversagens die verletzbarsten sozialen Gruppen
am härtesten treffen. Nun wird die Masse derer, die ohnehin nicht zu den
Globalisierungsgewinnern gehören, für die realwirtschaftlichen Folgen einer
vorhersehbaren Funktionsstörung des Finanzsystems noch einmal zur Kasse
gebeten. Und dies nicht wie die Aktienbesitzer in Geldwerten, sondern in der
harten Währung ihrer alltäglichen Existenz. Auch im globalen Maßstab vollzieht
sich dieses strafende Schicksal an den ökonomisch schwächsten Ländern. Das ist
der politische Skandal. Jetzt mit dem Finger auf Sündenböcke zu zeigen, halte
ich allerdings für Heuchelei. Auch die Spekulanten haben sich im Rahmen der
Gesetze konsequent nach der gesellschaftlich anerkannten Logik der
Gewinnmaximierung verhalten. Die Politik macht sich lächerlich, wenn sie
moralisiert, statt sich auf das Zwangsrecht des demokratischen Gesetzgebers zu
stützen. Sie und nicht der Kapitalismus ist für die Gemeinwohlorientierung
zuständig.
ZEIT: Sie haben gerade Vorlesungen an der Universität Yale
gehalten. Was waren für Sie die eindrücklichsten Bilder dieser Krise?
Habermas: Über die Bildschirme flimmerte die hoppersche
Melancholie der Endlosschleife langer Reihen verlassener Häuschen in Florida
und anderswo – mit dem Schild »Foreclosure« im Vorgarten. Anschließend
die Busse mit den neugierigen Kaufinteressenten aus Europa und den Reichen aus
Lateinamerika, und dann der Makler, der ihnen im Schlafzimmer die aus Wut und
Verzweiflung zerstörten Wandschränke zeigt. Nach meiner Rückkehr hat mich
überrascht, wie sehr sich die aufgeregte Stimmung in den USA vom gleichmütigen
business as usual hierzulande unterscheidet. Dort verbanden sich die höchst
realen wirtschaftlichen Ängste mit der heißen Endphase eines der
folgenreichsten Wahlkämpfe. Die Krise hat auch den breiten Wählerschichten ihre
persönliche Interessenlage schärfer zu Bewusstsein gebracht. Sie nötigte die
Leute nicht notwendig zu vernünftigeren, aber zu rationaleren Entscheidungen –
jedenfalls im Vergleich zur letzten, durch Nine-Eleven ideologisch
aufgeputschten Präsidentschaftswahl. Diesem zufälligen Zusammentreffen wird
Amerika, wie ich unmittelbar vor der Wahl anzunehmen wage, den ersten schwarzen
Präsidenten verdanken – und damit einen tiefen historischen Einschnitt in der
Geschichte seiner politischen Kultur. Darüber hinaus könnte aber die Krise auch
in Europa einen Wechsel der politischen Großwetterlage ankündigen.
ZEIT: Was meinen Sie damit?
Habermas: Solche Gezeitenwechsel verändern die Parameter
der öffentlichen Diskussion; damit verschiebt sich das Spektrum der für möglich
gehaltenen politischen Alternativen. Mit dem Koreakrieg ging die Periode des
New Deal zu Ende, mit Reagan und Thatcher und dem Abflauen des Kalten Krieges
die Zeit der sozialstaatlichen Programme. Und heute ist mit dem Ende der
Bush-Ära und dem Zerplatzen der letzten neoliberalen Sprechblasen auch die
Programmatik von Clinton und New Labour ausgelaufen. Was kommt jetzt? Ich
hoffe, dass die neoliberale Agenda nicht mehr für bare Münze genommen, sondern
zur Disposition gestellt wird. Das ganze Programm einer hemmungslosen
Unterwerfung der Lebenswelt unter Imperative des Marktes muss auf den
Prüfstand.
ZEIT: Für Neoliberale ist der Staat nur ein Mitspieler auf
dem ökonomischen Feld. Er soll sich kleinmachen. Ist dieses Denken nun
diskreditiert?
Habermas: Das hängt vom Verlauf der Krise ab, von der
Wahrnehmungsfähigkeit der politischen Parteien, von den öffentlichen Themen. In
der Bundesrepublik herrscht ja noch eine eigentümliche Windstille. Blamiert hat
sich die Agenda, die Anlegerinteressen eine rücksichtslose Dominanz einräumt,
die ungerührt wachsende soziale Ungleichheit, das Entstehen eines Prekariats,
Kinderarmut, Niedriglöhne und so weiter in Kauf nimmt, die mit ihrem
Privatisierungswahn Kernfunktionen des Staates aushöhlt, die die deliberativen
Reste der politischen Öffentlichkeit an renditesteigernde Finanzinvestoren
verscherbelt, Kultur und Bildung von den Interessen und Launen konjunkturempfindlicher
Sponsoren abhängig macht.
ZEIT: Und nun, in der Finanzkrise, werden die Folgen des
Privatisierungswahns sichtbar?
Habermas: In den USA verschärft die Krise die schon jetzt
sichtbaren materiellen und moralischen, sozialen und kulturellen Schäden einer
von Bush auf die Spitze getriebenen Politik der Entstaatlichung. Die
Privatisierung der Alters- und Gesundheitsvorsorge, des öffentlichen Verkehrs,
der Energieversorgung, des Strafvollzuges, militärischer Sicherungsaufgaben,
weiter Bereiche der Schul- und Universitätsausbildung und das Ausliefern der
kulturellen Infrastruktur von Städten und Gemeinden an das Engagement und die
Großherzigkeit privater Stifter gehören zu einem Gesellschaftsdesign, das in
seinen Risiken und Auswirkungen mit den egalitären Grundsätzen eines sozialen
und demokratischen Rechtsstaates schlecht zusammenpasst.
ZEIT: Staatliche Bürokratien können einfach nicht rentabel
wirtschaften.
Habermas: Aber es gibt verletzbare Lebensbereiche, die wir
den Risiken der Börsenspekulation nicht aussetzen dürfen; dem widerspricht die
Umstellung der Altersversorgung auf Aktien. Im demokratischen Verfassungsstaat
gibt es auch öffentliche Güter wie die unverzerrte politische Kommunikation,
die nicht auf die Renditeerwartungen von Finanzinvestoren zugeschnitten werden
dürfen. Das Informationsbedürfnis von Staatsbürgern kann nicht von der
konsumreifen Häppchenkultur eines flächendeckenden Privatfernsehens befriedigt
werden.
ZEIT: Haben wir es, um ein kontrovers diskutiertes Buch von
Ihnen zu zitieren, mit einer »Legitimationskrise des Kapitalismus« zu tun?
Habermas: Seit 1989/90 gibt es kein Ausbrechen mehr aus dem
Universum des Kapitalismus; es kann nur um eine Zivilisierung und Zähmung der
kapitalistischen Dynamik von innen gehen. Schon während der Nachkriegszeit war
die Sowjetunion für die Masse der westeuropäischen Linken keine Alternative.
Deswegen habe ich 1973 von Legitimationsproblemen »im« Kapitalismus gesprochen.
Und die stehen wieder, je nach nationalem Kontext mehr oder weniger dringlich,
auf der Tagesordnung. Ein Symptom sind die Forderungen nach Begrenzung der
Managergehälter oder nach Abschaffung der golden parachutes, der
unsäglichen Abfindungen und Bonuszahlungen.
ZEIT: Das ist doch Politik fürs Schaufenster. Im nächsten
Jahr sind Wahlen.
Habermas: Stimmt, das ist natürlich symbolische Politik und
eignet sich zum Ablenken vom Versagen der Politiker und ihrer
wirtschaftswissenschaftlichen Berater. Die wussten seit Langem über den
Regelungsbedarf der Finanzmärkte Bescheid. Ich habe mir gerade Helmut Schmidts
glasklaren Artikel Beaufsichtigt die neuen Großspekulanten! vom
Februar 2007 noch einmal durchgelesen (ZEIT Nr. 6/07). Alle wussten
es. Aber in Amerika und Großbritannien haben die politischen Eliten die
ungezügelte Spekulation, solange es eben gut ging, für nützlich gehalten. Und
auf dem europäischen Kontinent hat man sich dem Washington-Konsens gebeugt.
Auch hier gab es eine breite Koalition der Willigen, für die Herr Rumsfeld
nicht zu werben brauchte.
ZEIT: Der Washington-Konsens war das berühmt-berüchtigte
Wirtschaftskonzept von IWF und Weltbank aus dem Jahr 1990, mit dem zuerst
Lateinamerika und dann die halbe Welt reformiert werden sollte. Seine zentrale
Botschaft lautete: Trickle down. Lasst die Reichen reicher werden,
dann sickert der Wohlstand schon zu den Armen.
Habermas: Seit vielen Jahren häufen sich die empirischen
Belege dafür, dass diese Prognose falsch ist. Die Effekte der
Wohlstandssteigerung sind national und weltweit so asymmetrisch verteilt, dass
sich die Armutszonen vor unser aller Augen ausgebreitet haben.
ZEIT: Um etwas Vergangenheitsbewältigung zu betreiben:
Warum ist der Wohlstand so ungleich verteilt? Hat das Ende der kommunistischen
Bedrohung den westlichen Kapitalismus enthemmt?
Habermas: Mit dem nationalstaatlich beherrschten, durch
keynesianische Wirtschaftspolitiken eingehegten Kapitalismus, der ja den
OECD-Ländern einen aus historischer Sicht unvergleichlichen Wohlstand beschert
hat, war es schon früher am Ende – nach der Preisgabe des Systems der festen
Wechselkurse und dem Ölschock. Die ökonomische Lehre der Chicago-Schule ist
bereits unter Reagan und Thatcher zur praktischen Gewalt geworden. Das hat sich
unter Clinton und New Labour – auch während der Ministerzeit unseres jüngsten
Helden Gordon Brown – nur fortgesetzt. Allerdings hat der Zusammenbruch der
Sowjetunion im Westen einen fatalen Triumphalismus ausgelöst. Das Gefühl,
weltgeschichtlich recht bekommen zu haben, übt eine verführerische Wirkung aus.
In diesem Fall hat es eine wirtschaftspolitische Lehre zu einer Weltanschauung
aufgebläht, die alle Lebensbereiche penetriert.
ZEIT: Der Neoliberalismus ist eine Lebensform. Alle Bürger
sollen zu Unternehmern und zu Kunden werden…
Habermas: …und zu Konkurrenten. Der Stärkere, der sich in
der freien Wildbahn der Konkurrenzgesellschaft durchsetzt, darf sich diesen
Erfolg als persönliches Verdienst anrechnen lassen. Es ist von abgründiger
Komik, wie Wirtschaftsmanager – und nicht nur die – dem Elitegeschwätz unserer
Talkrunden auf den Leim gehen, sich allen Ernstes als Vorbilder feiern lassen
und mental den Rest der Gesellschaft unter sich lassen. Als könnten sie nicht
mehr unterscheiden zwischen funktionalen und
ehrpusselig-ständegesellschaftlichen Eliten. Was, bitte, soll am Charakter von
Leuten in Führungspositionen, die ihre Arbeit halbwegs ordentlich tun,
exemplarisch sein? Ein weiteres Alarmzeichen war die Bush-Doktrin vom Herbst
2002, die die Irakinvasion vorbereitet hat. Das sozialdarwinistische Potenzial
des Marktfundamentalismus hat sich seitdem nicht mehr nur in der
Gesellschaftspolitik, sondern auch in der Außenpolitik entfaltet.
ZEIT: Aber es war ja nicht Bush allein. Ihm stand eine
erstaunliche Schar einflussreicher Intellektueller zur Seite.
Habermas: Und viele haben nichts hinzugelernt. Bei Vordenkern
wie Robert Kagan tritt nach dem Irakdesaster das Denken in Carl Schmittschen
Wolfs-Kategorien noch deutlicher hervor. Den regressiven Absturz der
Weltpolitik in ein atomar bewaffnetes, hochbrisantes Machtgerangel kommentiert
er heute mit den Worten: »Die Welt ist wieder normal geworden.«
ZEIT: Aber noch einmal zurück: Was wurde nach 1989
versäumt? Ist das Kapital schlicht zu mächtig geworden gegenüber der Politik?
Habermas: Mir ist im Laufe der neunziger Jahre klar
geworden, dass die politischen Handlungskapazitäten den Märkten auf
supranationaler Ebene nachwachsen müssen. Danach sah es ja auch in den frühen
neunziger Jahren zunächst aus. George Bush der Ältere sprach programmatisch von
einer Neuen Weltordnung und schien auch die lange Zeit blockierten – und
verächtlich gemachten! – Vereinten Nationen in Anspruch nehmen zu wollen. Die
vom Sicherheitsrat beschlossenen humanitären Interventionen stiegen zunächst
sprunghaft an. Der politisch gewollten wirtschaftlichen Globalisierung hätten
eine weltweite politische Koordination und die weitere Verrechtlichung der
internationalen Beziehungen folgen sollen. Aber die ersten ambivalenten Ansätze
sind schon unter Clinton stecken geblieben. Dieses Defizit bringt die
gegenwärtige Krise wieder zu Bewusstsein. Seit den Anfängen der Moderne müssen
Markt und Politik immer wieder so ausbalanciert werden, dass das Netz der
solidarischen Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer politischen
Gemeinschaft nicht reißt. Eine Spannung zwischen Kapitalismus und Demokratie
bleibt immer bestehen, weil Markt und Politik auf gegensätzlichen Prinzipien
beruhen. Auch nach dem letzten Globalisierungsschub verlangt die Flut der in
komplexer gewordenen Netzwerken freigesetzten dezentralisierten
Wahlentscheidungen nach Regelungen, die es ohne eine entsprechende Erweiterung
von politischen Verfahren der Interessenverallgemeinerung nicht geben kann.
ZEIT: Aber was heißt das? Sie halten an Kants
Kosmopolitismus fest und nehmen die von Carl Friedrich von Weizsäcker ins Spiel
gebrachte Idee einer Weltinnenpolitik auf. Mit Verlaub, das klingt ziemlich
illusionär. Man muss sich doch nur den Zustand der Vereinten Nationen
anschauen.
Habermas: Selbst eine gründliche Reform der
Kerninstitutionen der Vereinten Nationen wäre nicht ausreichend. Gewiss, der
Sicherheitsrat, das Sekretariat, die Gerichtshöfe, überhaupt die Kompetenzen
und Verfahren dieser Institutionen müssten dringend für eine globale
Durchsetzung des Gewaltverbots und der Menschenrechte fit gemacht werden – für
sich genommen schon eine immense Aufgabe. Aber selbst wenn sich die UN-Charta
zu einer Art Verfassung der internationalen Gemeinschaft entwickeln ließe,
fehlte in diesem Rahmen immer noch ein Forum, auf dem sich die bewaffnete
Machtpolitik der Weltmächte in institutionalisierte Verhandlungen über die
regelungsbedürftigen Probleme der Weltwirtschaft, der Klima- und Umweltpolitik,
der Verteilung umkämpfter Energieressourcen, knapper Trinkwasserbestände und so
weiter verwandelt. Auf dieser transnationalen Ebene entstehen
Verteilungsprobleme, die nicht in derselben Art wie Menschenrechtsverstöße oder
Verletzungen der internationalen Sicherheit – letztlich als Straftatbestände –
entschieden werden können, sondern politisch ausgehandelt werden müssen.
ZEIT: Dafür gibt es doch schon eine bewährte Einrichtung:
die G8.
Habermas: Das ist ein exklusiver Club, in dem einige dieser
Fragen unverbindlich besprochen werden. Zwischen den überspannten Erwartungen,
die sich an diese Inszenierungen knüpfen, und dem dürftigen Ertrag der folgenlosen
Medienspektakel besteht übrigens ein verräterisches Missverhältnis. Der
illusionäre Erwartungsdruck zeigt, dass die Bevölkerungen die ungelösten
Probleme einer künftigen Weltinnenpolitik sehr wohl wahrnehmen – und vielleicht
stärker empfinden als ihre Regierungen.
ZEIT: Die Rede von »Weltinnenpolitik« klingt eher nach den
Träumen eines Geistersehers.
Habermas: Noch gestern hätten es die meisten für
unrealistisch gehalten, was heute passiert: Die europäischen und asiatischen
Regierungen überbieten sich im Hinblick auf die fehlende Institutionalisierung
der Finanzmärkte mit Regulierungsvorschlägen. Auch SPD und CDU machen
Vorschläge zu Bilanzpflicht und Eigenkapitalbildung, zur persönlichen Haftung
der Manager, zur Verbesserung der Transparenz, der Börsenaufsicht und so
weiter. Von einer Börsenumsatzsteuer, die schon ein Stück globaler
Steuerpolitik wäre, ist freilich nur gelegentlich die Rede. Die vollmundig
angestrebte neue »Architektur des Finanzsystems« wird gegen Widerstände aus den
USA ohnehin nicht einfach durchzusetzen sein. Aber ob sie angesichts der
Komplexität dieser Märkte und der weltweiten Interdependenz der wichtigsten
Funktionssysteme überhaupt genügen würde? Völkerrechtliche Verträge, an die die
Parteien heute denken, können jederzeit aufgekündigt werden. Daraus entsteht
noch kein wetterfestes Regime.
ZEIT: Selbst wenn dem Weltwährungsfonds neue Kompetenzen
übertragen würden, wäre das noch keine Weltinnenpolitik.
Habermas: Ich will keine Voraussagen machen. Angesichts der
Probleme können wir bestenfalls konstruktive Überlegungen anstellen. Die
Nationalstaaten müssten sich zunehmend, und zwar im eigenen Interesse, als
Mitglieder der internationalen Gemeinschaft verstehen. Das ist das dickste
Brett, das in den nächsten Jahrzehnten zu bohren wäre. Wenn wir mit dem Blick
auf diese Bühne von »Politik« reden, meinen wir oft noch das Handeln von
Regierungen, die das Selbstverständnis von souverän entscheidenden kollektiven
Akteuren geerbt haben. Doch dieses Selbstverständnis eines Leviathan, das sich
seit dem 17. Jahrhundert zusammen mit dem europäischen Staatensystem entwickelt
hat, ist schon heute nicht mehr ungebrochen. Was wir bis gestern »Politik«
nannten, ändert täglich seinen Aggregatzustand.
ZEIT: Aber wie passt das zum Sozialdarwinismus, der sich,
wie Sie sagen, seit Nine-Eleven in der Weltpolitik wieder breitmacht?
Habermas: Vielleicht sollte man einen Schritt zurücktreten
und auf einen größeren Zusammenhang schauen. Seit dem späten 18. Jahrhundert
haben Recht und Gesetz die politisch verfasste Regierungsgewalt durchdrungen
und ihr im Binnenverkehr den substanziellen Charakter einer bloßen »Gewalt«
abgestreift. Nach außen hat sie sich von dieser Substanz allerdings genug
bewahrt – trotz des wuchernden Geflechts von internationalen Organisationen und
der zunehmenden Bindungskraft des internationalen Rechts. Dennoch ist der
nationalstaatlich geprägte Begriff des »Politischen« im Fluss. Innerhalb der
Europäischen Union haben beispielsweise die Mitgliedstaaten nach wie vor das
Gewaltmonopol inne und setzen gleichwohl das Recht, das auf supranationaler
Ebene beschlossen wird, mehr oder weniger klaglos um. Dieser Formwandel von
Recht und Politik hängt auch mit einer kapitalistischen Dynamik zusammen, die
sich als ein Wechselspiel von funktional erzwungener Öffnung und
sozialintegrativer Schließung auf jeweils höherem Niveau beschreiben lässt.
ZEIT: Der Markt sprengt die Gesellschaft auf, und der
Sozialstaat schließt sie wieder?
Habermas: Der Sozialstaat ist eine späte und, wie wir
erfahren, fragile Errungenschaft. Die expandierenden Märkte und
Kommunikationsnetze hatten immer schon eine aufsprengende, für den einzelnen
Bürger zugleich individualisierende und befreiende Kraft; darauf ist aber stets
eine Reorganisation der alten Solidarverhältnisse in einem erweiterten
institutionellen Rahmen erfolgt. Dieser Prozess hat in der frühen Moderne
begonnen, als die hochmittelalterlichen Herrschaftsstände in den neuen
Territorialstaaten schrittweise parlamentarisiert – Beispiel England – oder –
Beispiel Frankreich – durch absolutistische Könige mediatisiert worden sind.
Der Vorgang hat sich im Gefolge der Verfassungsrevolutionen des 18. und 19.
Jahrhunderts und der Sozialstaatsgesetzgebungen des 20. Jahrhunderts
fortgesetzt. Diese rechtliche Zähmung des Leviathan und des Klassenantagonismus
war keine einfache Sache. Aber aus denselben funktionalen Gründen weist die
gelungene Konstitutionalisierung von Staat und Gesellschaft heute, nach dem
weiteren Schub der wirtschaftlichen Globalisierung, in die Richtung einer
Konstitutionalisierung des Völkerrechts und der zerrissenen Weltgesellschaft.
ZEIT: Welche Rolle spielt Europa in diesem optimistischen
Szenario?
Habermas: Eine andere als die, die es in der Krise
tatsächlich gespielt hat. Ich verstehe nicht ganz, warum das Krisenmanagement
der Europäischen Union so gelobt wird. Gordon Brown konnte mit seiner
denkwürdigen Entscheidung den amerikanischen Finanzminister Paulson zu einer
Kehrtwende in der Interpretation des mühsam beschlossenen bailout
bewegen, weil er über den französischen Präsidenten und gegen das anfängliche
Widerstreben von Merkel und Steinbrück die wichtigsten Spieler der Euro-Zone an
Bord geholt hat. Man muss sich diesen Verhandlungsprozess und dessen Ergebnis
nur genau anschauen. Es waren doch die drei mächtigsten in der EU vereinten
Nationalstaaten, die als souverän handelnde Akteure vereinbart haben, ihre
jeweils verschiedenen, aber gleichgerichteten Maßnahmen zu koordinieren. Trotz
der Anwesenheit der Herren Juncker und Barroso hat das Zustandekommen dieser
internationalen Vereinbarung klassischen Stils kaum etwas mit einer gemeinsamen
politischen Willensbildung der Europäischen Union zu tun. Die New York
Times hat denn auch die europäische Unfähigkeit zu einer gemeinsamen
Wirtschaftspolitik nicht ohne eine gewisse Häme registriert.
ZEIT: Und worauf führen Sie diese Unfähigkeit zurück?
Habermas: Der weitere Verlauf der Krise macht ja den Makel
der europäischen Konstruktion offenbar: Jedes Land reagiert mit eigenen wirtschaftspolitischen
Maßnahmen. Weil die Kompetenzen in der Union, vereinfacht gesagt, so verteilt
sind, dass Brüssel und der Europäische Gerichtshof die Wirtschaftsfreiheiten
durchsetzen, während die dadurch entstehenden externen Kosten auf die Mitgliedsländer
abgewälzt werden, gibt es heute keine gemeinsame wirtschaftspolitische
Willensbildung. Die wichtigsten Mitgliedstaaten sind schon über die Grundsätze,
wie viel Staat und wie viel Markt man überhaupt will, zerstritten. Und jedes
Land betreibt seine eigene Außenpolitik, allen voran die Bundesrepublik. Die
Berliner Republik vergisst bei aller sanften Diplomatie die Lehren, die die
alte Bundesrepublik aus der Geschichte gezogen hatte. Die Regierung reckt sich
mit Wohlgefallen in ihrem seit 1989/90 erweiterten außenpolitischen
Handlungsspielraum und fällt zurück ins bekannte Muster der nationalen
Machtspiele zwischen Staaten, die doch längst auf das Format von
Duodezfürstentümern geschrumpft sind.
ZEIT: Und was sollten diese Duodezfürsten tun?
Habermas: Sie fragen mich nach meiner Wunschliste? Da ich
die abgestufte Integration nach Lage der Dinge für den einzig möglichen Weg zu
einer handlungsfähigen Europäischen Union halte, bietet sich Sarkozys Vorschlag
zu einer Wirtschaftsregierung der Euro-Zone als Anknüpfungspunkt an. Das
bedeutet ja nicht, dass man sich damit schon auf die etatistischen
Hintergrundannahmen und protektionistischen Absichten ihres Initiators
einlassen würde. Verfahren und politische Ergebnisse sind zweierlei. Der
»engeren Zusammenarbeit« auf wirtschaftspolitischem Gebiet würde dann eine in
der Außenpolitik folgen müssen. Und beides könnte nicht länger über die Köpfe
der Bevölkerungen hinweg ausgekungelt werden.
ZEIT: Das unterstützt ja nicht einmal die SPD.
Habermas: Die SPD-Führung überlässt es dem Christdemokraten
Jürgen Rüttgers, dem »Arbeiterführer« an Rhein und Ruhr, in diese Richtung zu
denken. In ganz Europa stehen die sozialdemokratischen Parteien mit dem Rücken
zur Wand, weil sie bei schrumpfenden Einsätzen Nullsummenspiele betreiben
müssen. Warum ergreifen sie nicht die Chance, aus ihren nationalstaatlichen
Käfigen auszubrechen und sich auf europäischer Ebene neue Handlungsspielräume
zu erschließen? Auch gegenüber einer regressiven Konkurrenz von links könnten
sie sich so profilieren. Was immer heute »links« und »rechts« bedeuten mag, nur
gemeinsam könnten die Euro-Länder ein weltpolitisches Gewicht erlangen, das
ihnen eine vernünftige Einflussnahme auf die Agenda der Weltwirtschaft erlaubt.
Sonst liefern sie sich als Onkel Sams Pudel an eine ebenso gefährliche wie
chaotische Weltlage aus.
ZEIT: Stichwort Onkel Sam – Sie müssten doch von den USA
tief enttäuscht sein. Für Sie waren die USA das Zugpferd der neuen Weltordnung.
Habermas: Was bleibt uns anderes übrig, als auf dieses Zugpferd
zu setzen? Die USA werden aus der jetzigen Doppelkrise geschwächt hervorgehen.
Aber sie bleiben einstweilen die liberale Supermacht und befinden sich in einer
Lage, die es ihnen nahelegt, das neokonservative Selbstverständnis des
paternalistischen Weltbeglückers gründlich zu revidieren. Der weltweite Export
der eigenen Lebensform entsprang dem falschen, dem zentrierten Universalismus
alter Reiche. Die Moderne zehrt demgegenüber von dem dezentrierten
Universalismus der gleichen Achtung für jeden. Es liegt im eigenen Interesse
der USA, nicht nur ihre kontraproduktive Einstellung gegenüber den Vereinten
Nationen aufzugeben, sondern sich an die Spitze der Reformbewegung zu setzen.
Historisch gesehen, bietet das Zusammentreffen von vier Faktoren – Supermacht,
älteste Demokratie auf Erden, Amtsantritt eines, wie ich hoffe, liberalen und
visionären Präsidenten sowie eine politische Kultur, in der normative
Orientierungen einen bemerkenswerten Resonanzboden finden – eine
unwahrscheinliche Konstellation. Amerika ist heute tief verunsichert durch das
Scheitern des unilateralistischen Abenteuers, durch die Selbstzerstörung des
Neoliberalismus und den Missbrauch seines exzeptionalistischen Bewusstseins.
Warum sollte sich diese Nation nicht, wie so oft, wieder aufrappeln und
versuchen, die konkurrierenden Großmächte von heute – die Weltmächte von morgen
– rechtzeitig in eine internationale Ordnung einzubinden, die keine Supermacht
mehr nötig hat? Warum sollte ein Präsident, der – aus einer Schicksalswahl
hervorgegangen – im Inneren nur noch einen minimalen Handlungsspielraum
vorfindet, nicht wenigstens außenpolitisch diese vernünftige Chance, diese
Chance der Vernunft ergreifen wollen?
ZEIT: Sogenannten Realisten würden Sie damit nur ein müdes
Lächeln entlocken.
Habermas: Ich weiß, dass vieles dagegen spricht. Der neue
amerikanische Präsident müsste sich gegen die von der Wall Street abhängigen
Eliten in der eigenen Partei durchsetzen; er müsste wohl auch von den
naheliegenden Reflexen eines neuen Protektionismus abgehalten werden. Und die
USA würden für eine derart radikale Kehrtwende den freundschaftlichen Antrieb
eines loyalen, aber selbstbewussten Bündnispartners brauchen. Einen im
kreativen Sinne »bipolaren« Westen kann es freilich nur geben, wenn die EU
lernt, nach außen mit einer Stimme zu sprechen und, tja, das international
angesparte Vertrauenskapital zu nutzen, um selber weitsichtig zu handeln. Das
»Ja, aber…« liegt auf der Hand. In Krisenzeiten braucht man vielleicht eher
eine etwas weiter ausgreifende Perspektive als den Rat des Mainstreams und das
Klein-Klein des bloßen Durchwurschtelns.
Das Gespräch führte Thomas Assheuer
Portrait
Jürgen Habermas
Er ist der wohl einflussreichste deutsche Philosoph und findet weltweit
Gehör. Wie kein Zweiter prägt der 79-Jährige die Debatten der Gegenwart.
Habermas studierte in Göttingen, Zürich und Bonn unter anderem Philosophie,
Geschichte, Psychologie und Ökonomie. Nach seiner Promotion über Schellings
»Weltalterphilosophie« kam er als Assistent von Theodor W. Adorno in Kontakt
mit der Frankfurter Schule. Erstes Aufsehen erregte Habermas mit einem 1953 in
der »FAZ« publizierten Angriff auf Martin Heidegger, dem er die Rehabilitierung
des Nationalsozialismus vorwarf. Ein breites Echo löste auch seine
Habilitationsschrift »Strukturwandel der Öffentlichkeit«aus. 1964
folgte Habermas dem Philosophen Max Horkheimer auf den Frankfurter Lehrstuhl
und wurde zu einem intellektuellen Anreger der 68er-Bewegung, mit deren
radikalen Vertretern er sich aber rasch überwarf. Sein Hauptwerk, die »Theorie
des kommunikativen Handelns« (1981),beschreibt das Ideal einer
Demokratie, deren kritischer Maßstab das verständigungsorientierte Gespräch
aller Bürger ist. Die Öffentlichkeit, das diskursive Herz dieser Gesellschaft,
dürfe von keinem Systemimperativ »kolonisiert« werden – auch nicht von der
Wirtschaft.
Der Nachdruck des Interviews von Thomas Assheuer und Jürgen Habermas erfolgt
durch freundliche Genehmigung von Professor Dr. Habermas und Thomas Brackvogel.
(Quelle: DIE ZEIT, 06.11.2008 Nr. 46)
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.