Erschienen in Ausgabe: No. 29 (3/2007) | Letzte Änderung: 29.01.09 |
von Arslan Topakkaya
Kant
entwickelt seine Gedanken über die Zeit erstmalig in seiner
Dissertation von 1770. Obwohl die Grundgedanken der Dissertation in
der „Kritik der reinen Vernunft“ übernommen wurden,i
fehlen bei der Dissertation einige Punkte. So gibt es keine klare und
eindeutige Unterscheidung der „sensualitas“ und
„intelligentia“ als der beiden Grundvermögen
menschlichen Erkennens und „die Bestimmung der reinen
Anschauungen, als die Raum und Zeit in dieser Schrift erstmals
vorgestellt werden, hat noch nicht die Klarheit und Durchsichtigkeit
der späteren Kritik.“ii
Kant macht in der Dissertation die fundamentale Unterscheidungiii
zwischen sinnlichen und intellektuellen Vermögen der Menschen,
worin eine wesentliche Aufgabe einer kritischen Metaphysik liegt.
Diese Gedanken der Dissertation schaffen methodische Grundlagen
für das Konzept von einer wissenschaftlichen, d.h. nicht mehr
auf dem klassischen Dogmatismus beruhenden Metaphysik.iv
Danach ist die
Wissenschaftlichkeit der Metaphysik an die strenge Beachtung jenes
fundamentalen Unterschiedes zwischen den Prinzipien der
sinnlichen auf der einen Seite und den Prinzipien der intellektuellen
Erkenntnis auf der anderen Seite gebunden.
Kant
gliedert in seiner Dissertation die Analyse der Zeit in sieben
Abschnitte. Er beginnt mit der Feststellung, dass die
Vorstellung der Zeit nicht aus den Sinnen stammt, sondern eine
Voraussetzung für die Sinnlichkeit ist.v
Man bekommt die Zeitvorstellung nicht durch die Sinne der
Wahrnehmung, sondern man hat die Zeitvorstellung schon vorgängig.
Nicht das Denken von Zugleich und Nacheinander einer Geschehensfolge
erzeugt die Vorstellung der Zeit, sondern man hat je schon eine
Zeitvorstellung, durch die erst Zugleich und Nacheinander
unterschieden werden können. Deswegen ist die Zeit als die Reihe
der nacheinander existierenden wirklichen Gegenstände nicht
zu definieren. „Die Zeit und ihr Begriff sind nicht durchs Sensible
erzeugt, sondern nur von ihm ‚herausgefordert’ und auf es
bezogen.“vi
Im
zweiten Abschnitt führt Kant die These ein, dass die Vorstellung
der Zeit nur eine Einzelvorstellung sein kann. Die Zeit ist
nicht aus dem allgemeinen Verstandesbegriff abzuleiten. Jeder
Teil der Zeit lag vorgängig in der spezifischen Weise in ihr,
dass er erst Teil wurde, indem er aus ihr ausgegrenzt wurde. Kant
erläutert es mit einem Beispiel: „Wenn man sich zwei Jahre
denkt, kann man sie sich nur in bestimmter Lange zueinander
vorstellen, und wenn sie nicht unmittelbar einander folgen, nur als
durch irgendeine Zwischenzeit miteinander verbunden. Welche aber von
verschiedenen Zeiten früher sei und welche später, das
kann auf keine Weise durch irgendwelche dem Verstand begrifflichen
Merkmale definiert werden, wenn man nicht in einen fehlerhaften
Zirkel fallen will, und der Geist unterscheidet das nur durch die
einzelne Anschauung“.vii
Die
Einzigartigkeit der Zeit ist die Voraussetzung jeder Festsetzung
einer bestimmten Zeitstrecke in der einen Zeit. Daraus folgt als der
Zeit eigentümliches Moment ihre Unermeßlichkeit (immasus),
da Messung die Eins, d.h. die Einheit des Teils, voraussetzt. Im
Hinblick auf einen früher-später Bezug kann
die Beiordnung der Teilzeiten auf keine Weise durch irgendwelche dem
Verstand begreiflichen Merkmale definiert werden, sondern nur durch
die einzelne Anschauung des Geistes. Alles Wirkliche ist in
der Zeit gesetzt und nicht, wie beim allgemeinen Verstandesbegriff,
unter ihrem Begriff.viii
Im
Abschnitt 3 fasst Kant die Ergebnisse des ersten und zweiten
Abschnitts zusammen. Die Zeit ist kein reiner Verstandesbegriff,
sondern sie ist eine endliche sinnliche Anschauung. Die
Vorstellung der Zeit ist daher Anschauung. Da die Zeit vor
aller Empfindung vorgestellt wird und sie die Bedingung aller
Empfindungsvorstellungen ist, zeigt sie sich als reine
Anschauung.ix
Kant
untersucht im vierten Abschnitt die „Großheit“ (quantum)
und die „bestimmte Größe“ (quantitas) der Zeit sowie
ihre interne Ausdifferenzierung (Teil, Augenblick, Grenze). Die
Zeit ist „ein stetiges Quantum“ und das Prinzip „aller
Stetigkeitsgesetze in den Veränderungen des Weltalls“.x
Obwohl ein Quantum stetig ist, besteht es nicht aus einfachen Teilen,
weil mit der Zeit nur Verhältnisse, nicht Gegenstände
gedacht werden. Es liegt in der Zeit als einem Quantum eine
Zusammensetzung vor, „die überhaupt nichts übrig
lässt, wenn man sich ihre Aufhebung vorstellt“.xi
Die Zeit ist als Quantum eine Größe; aber als
Zusammensetzung wird ihr auch eine „bestimmte Größe“
(Quantitas) zugeschrieben. Wenn wir an einem Zusammengesetzten alle
Zusammensetzung aufheben würden, bliebe gar nichts übrig.
Deswegen ist jeder Bestandteil der Zeit eine Zeit. Aber das Einfache
in der Zeit, nämlich der Augenblick ist nicht Bestandteil
der Zeit, sondern er ist eine Grenze. Zwischen Grenzen liegt auch
eine Zeit.xii
Denn zwischen den gegebenen zwei Augenblicken gibt es nur eine Zeit,
in der das Wirkliche einander folgt. Also außer einem gegebenen
Augenblick ist notwendig, dass eine Zeit gegeben wird, in deren
Verlauf der andere Augenblick sich einstellt.xiii
Kant
resümiert im fünften Abschnitt die gewonnene positive
Axiomatik der Zeit mittels eines Bezugs auf die tradierten Positionen
von Newton und Leibniz. Es geht hier um die Idealität der Zeit.
Kant ist von Anfang bis Ende seiner Zeitphilosophie gegen die
Auffassung, dass die Zeit etwas Objektives oder Reales ist.xiv
Sie ist subjektiv und ideal. Die Zeit ist weder eine Substanz (wie
bei Newton) noch eine Relation (wie bei Leibniz) zu verstehen. Sie
ist eine subjektive und durch die Natur des Geistes notwendige
Bedingung, um die Dinge nach einem bestimmten Gesetz
zusammenzuordnen. Sie ist eine reine Anschauung.xv
Leibniz wolle die Zeit durch das an der Bewegung Wahrgenommene oder
aus einer Reihe innerer Veränderungen Entnommene entwickeln, und
das sei ein Zirkel. Leibniz hatte die apriorische Stetigkeit (die
Zeit) uneinsehbar gemacht und vernachlässigte völlig das
wichtigste ‚Folgestück’ der Zeit, nämlich das
Zugleichsein. Kant fügt zur Begründung der Idealität
der Zeit ein weiteres Argument hinzu: Substanzen und Akzidenzen
werden dem Zugleichsein oder der Aufeinanderfolge gemäß
durch den Begriff der Zeit einander beigeordnet; also ist deren
Begriff ‚älter’ als der von Substanz bzw. Akzidenz.
In
diesem fünften Abschnitt stellt Kant auch ganz deutlich fest,
dass die Zeitvorstellung aus dem Inneren des Geistes stammt. Da wir
die Größe der Zeit an der Bewegung einer Gedankenreihe
erkennen können, beruht die Vorstellung der Zeit auf einem
inneren Gesetz des Geistes. Die Zeit ist keine angeborene Anschauung,
mit deren Hilfe man die Empfindungen des Geistes einordnet. Und so
ist es nach Kant unmöglich, den Begriff der Zeit vermittels der
Vernunft abzuleiten und zu erklären. Die Möglichkeiten
der Vernunft setzen die Zeit als Anschauungsform voraus und können
dieselbe nicht erklären: So das logische Prinzip des
Widerspruchs, dass nur durch das Zugleichsein zu verstehen
ist, weil A und nicht- A sich widersprechen, wenn sie zugleich
gedacht werden. Sie können aber wohl nacheinander (zu
verschiedenen Zeiten) demselben zukommen. „Die Möglichkeit der
Veränderungen ist deswegen nur in der Zeit denkbar, und es ist
also nicht die Zeit auf Grund der Veränderungen denkbar, sondern
umgekehrt“.xvi
Kant
fragt im sechsten Abschnitt, in welchem Vermögen die Zeit
produktiv begründet sein könnte. Die Zeit ist nicht nur der
Gegenstand der Einbildungskraft, sondern sie ist auch eine
Bedingung des anschaulichen Vorstellens. Der Begriff der Zeit enthält
die allgemeine Form der Erscheinungen, weil die Veränderungen,
Ereignisse und Bewegungen in der Welt nur durch die Zeit zu denken
sind. Denn sie können „nur unter diesen Bedingungen
Gegenstände der Sinne sein und koordiniert werden“.xvii
Die Subjektivität der Zeit ist die Bedingung der Wahrheit und
Objektivität in der Sinnenwelt. Der subjektive Ursprung der Zeit
verzerrt nicht die Phänomenalität, sondern bedeutet ihre
axiomatische Geltung in Bezug auf diese Welt, ohne die deren
Stellenordnung, die Bedingung jeder exakt zu erfassenden
Gegenständlichkeit undenkbar wäre. Hier wird die Zeit im
Unterschied zu Abschnitt 2 „unendlich“ genannt. Jedes sinnliche
Partikel verweist so durch die Zeit, in der es wahrgenommen wurde,
auf eine Unendlichkeit.
Zeit
und Raum sind in der Dissertation ebenso wie bei Newton reine
Gegebenheiten, d.h. ihre Strukturmomente sind nicht aus der
Empirie entnommen, sondern bestimmen diese. Kant fügt
dieser Reinheit die Sinnlichkeit hinzu, d.h. er begrenzt den
Anspruch, den Newton glaubte, „absolut“ setzen zu dürfen,
auf ein endliches Subjekt der Erkenntnis. Das „Auseinander“ und
„Nacheinander“ ist als sinnliche Vorstellung zu verstehen, weil
diese Bestimmungen durch keine noch so weit fortgeschrittene Analyse
in begriffliche Bestimmungen überführt werden können.
Die
Auseinandersetzung mit den Strukturargumenten der Anschauungsformen
unterblieb in der Dissertation. Es wurde lediglich auf die Kritik an
der Subjektivität von Raum und Zeit hingewiesen. Auch wurde auf
die Parallelführung der Argumente zu Raum und Zeit nur
aufmerksam gemacht, aber keine direkt darauf bezogene Interpretation
gegeben. Diese offenen Probleme werden in der transzendentalen
Ästhetik abgehandelt.
i
E. Cassirer bestätigt diese Übernahme mit folgenden
Sätzen: „Die transzendentale Ästhetik übernimmt in
den einzelnen Beweisen für die apriorische Bedeutung des Raumes
und der Zeit die Hauptsätze der Dissertation ohne jede
wesentliche Einschränkung und Umgestaltung.“ Aus: Das
Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren
Zeit, Bd. II, Berlin 1922, S. 684.
ii
Manzke, K. H.: Ewigkeit und Zeitlichkeit. Aspekte für eine
theologische Deutung der Zeit. Göttingen 1992, S.6. K. H.
Manzke sieht weitere Unterschiede zwischen Kants Dissertation und
der KdrV, so z. B. dass der Anschauungscharakter von Raum und Zeit
in der KdrV gegenüber der Dissertation nicht wesentlich
verändert wird. Trotzdem „lässt sich allenfalls von
einer Verschiebung der Argumentation gegenüber der Dissertation
sprechen. Aber die in der Dissertation noch offen diskutierte
Möglichkeit der Bestimmung der Zeit als ‚intellektueller
Begriff‘ bzw. als Idee wird von Kant in der Kritik auch der
Möglichkeit nach nicht mehr aufgenommen.“ Ebd., S. 102.
iii
Vgl. Kant: De Mundi sensibilis atque intelligibilis forma et
principiis, hrsg. von K. Reich. Hamburg 1958, S.6.
iv
Ebd., S.76-77.
v
Ebd., S. 39.
vi
Söffler, D.: Auf dem Weg zu Kants Theorie der Zeit.
Untersuchung zur Genese des Zeitbegriffs in der Philosophie I.
Kants, Frankfurt am Main 1994, S. 82.
vii
De Mundi.., S. 39.
viii
Ebd.
ix
Ebd.
x
De Mundi.., S. 39.
xi
Ebd., S. 42.
xii
Ebd., S. 41.
xiii
Es ist auffällig, dass in den Paragraphen von De Mundi
der Begriff der Zeit durchgängig als ‚conceptus’ bzw. als
‚notio’ (vgl. §13) bezeichnet wird. In den ersten drei
Unterabschnitten des §14 wird sie als „idea Temporis“
herausgearbeitet. Nach §14 wird sie wieder als notio oder
conceptus angesprochen. Die idea wird als Vorstellung und
notio oder conceptus als Begriff ins Deutsche
übersetzt. Danach könnte man sagen, dass Kant die Zeit
sowohl als Vorstellung wie auch als Begriff betrachtet. Die
Vorstellung der Zeit wird also meistens als ‚Idea temporis’
bezeichnet. Man hat zu beachten, dass „der Titel ‚Vorstellung‘
einen Grundbegriff der kantschen Philosophie kennzeichnet, insofern
sowohl ‚Begriffe’ als auch ‚Anschauungen‘ (intuitus) bei
Kant Weisen des Vorstellens, der repreasentatio, sind.“ Vgl.
Söffler, D.: Auf dem Weg zu Kants Theorie der Zeit, S. 84. Kant
erklärt dies in seiner Logik: „Aller Erkenntnisse, das heißt:
alle mit Bewusstsein auf ein Objekt bezogene Vorstellungen sind
entweder Anschauungen oder Begriffe. Die Anschauung ist einzelne
Vorstellung, der Begriff (ist) eine allgemeine oder reflektierte
Vorstellung.“ Aus: Logik, Frankfurt am Main 1968, S. 139.
H. Scholz gibt
Anweisungen, wie die Begrifflichkeit der Zeit verstanden werden
soll: „Wenn Kant in der Dissertation von 1770 den Raum und die
Zeit als conceptus singulares bezeichnet, so ist das entweder
ein unverständlicher oder ein sehr verkürzter
Ausdruck für folgende wohl bestimmte Aussage: Die Begriffe, die
wir uns nachträglich von Raum und von der Zeit zu bilden
vermögen, sind Begriffe von etwas schlechthin Einmaligem,
folglich von Etwas ursprünglich Nichtbegrifflichem.“ Aus: Das
Vermächtnis der Kantischen Lehre vom Raum und von der Zeit, in:
Kant-Studien, Bd.29 (1924), hrsg. v. P. Menzer, S. 21-70, hier S.
31f.
xiv
E. Cassirer betont die Schwierigkeiten, die auftreten, wenn wir für
Raum und Zeit ein dingliches Dasein annehmen: „Wenn Raum und Zeit
ein gesondertes dingliches Dasein besitzen, das dem Sein der Dinge
voraufgeht, so ist die Frage nicht abzuweisen, auf welche Weise
diese leeren Schemen mit realem Gehalt erfüllt wurden, auf
welche Art die Objekte nachträglich zu ihnen hinzugebracht und
in ihnen geordnet worden sind.“ Aus: Das Erkenntnisproblem, S.
620. H. Scholz macht mit Recht einen wichtigen Unterschied zwischen
dem objektiv-wirklich oder Unwirklichsein der Zeit und der objektive
Gültigkeit des Raumes und der Zeit : So „gewiss nun Raum und
Zeit nur entweder objektiv wirklich oder objektiv unwirklich, aber
nicht objektiv gültig oder ungültig sein können, so
gewiss können Urteile über räumliche und zeitliche
Verhältnisse nur entweder objektiv gültig oder objektiv
ungültig, aber nicht objektiv wirklich oder unwirklich sein.
Der Begriff der empirischen Realität fällt also in diesem
Zusammenhange durchaus mit dem der empirischen Dignität
zusammen; und Kants Meinung erhellt sich mit einem Schlage, wenn wir
statt von der empirischen Realität des Raumes und der Zeit
vielmehr von der empirischen Dignität der empirischen Sätze
über räumliche und zeitliche Verhältnisse sprechen.“Aus: DasVermächtnis der Kantischen Lehre vom Raum
und von der Zeit, S. 44-45.
xv
De Mundi., S. 43.
xvi
Ebd., S. 47.
xvii
De Mundi., S. 47.
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