Erschienen in Ausgabe: No 67(9/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Michael Opielka
Als vielleicht größte Veränderung der Menschheit im Verlaufe
des 20. Jahrhunderts kann der Wechsel von der Außensteuerung auf die Innensteuerung
des sozialen Verhaltens gelten. Soziologen und Sozialpsychologen sprechen von
der Subjektivierung oder Internalisierung von Motiven und
Handlungsorientierungen. Die Psychoanalyse Sigmund Freuds spricht vom
„Über-Ich“, in dem sich heute die Gesellschaft versammelt. Die Gesellschaft ist
also in uns.
Eine neuere soziologische Schule, der sogenannte
Neoinstitutionalismus, verallgemeinert diesen Prozess, indem sie auf die
„Skripte“ aufmerksam macht, die in allen Institutionen und Organisationen das
Handeln steuern. Soziale Veränderung erfordert dann vor allem eine Veränderung
dieser Skripte. Auch die Akteure – die Individuen wie die Kollektive – haben
solche Skripte, sie sind also keineswegs beliebig frei in ihren Entscheidungen,
sondern immer schon „gescriptet“, also beschrieben. Das Über-Ich ist beim
einzelnen Menschen wohl das wichtigste Skript. Schwierig ist dabei, dass uns
nur ein kleiner Teil davon bewusst ist. Ein großer Teil der uns individuell wie
kollektiv leitenden Skripte ist vor- und sogar unbewusst. Das bedeutet, dass
wir uns nicht leicht Rechenschaft darüber ablegen können, was die Gesellschaft
in uns mit uns macht.
Wenn wir über die Idee des Grundeinkommens sprechen, sollten
diese beiden Zusammenhänge berücksichtigt werden: dass die Gesellschaft in uns
lebt und dass uns das Ausmaß leider nur zum Teil bewusst ist. Ein
Grundeinkommen als Bürgerrecht jedes Einzelnen auf Existenzsicherung unabhängig
von seiner Vorleistung bedeutet eine neue wirtschaftliche Grundgleichheit, die
erst die Freiheit des Einzelnen sichert, so die Befürworter dieser Reformidee. Bei
der Idee des Grundeinkommens handelt es sich also um eine Idee, die das
Verhältnis von Person und Gesellschaft, damit auch von Freiheit und Gleichheit
neu fasst.
Alain Ehrenberg, ein französischer Soziologe, hat in seinen
Büchern „Das erschöpfte Selbst“ und zuletzt „Das Unbehagen in der Gesellschaft“
diesen Zusammenhang subtil untersucht und dabei auch kulturelle Differenzen
beobachtet: „Der amerikanische und der französische Individualismus weisen in
ihren Konzeptionen von Gleichheit und Freiheit starke Kontraste auf. (…) Der
Begriff der Autonomie spaltet die Franzosen, während er die Amerikaner vereint.
(…) In Amerika ist der Begriff der Persönlichkeit eine Institution, während in
Frankreich die Berufung auf die Persönlichkeit als Entinstitutionalisierung
erscheint.“ Die deutschsprachigen Länder sind in dieser Hinsicht unentschieden,
die Balance zwischen Persönlichkeit und Gesellschaft, zwischen Freiheit und
Gleichheit ist stets prekär. Wir wollen einmal mehr Frager sein als Antworter
und angesichts der durchaus hitzigen Diskussion pro und contra Grundeinkommen
einen geisteswissenschaftlichen Blick befürworten.
Was sollte die sozialen Verhältnisse leiten? Platon sprach
von den vier später als „Kardinaltugenden“ bezeichneten Werten: Tapferkeit,
Besonnenheit, Weisheit und Gerechtigkeit, wobei ihm Gerechtigkeit als der
Wichtigste galt. Im Christentum finden wir bei Paulus einen auf den ersten
Blick ganz anderen Tugendkatalog: Glaube, Hoffnung und Liebe, „die Liebe aber
ist die größte unter ihnen.“ (1. Korinther 13,13) Wie können Gerechtigkeit und
Liebe zusammen gedacht werden? Eine Spur findet sich in Rudolf Steiners Vortrag
„Pfingsten, das Fest der freien Individualität“, den er an Pfingsten 1910 in
Hamburg hielt (GA 118). Es ist der Gedanke der „allgemeinen Menschheit“, jenes „Zusammengehörigkeitsgefühl,
das immer mehr und mehr seit der christlichen Verkündigung in dem
Menschenherzen gegenwärtig ist, und das uns sagt: Du bist Mensch mit allen Menschen
der Erde!“ Was aber bedeutet das in der sozialen Gegenwart? In einem in der
Zeitschrift „Lucifer-Gnosis“ 1906 veröffentlichten Aufsatz unter dem Titel
„Geisteswissenschaft und soziale Frage“ formulierte Steiner das „Soziale
Hauptgesetz, welches durch den Okkultismus aufgewiesen wird“ - und damit ein
moralisches Naturgesetz, das sich der geisteswissenschaftlichen Beobachtung
übersinnlicher Wirklichkeit enthüllt. Das „Soziale Hauptgesetz“ lautet: „Das
Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist umso größer, je
weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht,
das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und
je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den
Leistungen der anderen befriedigt werden.“ Steiner markierte damit eine
Synthese von Gerechtigkeit und Liebe als Leitlinie sozialer Evolution.
Das ist natürlich umstritten. Die Mehrheit der heute
führenden politischen und wirtschaftlichen Eliten hält die Idee des
Grundeinkommens für falsch. Zum Teil liegt dies daran, dass die Idee des
Grundeinkommens nicht verstanden wird. Viele glauben, ein Grundeinkommen würde
das Leistungsprinzip außer Kraft setzen. Das ist nicht Fall. Ein Grundeinkommen
würde je nach Niveau etwa 50 bis 60 Prozent des Volkseinkommens vorab und damit
primär auf alle Bürger umverteilen, darüber hinaus zählen dann Leistung, Macht
oder Solidarität. Manche glauben, ein Grundeinkommen würde solidarische
Gemeinschaftsbildung erschweren. Das ist insoweit richtig, als mit einem
Grundeinkommen keine Gemeinschaften (Familien, Kommunen, Genossenschaften) zur
Sicherung des nackten Überlebens nötig sind. Aber liegt nicht darin eine
ungemeine Chance: dass Gemeinschaft ganz aus Freiheit und nicht vor allem aus
Not gebildet werden kann?
Das Grundeinkommen ist eine Wohlfahrtsstaatsidee. Für viele
macht dies sie anrüchig. Sie halten den Staat für grundsätzlich problematisch,
Umverteilung für gefährlich und den Markt für die beste Einrichtung sozialer Koordination.
Diese grundlegende Kontroverse wird leider so lange nicht beendet, wie
Ideologie die Wahrnehmung der Wirklichkeit verzerrt. Die Wirklichkeit ist eine
der „organischen Solidarität“. Ein anderer französischer Soziologe, Émile
Durkheim, hatte bereits Ende des 19. Jahrhunderts in seinem Werk „Über soziale
Arbeitsteilung“ auf einen bemerkenswerten Prozess hingewiesen, der die eingangs
diskutierte Subjektivierung der Gesellschaft äußerlich vorbereitete: Während in
vormodernen Gesellschaften die sozialen Strukturen leicht durch „mechanische
Solidarität“ in Form von gemeinsamen Traditionen und Werten aufrechterhalten
werden konnten, bedarf es in neuerer Zeit einer differenzierteren Form des
Zusammenhalts. Diese neue Form ist nach Durkheim die organische Solidarität.
Sie ersetzt den in Zeiten des Wettbewerbs und steigender Bevölkerungsdichte
schwierig gewordenen traditionellen Zusammenhalt durch neue, kontraktuelle
Strukturen einer zunehmend globalen Arbeitsteilung, in denen der Einzelne in
verschiedener Weise eingebunden ist. Die Arbeitsteilung in einem Weltmarkt ist
hoch effektiv, führt aber zu dramatischer Ungleichheit und damit zu Unfreiheit
der Schwächeren. Sozialpolitik und Wohlfahrtsstaat haben seitdem neue Werte
gesetzt, neue Traditionen geschaffen, die Arbeitsteilung und individuelle
Freiheit miteinander verbinden sollen.
Rudolf Steiners „Soziales Hauptgesetz“ bildet ein Angebot,
um diesen Prozess der Verwohlfahrtsstaatlichung nicht als Bürokratisierung und
Freiheitsverlust zu konzipieren und zu verstehen, sondern als Beitrag zu
menschlicher Verbundenheit und Freiheit. Er spricht von „Heil“ und behauptet
damit, dass soziale Heilung möglich ist. Die Pointe liegt darin, dass das
Verhältnis von Gesellschaft und Einzelnem nicht mehr als Gegensatz gedacht
wird. Das ist kein Harmonismus. Konflikte wird es stets geben. Doch ein
Grundeinkommen bildet eine Grundlage, auf der soziale Konflikte anders,
womöglich reifer ausgetragen werden.
Vieles muss bei dieser Idee noch geklärt werden. Wie lässt
sich ein Grundeinkommen in die bestehenden Sozialsysteme integrieren? Was ist
die klügste Finanzierung? Soll ein Grundeinkommen pauschal gezahlt werden oder
sollen beispielsweise Wohnkosten besonders behandelt werden? Sollten die Bürger
in einem Referendum über ein Grundeinkommen befinden? Je nach
wohlfahrtsstaatlicher Besonderheit kommen unterschiedliche Antworten zustande. Wollen
wir ein Grundeinkommen, dann werden die Skripte vieler Institutionen anders
lauten. Schulen und Universitäten werden beispielsweise weit stärker als heute
jeden Einzelnen mit der Frage konfrontieren, was er für die Gesellschaft aus
Freiheit geben kann, damit sie seine Freiheit garantiert. Heute wird dieses
Verhältnis mechanisch interpretiert, entsprechend dem Rhythmus von Kapitalismus
und Industriesystem. In einer sozialen Zukunft mit Grundeinkommen sind diese
einfachen Antworten schwerer zu geben. Freiheit, Gleichheit und Solidarität
müssen immer wieder neu balanciert werden. Das Grundeinkommen kann aber helfen,
die Balance für alle zu erleichtern.
Michael Opielka ist Professor für Sozialpolitik an der
Fachhochschule und Privatdozent für Soziologie an der Universität Hamburg.
©-Vermerk:
erschienen in Das Goetheanum. Wochenschrift für Anthroposophie, Nr.
25-2011, 25. Juni 2011, Seite 14-15 unter dem Titel „ Postfamiliäre
Gemeinschaft. Rudolf Steiners soziales Hauptgesetz und die soziale
Evolution“
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