Erschienen in Ausgabe: No 66 (8/2011) | Letzte Änderung: 31.01.13 |
von Heike Geilen
Wer
erinnert sich noch an y2k?
y2k!
Es handelte sich um den weltweit Panik verbreitenden, so genannten
"Millenium-Bug" - ein Computerproblem, das durch die interne
Behandlung von Jahreszahlen als zweistellige Angabe entstand und angesichts des
Jahreswechsels 1999/2000 einen globalen Ausfall von vielen Computersystemen
vermuten ließ, die dann nicht mehr
"wissen" konnten, ob sie denn im Jahr 2000 weiterrechnen oder halt
ins Nirwana des Jahres 1900 zurückfallen sollten.
Nun
hat der österreichische Autor keineswegs ein Buch über kollabierende
Computersysteme oder den kollateralen Zusammenbruch unseres mittlerweile weit
vernetzten Lebens geschrieben, sondern sein Erzählband vereint 14 Geschichten,
die allesamt ein bedeutendes oder aber ein persönliches Erinnerungsmoment
implizierten und globale oder individuelle innere Aufruhr verursachten. Menasse
schreibt über die Ermordung Kennedys und des chilenischen Präsidenten Salvador
Allende. Er berichtet vom völlig unerwarteten Sieg Griechenlands über Portugal
bei der Fußballeuropameisterschaft 2004 und der dabei verpassten Chance eines
Riesengewinns in der Fußballlotterie. Oder er erinnert an die
"Bedeutung" der Zerstörung Dresdens am 13./14. Februar 1945: "Es gab noch nie eine Diktatur, in der
die Menschen gefragt wurden, was sie wollen. Die Deutschen wurden gefragt. Das
war einmalig. Sie wollten den totalen Krieg. Ohne Dresden hätten sie nie
begriffen, was sie sich gewünscht hätten."
Da
steht auf der einen Seite die Wiederzusammenführung von Ost- und
Westdeutschland, auf der anderen die Trennung aus einer Partnerschaft. Menasse
erzählt von der persönlichen "Bedeutung" des 9. November 1977, an dem
der österreichische Textilindustrielle
Walter Palmer von der "Bewegung 2. Juni" entführt wurde oder dem Abbruch der Berliner Mauer. Genau 10
Jahre später befürchtet man eine andere
Zerlegung, eben jene, zu Beginn angeführte: "Mit 'Y₂K' hat die westliche Welt die entsprechende Erfahrung
digitalisiert und postmodern wiederholt: die hysterische Angst vor dem
Zusammenbruch des Systems. (...) Dass im Jahr 1999 Firewalls die Menschen mehr
beschäftigten als die längst verschwundene Mauer, ist daher verständlich: Was ist schon der Fall der Mauer gegen den Fall der
Börsen?"
Robert
Menasse stellt sich in diesem Buch immer wieder die Frage wie bedeutsam ein
historisches Datum neben Zukunftsoptionen und Termingeschäften ist? "Was
ist die Erinnerung an eine verschwundene Bedrohung im Vergleich, oder
zeitgenössisch formuliert: in Konkurrenz mit einer akuten Bedrohung?" Ist
der Reichtum eines Autors, den er immer wieder erzählend ausbreitet, eigentlich
nichts als eine Lüge? Wie beliebig ist Erlebtes, das Leben überhaupt? Sind
Geschichten im Grunde nicht nur "Varianten immer derselben Geschichte"?
Gekonnt
verknüpft der Autor dabei Kindheits- und Jugendereignisse mit dem "Schock
im weltgeschichtlichen Maßstab". Persönliche Reminiszenzen wie Scheidung,
Einsamkeit und Verhöhnt-Werden wechseln mit signifikanten Retrospektiven ab,
werden vermischt, verknüpft und neu zusammengestellt. Entstanden ist ein
kleiner, aber umso wirkungsvoller Abriss im Zeitlauf der Geschichte. Menasse
bringt dem Leser den "Geruch der Zeit" ins Wohnzimmer. Er watet
sozusagen durch den persönlichen Lebensmorast und bedient sich verdrängter,
vergessener und universaler Begebenheiten. Vielleicht um sein Erwachsenenleben
mit seiner Kindheit zu versöhnen, vielleicht auch seine Generation mit der
Geschichte. "Wir stapften durch den
Schnee von gestern - und waren die Ersten, die darin ihre Eindrücke
hinterließen." Aber letztendlich ist das Leben doch nur "ein noch größerer Irrtum als der Tod."
Robert
Menasse
Ich kann jeder sagen
Erzählungen vom Ende der Nachkriegsordnung
Suhrkamp
Verlag, Berlin (August 2009)
185
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
351842114X
ISBN-13:
978-3518421147
Preis:
17,80 EURO
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