Erschienen in Ausgabe: No. 13 (1/1997) | Letzte Änderung: 27.07.11 |
von Heike Geilen
"Auslöschung
- Ein Zerfall"... ein vernichtender, ein destruktiver Titel, den sich
Thomas Bernhard für seinen letzten Roman einfallen lassen hat. Doch wie er
selbst gegen Ende des großartigen Buches schreibt, denkt er nicht an etwas
Ungeheuerliches, "auch nicht an etwas Einmaliges, aber doch an etwas mehr
als nur eine Skizze, mehr als eine Existenzskizze, an etwas, das sich sehen
lassen kann und dessen ich mich nicht zu schämen habe." Schämen braucht er
sich mit Sicherheit nicht. Denn der österreichische Autor hat mit diesen 650
Seiten wohl sein substantiellstes, bestes und tiefgreifendstes Werk vorgelegt.
"Auslöschung"
offenbart sich als ein Abtauchen ins tiefste Innere eines Menschen, ein Wühlen
und Zerren an Verletzungen, Demütigungen und traumatischen
Kindheitserlebnissen: eine Abrechnung mit dem Begriff Heimat im engeren genauso
wie im weiteren Sinn, ein angestrebtes Zur-Ruhe-Finden in der Konfrontation mit
dem Unruhigen, ein Hineinschauen in die berühmt-berüchtigte gähnende Leere
seiner Kindheit. Das Enge kommt dabei Wolfsegg zu, dem eigentlich weitläufigen,
ja herrschaftlichen "Besitzklumpen" der Familie des Erzählers
Franz-Josef Murau. Dieser hat seit Jahren dem elterlichen Anwesen den Rücken
gekehrt. In Rom lebend, wird er von einem Telegramm seiner Schwestern zu einer
unfreiwilligen Rückkehr in heimische Gefilde gezwungen. Seine Eltern und der
ältere Bruder sind bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Murau avanciert
zum alleinigen Erben des verhassten Ortes seiner Kindheit. "Sie mussten
tödlich verunglücken und zu diesem lächerlichen Papierfetzen, der sich
Fotografie nennt, zusammenschrumpfen, um dir nicht mehr schaden zu können. Der
Verfolgungswahn ist zu Ende."
Alles
Angestaute, Vergrabene, unter Schichten gelebten Lebens Versteckte bricht nach
der tragischen Nachricht und einer kurzen Starre mit ungeheurer Kraft aus ihm
heraus: "... ich muss diesen Bericht über Wolfsegg schreiben, über die
Wolfsegger Menschen, über die Wolfsegger Verhältnisse, über ihr Unglück und
über ihre Gemeinheit, über ihre Hinfälligkeit und ihre Charakterlosigkeit, über
alles, das sie mir vorgeführt haben und das mir, solange ich lebe, mehr oder
weniger die Nächte meines Lebens schlaflos gemacht und ruiniert hat...".
Gleichzeitig schlägt Bernhard, ganz wie man es von ihm gewohnt ist, im Großen
um sich: gegen seine und die deutsche Nation. Er verteufelt die "gemeine
und ungeistige, niederträchtige katholisch-nationalistische Gesinnung in
Österreich" sowie sein Volk, das zwar Mozart, Haydn und Schubert, jedoch
"das Denken verlernt und beinahe zur Gänze aufgegeben" hat.
Als
einziger Lichtpunkt im Grauschleier seiner Familie sticht dessen schwarzes
Schaf - sein weltoffener Onkel Georg, von jenen als "nichtsnutziger
Schurke" bezeichnet - hervor. Er führt den Jungen in die Literatur, die
Welt der Musik und Kunst ein und eröffnet ihm dadurch "das Paradies ohne
Ende". "Erst wenn wir einen ordentlichen Kunstbegriff haben, haben
wir auch einen ordentlichen Naturbegriff, sagte er. Erst wenn wir den
Kunstbegriff richtig anwenden und also genießen können, können wir auch die
Natur richtig anwenden und genießen." Alle anderen Protagonisten schrammen
mal mehr, mal weniger als parodistische Karikaturen, ja menschliche Wracks durchs
gezeichnete Bild des Widersprechers, Verweigerers und Abtrünnigen.
Als
Übertreibungsfanatismus, der zur Übertreibungskunst stilisiert wird, versucht
sich der Erzähler "aus der Armseligkeit [seiner] Verfassung zu retten, aus
[seinem] Geistesüberdruss". Da ist zum einem der Vater, der wirkt, als
wäre er bei sich selbst angestellt, zum anderen der Bruder, der als Kaspar und
"Ersatzhampelmann" seiner kaltherzigen, opportunistischen Mutter
fungiert sowie die beiden altjüngferlichen Schwestern, von denen der einen
letztendlich noch ein tumber Ehemann widerfährt: ein
Weinflaschenstöpselfabrikant aus dem Allgäu.
Thomas
Bernhards Roman lässt sich wohl allgemeingültig über viele Personen stülpen,
denn wir "tragen alle ein Wolfsegg mit uns herum und haben den Willen, es
auszulöschen zu unserer Errettung..."."Auslöschung" ist ein allgemeingültiges,
grübelnd-philosophierendes, ironisch-bitteres Gedankenbuch. Ein Lesevergnügen
auf allerhöchstem Niveau und par excellence. Der "österreichische
Nestbeschmutzer" schreibt selbst in seinem Werk: "Ich halte mich für
befähigt und zuständig, das aufzuschreiben, das mir des Aufschreibens wert
erscheint, weil es mir wichtig ist und dazu auch noch ein großes Vergnügen
macht, wie ich denke. Ich bin ja nicht eigentlich Schriftsteller, (...), nur
ein Vermittler von Literatur und zwar der deutschen, das ist alles." Hier
gibt es schlussendlich nur einen Satz hinzuzufügen: Und was für einer!
Thomas
Bernhard
Auslöschung. Ein Zerfall
SuhrkampVerlag,
Berlin (1996)
651
Seiten, Taschenbuch
ISBN-10:
3518390589
ISBN-13:
978-3518390580
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