Erschienen in Ausgabe: No. 30 (4/2007) | Letzte Änderung: 29.01.09 |
von Arslan Topakkaya
Die Realität ist nach Bergson nicht durch den Intellekt, sondern durch die Intuition zu verstehen. Bergson versteht die Intuition als ein Erfassen der Dauer. Sie macht das Wesen der Philosophie aus. Bergson betont, dass der Mensch zu der intuitiven Erkenntnis bzw. zu der Intuition fähig sei und durch die Intuition die absolute Wirklichkeit erkennen könne. Bergson bezeichnet Instinkt als angeborene Erkenntnis einer Sache. Intellekt dagegen ist die Fähigkeit, anorganische, d.h. künstliche Werkzeuge zu verfertigen. Die instinktive Erkenntnis ist spezialisiert zu besonderen Handlungen. Deswegen hat der Instinkt keine Fähigkeit, die vollständige Erkenntnis der Realität zu geben. Der Instinkt, damit auch die Intuition, kann erst dann eine Erkenntnis werden, wenn sie die Analyse und Reflexion des Intellektes in Anspruch nimmt, sonst verstummt sie in der Innerlichkeit des bloßen Fühlens. Bergson bezeichnet die Intuition in Bezug auf die Erkenntnis als metaphysische Funktion des Denkens. Gegenüber diesem geistigen Bereich stellt Bergson die Intelligenz. Diese Unterscheidung darf aber gemäß Bergsons Erkenntnistheorie nicht dazu führen, dass die Intuition die einzige echte Erkenntnisquelle sei, obwohl sie den anderen Erkenntnisformen überlegen ist. Bergson versucht zu zeigen, dass der Intellekt, der uns in die Materie einführt, und die Intuition, die uns in das Wesen des Lebens als Ganzes versetzt, keine Gegensätze bilden, sondern sie brauchen sich gegenseitig und ergänzen sich.
Geb.
04.05.72 in Kayseri/Türkei. Studium an der Universität
Atatürk und Freiburg i.Br (2000). Promotion an der Universität
Freiburg (2005). Zur Zeit arbeitet er als Dozent am Philosophisches
Seminar an der Universität Mersin/Türkei.
Die
Intuition ist ein wichtiger Begriff in Bergsons Philosophie.1
Sie ist nicht nur ein reiner Begriff, sondern hat auch verschiedene
Dimensionen in Bezug auf Erkenntnis, Dauer und Intellekt.2
Die Natur hat für die
Lebewesen zwei Mittel zur Erfüllung ihrer Aufgabe
bereitgestellt. Den einen gab sie Instınkt, den andern den
Verstand. Die Tiere handeln ohne Wahl, ohne Bewusstsein und ohne
Nachdenken. Der Intellekt befähigt den Menschen, die Materie und
ihre Verhältnisse zu erkennen, zu beurteilen und zu vergleichen.
Trotzdem sind Instinkt und Intellekt voneinander nicht ganz getrennt.
Der Mensch hat auch andere Erkenntnismittel, nämlich Intuition.
Diese hat ihre Wurzeln im Instinkt, ist aus ihm hervorgegangen. Das
aber nicht so zu deuten, dass Intuition und Instinkt ähnlich
sind. Intuition ist der seiner selbst bewusst gewordene Instinkt, der
über seinen Gegenstand reflektiert und ihn ins Unendliche
erweitert.
Wir
wollen hier durch Bergsons Philosophie zeigen, dass Intuition und
Intellekt zwei verschiedene Erkenntnis- und Denkweise des Menschen
sind. Damit zusammenhängend sollteman betonen, dass nur jene mit
Intelligenz ausgestatteten Wesen durch Bemühen die Intuition
erreichen können; das instinktive Tier kann das nicht. Wir
werden auch versuchen zu zeigen, dass der
Intellekt der Übergang vom Instinkt zur Intuition ist; er kann
damit beim spirituellen Fortschritt nicht völlig ausgeschaltet
werden. In Bezug auf Erkenntnis gibt es einen engen Zusammenhang
zwischen Intuition und Intellekt. Die Erkenntnis der materiellen Welt
obliegt nach Bergson dem Verstand (der Wissenschaft), der zugleich
zur Erkenntnis des Lebens als schöpferischem Prozess untauglich
ist. Als Organon zur "Erkenntnis" des Lebens wird die
Intuition aufgefasst. Die durch Intuition gewonnenen "Erkenntnisse"
können im Unterschied zu den Erkenntnissen des Verstandes nicht
klar und deutlich ausgedrückt werden, sondern nur Beispiel oder
Anregung dafür sein, dass andere zu ähnlichen intuitiven
Einsichten gelangen. In diesem Zusammenhang ist unser Anliegen, jene
Feststellung zu erklären, dass die Intuition eine Verknüpfung
von Instinkt und Intellekt darstellt.
Wir beginnen mit der
Frage “was ist Intuition für Bergson?“. Dann wird
die Beziehung zwischen Intuition und Erkenntnis dargestellt werden
und anhand dieser Darstellung soll der Zusammenhang zwischen Instinkt
und Intellekt in Bezug auf die Intuition etwas ausführlicher zum
Vorschein kommen. Als Schlussbemerkung soll eine allgemeine Bewertung
der Intuition (als Methode oder als eine Erkenntnisquelle usw.)
geschildert werden.
In diesem Zusammenhang
ist es sinnvoll, unsere eigene Position klar zum Ausdruck zu bringen.
Wir sind der Meinung, dass die Menschen bei gewissen Bereichen
intuitive Erkenntnisfähigkeit haben könnten. Sie ist zum
Beispiel in Kunst und in Literatur zu finden. Aber diese Fähigkeit
darf in ihrer Wertigkeit nicht übertrieben werden. Das heisst,
dass die Intuition nicht als eine allgemeingültige Wirklichkeit
und Erkenntnisquelle für alle Menschen betrachtet werden darf.
Demgegenüber ist der Intellekt bei Erwerb von Erkenntnis das
einzige gemeinsame Mittel, das jeder und jedem gleichermaβen
gegeben worden ist. Diesbezüglich kann die Intuition die
Wirklichkeit nicht allein darstellen. Die Intuition nur eine Hinweis
auf die Wirklichkeit oder eine Interpretation der subjektiven Welt
sein.
Beginnen
wir nach diesen einführenden Worten mit der Frage „was ist
Intuition für Bergson?“. Diese Frage hängt vor allem
von der Grundhaltung Bergsons gegenüber der Wissenschaft und
Philosophie seiner Zeit ab. Er betont und klagt oftmals, dass die
Wissenschaft und Philosophie die Bedeutsamkeit der Tatsache der Zeit
nicht gerecht behandelten, also in gewisse Weise die Zeit
‚vernichtet’ hätten. Der Grund dafür ist ihm
zufolge, dass Philosophie und Wissenschaft sich mit der Behandlung
ihrer traditionellen Begriffe begnügten, aber nicht auf die
Realität selbst blickten. Statt dessen will Bergson ein
einfaches, tieferes, vorurteilloses Sehen entwickeln. Bergson nennt
diese direkte Schau des Geistes Intuition. „Die Intuition
leistet, was Intelligenz niemals kann: Sie bringt uns in die Welt,
wie sie ist, ohne auf utilitaristische Erwägungen Rücksicht
zu nehmen.“3
Da
der Mensch ein soziales Wesen und sein Verstand auch dem sozialen
Leben verhaftet ist, fällt es ihm schwer, sich auf sein eigenes
inneres Leben zurückzuziehen. Wenn man dies nicht macht, kann
man auch seine eigene Dauer nicht erfassen, d.h. zur Intuition nicht
gelangen. Nur der Mensch vermag, aufgrund seiner Freiheit, die
Fähigkeit zur Intuition zu haben.4
Die „Intuition“ wird
von Bergson in den früheren Schriften in wenigen Stellen
benutzt. Er gibt die Begriffserklärung zur Intuition erstmals in
„Einführung in die Metaphysik“, dann auch in
„Schöpferische Entwicklung“. Da danach seine
Intuitionsauffassung stark kritisiert wurde, gab Bergson eine noch
ausführlichere Erklärung zur Intuition im zweiten Teil
seiner Einleitung für den Aufsatzband „Denken und
Schöpferisches Werden“. Damit zusammenhängend
entwickelt Bergson seinen Intuitionsbegriff unterschiedlich. Am
Anfang wurde er als ein Ideal der Introspektion gedacht, d.h. als
eine vollzogene Erfassung des Subjekts durch sich selbst. Später
wurde er mit der Dauer in Verbindung gesetzt, weil das Ich, das
Subjekt in der Dauer gegeben und durch sie konstituiert ist. Aufgrund
dessen wird die Intuition bei Bergson immer als ein Erfassen der
Dauer verstanden. Er versteht die Intuition, wie die Dauer, als ein
Erfassen einer komplexen Mannigfaltigkeit in einer lebendigen
Einheit.
Wie
sollte man die Intuition verstehen, die zum Verständnis des
inneren Lebens beiträgt? Bergson definiert sie als Geist,
der nicht von der Materie geschluckt wird, „der gleichsam
überschießt und seine Aufmerksamkeit auf sich selbst
richtet.“ (DW 97)5
Die Intuition bezieht sich vor allem auf die innere Dauer. Sie ist
die direkte Schau des Geistes durch den Geist (vgl. DW 44). In diesem
Sinne hat die Intuition keinen mysteriösen Charakter. Sie
verlangt auch kein besonderes neues Vermögen, das man nicht hat.
Die
absolute Realität kann erst dann erfasst werden, wenn wir uns in
die Dauer hineinversetzen, d.h. wenn wir uns auf unser inneres Leben
vertiefen und unsere Aufmerksamkeit auf das Werden, was wir wirklich
sind, konzentrieren. So verstandene Dauer kann nur durch die
Intuition verstanden werden. In diesem Sinne unterstützen sich
die Dauer und die Intuition gegenseitig. Die Intuition, die ihr Ziel
erreicht hat, fällt mit der Dauer zusammen, weil der Unterschied
zwischen Dauer und Intuition dadurch beseitigt wird, dass die
Intuition ihren Gegenstand, d.h. die Dauer ganz erfasst. Wenn die
Intuition ihr Ziel vollständig erreicht, dann hat man nicht mehr
den Unterschied zwischen dem erkennenden Subjekt und seinem
Gegenstand. Subjekt und Objekt sind dasselbe. Dadurch erreicht die
Intuition das Absolute. Absolut ist ein Synonym der Vollkommenheit
(vgl. EM 3)6.
Die „Intuition“ soll einerseits der Weg heißen, der
zu dieser Vollkommenheit führt. Andererseits bedeutet sie aber
auch die Verwirklichung dieser Vollkommenheit, weil das Ziel des
Weges von dem Weg selbst nicht zu trennen ist.
Die
Intuition erstreckt sich von der Materie bis zur mystischen
Gottesschau. Wenn man durch sein ganzes Leben auf sich selbst
konzentriert und alle Kraft seines Seins in einem Punkt
zusammenzieht, dann kann die Spannung seiner Dauer riesig gesteigert
werden und somit ein Berühren des tiefsten Urgrundes des ganzen
Seins geschehen.7
Es wäre dann die mystische Intuition, die Bergson als höchste
Art der Intuition annimmt und in „Die beide Quellen der Moral
undder Religion“
ausführlich behandelt.8
Bergson weist in „Materie und
Gedächtnis“ die verschiedenen Arten der Intuition auf, wie
es verschiedene Spannungsstufen der Dauer gibt. Aber die
verschiedenen Arten der Intuition haben denselben Gegenstand, nämlich
die Dauer. „Ohne Zweifel vermag die Intuition sehr viele
verschiedene Grade der Intensität anzunehmen.“ (DW 146)
Diese Spannungsweite der Intuition ist nach Bergson notwendig; wenn
es sie nicht gäbe, würde sich die Intuition nur in der
höchsten Höhenlage bewegen.
Diese
Spannungsweite der Intuition hängt mit der Anstrengung der
Intuition zusammen. Der Anstrengung der Intuition entspricht die
hemmende oder steigende Kraft des Wollens. Bergson vergleicht die
Intuition in Bezug auf ihre Reinheit mit dem Dämonischen des
Sokrates. Sie verhalte sich im spekulativen Gebiet so wie das
Dämonische im praktischen Leben.9
Diese Intuition erschließt uns den Zugang zu einem tiefen
Grunde des Seins, „zu dem Leben, und beansprucht, es allein
erkennen zu können.“10
Sie hat die Fähigkeit, uns dem Ziele der Erkenntnis, der
Wahrheit näher zu bringen. Damit zusammenhängend nimmt
Bergson an, dass die Intuition eine Erkenntnisquelle des Menschen,
wie der Intellekt, ist.
Nach Bergson macht die Intuition
das Wesentliche der Philosophie aus, obwohl sie im allgemeinen, wie
er selber sagt, als wankend und schwach bezeichnet werden kann. Er
versucht von Anfang an durch seine ganze Lehre, die
Inkommensurabilität zwischen seiner einfachen Grundintuition und
den Ausdrucksmitteln zu beseitigen. Seine ganze Arbeit besteht
darin, diese flüchtige Intuition zu erklären. Sie ist aber
nicht durch die Analyse zu erschöpfen.
Die von Bergson als Maßstab
vorgeschlagene intuitive Methode ist nicht bloße Annahme. Nach
ihm ist sie als Möglichkeit im Bereich des menschlichen Geistes
bewiesen worden. Bergson sieht diese Möglichkeit der Intuition
in der ästhetischen Fähigkeit des Menschen. Im Gegensatz zu
einem durchschnittlichen Menschen, der nur eine Anhäufung der
voneinander getrennten Gegenstände erblickt, hat der Künstler
die Fähigkeit, durch die ästhetische Intuition diese
Getrenntheit zu überwinden, sich in die Gegenstände zu
versenken. Man kann sich in das Innere des Gegenstandes nur durch die
Sympathie versetzen. Diese Anstrengung der ästhetischen
Intuition ermöglicht uns, die gewöhnliche Wahrnehmung und
deren Schranke niederzureißen und das Wesen der Dinge zu
erfassen. Wir können nur durch die ästhetische Intuition
unsere individuelle Begrenztheit überwinden. In ähnlicher
Weise kann die philosophische intuitive Erkenntnis ihren Gegenstand
direkt erfassen und durch solche Sympathie in direkte Gemeinschaft
mit ihm kommen. Die philosophische Intuition ist nichts anderes als
dieser innere Kontakt mit der Wahrheit selbst, sogar: „die
Philosophie ist dieser Elan.“ (DW 144)
Trotz
verschiedener Eigenschaften, die man noch zählen kann, stellt
Bergson fest, dass die Intuition empirisch nicht zu definieren ist.
Bergson lehnt es ab, eine einfache und analytische Definition zu
geben.11
Die Intuition wird sich „nur durch die Intelligenz mitteilen
können.“ (DW 58)12
Obwohl die Intuition durch die Intelligenz mitteilbar ist, braucht
unsere Intelligenz die Intuition, um sich zu korrigieren und sich
wieder zu besinnen. „Sobald wir intuitiv das Wahre erfasst
haben, besinnt sich unsere Intelligenz wieder, korrigiert sich und
formuliert intellektuell ihren Irrtum. Sie hat von der Intuition den
Anstoß bekommen; sie ermöglicht nur die nachträgliche
Kontrolle.“ (Vgl.DW 80) Die Intelligenz kann aber das Absolute
nicht begreifen. Es ist richtig, dass ein Absolutes nur in einer
Intuition gegeben werden kann, während alles übrige zum
Bereich der Analyse gehört. „Wir bezeichnen hier
als Intuition die Sympathie, durch die man sich in das Innere
eines Gegenstandes versetzt, um mit dem, was er Einzigartiges und
infolgedessen Unaussprechliches an sich hat, zu koinzidieren.“
(DW 183) Es gibt bestimmt eine Wirklichkeit, „die wir alle von
innen her durch Intuition und nicht durch einfache Analyse erfassen,
das ist unsere eigene Person in ihrem Fluss durch die Zeit.“
(DW 184) Es wäre ein großer Fehler, wenn man die Intuition
mit der Analyse gleichsetzte. Es ist auch ein großer Irrtum der
Philosophen, die eine Intuition behaupten möchten, aber in einer
seltsamen „Inkonsequenz erwarten sie diese Intuition von der
Analyse, die gerade deren Negation ist.“ (DW 195)
Bergson ist der Meinung, dass der
Mensch neben der Erkenntniskraft des Verstandes noch eine andere
Erkenntniskraft, nämlich Intuition besitzt. Um dies zu
verstehen, muss sich die Erkenntnistheorie am Leben orientieren.
Wir wollen jetzt einen Blick darauf
werfen, wie die Erkenntnis mit der Intuition zusammenhängt. In
diesem Sinne möchten wir auch zeigen, wie der Intellekt ein
Übergang vom Instinkt zur Intuition ist.
Bergson stimmt mit Kant darin
überein, dass alle Erkenntnis nur durch Anschauung und Erfahrung
möglich ist. Aber er versteht unter Anschauung nicht die äußere
Wahrnehmung, sondern eine Besitzergreifung des Geistes durch sich
selbst. Bergson behauptet, dass unsere Erkenntnis weder subjektiv
noch relativ ist. Sie ist nicht subjektiv, weil unsere Erkenntnis
mehr von den Dingen als von uns abhängt, und nicht relativ, weil
zwischen der Erscheinung und dem Ding die Beziehung des Teiles zum
Ganzen, nicht die Beziehung des Scheines zur Wirklichkeit, besteht.
Der
Begriff „Sympathie“ ist ein Schlüsselbegriff zum
Verständnis von Bergsons Erkenntnisphilosophie. Bergson
bezeichnet sie als Bindeglied zwischen der intuitiven Erkenntnis und
ihrem Gegenstand.13
Das erkennende Subjekt setzt sich mit dem Objekt nur durch die
Sympathie, die Bergson als Intuition beschreibt, in Verbindung. Ich
versetze mich dadurch in das Innere eines Gegenstandes, um mit dem,
was er Einzigartiges hat, zusammenzufallen (vgl. DW 182).14
„Wenn die Intuition eine absolute Erkenntnis sein soll, so muss
sie eine Art Sympathie, ein ‚Sichhineinversetzen’ in und
ein ‚Zusammenfallen’ mit dem Gegenstande sein.“15
Diese Tatsache, so meint Bergson, bildet die Grundlage unserer
Erkenntnis überhaupt. Diese Annäherungsmöglichkeit,
die durch die solidarisch-sympathische Verbindung mit den Objekten
zustande kommt, wird von Bergson immer wieder hervorgehoben und auf
die Möglichkeit und Notwendigkeit der Intuition hingewiesen.
Bergson versteht solche Intuition im Gegensatz zum Intellekt als
allgemeine Erkenntnismöglichkeit, als „ein im
gleichen Sinn orientiertes Suchen, das sich das Leben (...) zum
Gegenstand wählt.“ (SE 182)16.
Die Aufgabe der Intuition ist es nicht, den Intellekt zu ersetzen
(weil Intellekt und Intuition zwei Erkenntnisart des Menschen sind);
dessen Erkenntnisbereich erkennt Bergson vollkommen an; nein, es ist
gerade ihre Aufgabe, die Grenzen dieses Bereichs zu erkennen und
abzustecken. Die Intuition hat, nachdem sie den Rahmen der
Verstandesmöglichkeiten abgegrenzt und beschränkt hat, die
Mittel aufzuzeigen, diesen Rahmen wieder zu sprengen, d.h., der
Erkenntnis mächtig zu werden, die dem ‚reinen Intellekt’
allein nicht zugänglich ist. Dieser Aufgabe wird die Intuition
nur in beschränktem Maße (in Verstandesrelationen)
gerecht. Was die Intuition anstelle einer Gewissheit liefern kann,
ist allein eine „Ahnung“ und ein „Gefühl“
(vgl. SE 182).
Der
Intellekt wird so in Bergsons Erkenntnistheorie nicht verneint,
sondern in seinem Rahmen als notwendig erkannt. Bergson akzeptiert
den Intellekt als eine Form der Erkenntnis. Wenn Intellekt und
Instinkt17
Erkenntnisse in sich bergen sollten, so ist Erkenntnis im Fall des
Instinktes eher unbewusst, im Falle des Intellekts eher gedacht und
bewusst. So ergibt sich, dass „diese angeborene Erkenntnis im
ersten Fall auf Dinge, im letzten auf Beziehungen
gehen.“ (SE 153) Der Intellekt als etwas Angeborenes ist die
Erkenntnis einer Form, Instinkt die Erkenntnis eines Stoffes. Wenn
man sich auf den Standpunkt des Erkennens statt des Handels stellt,
sieht man, dass Intellekt und Instinkt zwei „divergierende
Erkenntnisarten“(SE 155) sind. In diesem Zusammenhang machen
Erkennen und Handeln nur verschiedene Aspekte ein und desselben
Vermögens aus. „Instinkt also ist angeborene Erkenntnis
einer Sache. Intellekt dagegen ist die Fähigkeit,
anorganische, d.h. künstliche Werkzeuge zu verfertigen.“
(SE 155)18
Da
der Instinkt dieMaterie einschließt, ist das Wissen des
Instinkts nach Bergson gewissermaßen nichtwissendes Wissen. Es
veräußerlicht sich in bestimmten Umständen, statt
sich zu verinnerlichen. Während die intellektuelle Erkenntnis
die Fähigkeit hat, Schlüsse zu ziehen, lässt sich
instinktmäßige Kenntnis in kategorischen Sätzen
formulieren. Im Gegensatz zur Schlussfolgerung aus Prämissen,
die deduktiv aus der Erfahrung auf das zu Schließende
fortschreitet, die aus den Bedingungen auf das Bedingte schließt,
die nur hypothetisch ausdrückbar ist, bestimmt die
instinktmäßige Erkenntnis die einzelne Gegenstände in
ihrer Stofflichkeit selbst. „Sie sagt ‚dieses Ding ist’.“
(SE 154) Die formale Erkenntnis des Intellekts hat vor der materialen
Kenntnis des Instinkts den Vorteil, dass sie sich füllen kann,
weil sie leer ist. Deswegen bleibt sie nicht auf das Nützliche
beschränkt, obwohl sie im Grunde genommen um praktischer
Nützlichkeit willen auf der Welt erschienen war (vgl. SE 156).
Die
instinktive Kenntnis hat ihre Wurzel in der Einheit des Lebens. Sie
braucht nur erweitert und vertieft zu werden, damit sie die zeugende
Kraft des Lebens erkennen kann. Man hat aber festzuhalten, dass die
instinktive Erkenntnis noch keine intuitive Erkenntnis ist. Die
instinktive Erkenntnis ist spezialisiert zu besonderen Handlungen.
Sie orientiert sich eher auf die Praxis. Deswegen hat der Instinkt
keine Fähigkeit, die vollständige Erkenntnis der Realität
zu geben. Der Instinkt, damit auch die Intuition, kann erst dann eine
Erkenntnis werden, wenn sie die Analyse und Reflexion des Intellektes
in Anspruch nimmt,19
sonst verstummt sie in der Innerlichkeit des bloßen Fühlens,
das sich weder begreifen noch ausdrücken lässt.
Bergson bezeichnet die Intuition in
Bezug auf die Erkenntnis als metaphysische Funktion des Denkens,
nämlich die intime Kenntnis des Geistes durch sich selbst.
Gegenüber diesen geistigen Bereich stellt Bergson die
Intelligenz, die dazu geschaffen ist, die Materie zu erkennen. Sie
ist unfähig, bis zum innersten Wesen des Objekts vorzudringen.
Diese Unterscheidung, die Bergson manchmal zwischen Intellekt und
Instinkt oder zwischen Intellekt und Intuition macht, darf aber gemäß
Bergsons Erkenntnistheorie nicht dazu führen, dass die Intuition
die einzige echte Erkenntnisquelle sei, obwohl sie den anderen
Erkenntnisformen überlegen ist. Bergson versucht zu zeigen, dass
der Intellekt, der uns in die Materie einführt, und die
Intuition, die uns in das Wesen des Lebens als Ganzes versetzt, keine
Gegensätze bilden, sondern sie brauchen sich gegenseitig und
ergänzen sich. Man kann sich weder mit der intellektuellen noch
mit der intuitiven Erkenntnis begnügen. Trotz der Klarheit und
Deutlichkeit der intellektuellen Erkenntnis, fehlt bei ihr die
grundlegende Erklärung, wie der Mensch als erkennendes Subjekt
mit der Zeitlichkeit und Lebensströmung zusammenhängt.
Entgegengesetzt verhält es sich mit der intuitiven Erkenntnis:
Sie lässt den Menschen seine Zeitlichkeit erfahren, Klarheit und
Deutlichkeit lässt sie aber vermissen, solange sie ohne ihre
Partnerin, die intellektuelle Erkenntnis, auftritt. Diese Tatsache
bestätigt, wie wir am Anfang festgestellt haben, dass die
intuitive Erkenntnis ohne intellektuelle Erkenntnis unvollendet
bleibt.
Aufgrund
der Natur der Intuition und des Intellekts entwickelt Bergson in
„Schöpferische Entwicklung“ den Begriff der
philosophischen Intuition. Es ist so zusammenzufassen, dass die
Philosophie zur absoluten Erkenntnis von der Gesamtheit des Seins
strebt. Diese Gesamtheit enthält zwei verschiedene Seinssphären.
Die sind das Leben, das als werdende Realität verstanden wird
und die tote Materie, die als entwerdende Realität gefasst wird.
Der Intellekt kann diese Erkenntnis von der Gesamtheit des Seins
nicht geben, weil er eine bloße Tendenz aus der ganzen
Mannigfaltigkeit von Entwicklungstendenzen und selber ein Entwerden
ist. Dies kann nur von einem Insichaufnehmen von allen Tendenzen des
Seins, d.h. nur durch eine das All umfassende Metaphysik, die sowohl
die Intuition als auch den Intellekt einschließt, geschaffen
werden. Aufgrund der philosophischen Intuition definiert Bergson das
Philosophieren als unmittelbares, intuitives Erfassen der Welt.20
In diesem Sinne soll die Intuition „die Fülle aller
Erscheinungen als Totalität in einem Blick umspannen und
ungeteilt aufnehmen in das Reich des Wissens.“21
Bergson
wird wegen dieser Intuitionslehre mit Recht mehrmals angegriffen. Der
Haupteinwand gegen ihn ist die Unmöglichkeit des Daseins der
Intuition. Es darf solche Intuition, die als unmittelbare, vom
Intellekt freie Realität wäre, nicht geben. Bergson sah
solche Einwände voraus und antwortete auf manche von ihnen. Er
ist der Meinung, dass der Intellekt allein nicht die Realität
begreifen kann. Man kann den Verstand, der begrenzt ist, nicht mit
die Hilfe des Verstandes überholen. Er sperrt uns in den Kreis
des Gegebenen. Die Realität ragt aber darüber hinaus. Wenn
man mit dem Verstand über die Grenzen der Erkenntnis
reflektiert, dann kommt man zum Ergebnis, dass es unmöglich ist,
den Verstand zu überschreiten. Die Wirklichkeit fordert uns aber
immer dazu auf vorwärts zu gehen (vgl. SE 197).22
Begriffe wie Intuition, Instinkt,
Intellekt, Erkenntnis sind bei Bergson aufeinander bezogen. Um die
Beziehung zwischen Intuition und Erkenntnis besser zu verstehen,
sollte man den Zusammenhang zwischen Instinkt und Intellekt in Bezug
auf die Intuition darstellen.
Es
ist eine berechtigte Frage, woraus die Intuition stammt. Wie bringt
Bergson das Verhältnis zwischen Instinkt, Intellekt und
Intuition in Verbindung? Bergson nennt die Intuition den seiner
selbst bewusst gewordenen Instinkt,23
der fähig ist, „über seinen Gegenstand zu
reflektieren und ihn ins Unendliche zu erweitern.“ (SE 181)24
Bergson lässt Instinkt und Intellekt beim Zustandekommen der
Intuition beteiligt sein. In diesem Sinne versteht Bergson die
Intuition als eine Verknüpfung von Instinkt und Intellekt. Es
wäre für uns hilfreich, um die Intuition besser zu
verstehen, wenn man Instinkt und Intellekt genau definieren könnte.
So „lassen [aber] weder Intellekt noch Instinkt strenge
Definitionen zu; sie sind Tendenzen, nicht fertige Dinge.“ (SE
141) Instinkt und Intellekt sind nicht in ganz reinem Zustand
vorzufinden, weil aller „konkrete Instinkt mit Intelligenz
gemischt, und jeder reale Intellekt von Instinkt durchtränkt
ist.“ (Ebd.)
Der
Instinkt und der Intellekt haben aber eine gemeinsame Quelle, nämlich
das Leben (vgl. SE 140). Sie sind in entgegengesetztem Sinne
ausgerichtet, Intellekt auf die Materie, Instinkt auf das Leben. Sie
sind dennoch zwei divergierende Entwicklungen eines und desselben
Prinzips, das im ersten Fall in sich selbst immanent bleibt, im
anderen Fall, sich aus sich selbst heraussetzt und in Benützung
der toten Materie aufgeht. (SE 145)Bergson
betont mehrmals die Fähigkeit der Verfertigung und Benützung
anorganischer Werkzeuge des Intellekts, als ob der Intellekt nur
dazu fähig wäre.Diese
Hervorhebungsart des Intellektswird
von R. Richter mit Recht folgendermaßen kritisiert: „Bergson
ist mit seiner Geringschätzung der ratio als
Erkenntnisorgan zu weit gegangen und hat seine denkerische Funktion
zu bloßer Handlungsarbeit verurteilt, ja, zu mechanistischer
Materialität gemacht, die wir in der Bedeutung für die
Geschichte des Geistes und der Menschheit doch im weiten Maße
anerkennen und positiv bewerten müssen.“25
Bergson formuliert den grundlegenden
Unterschied zwischen Instinkt und Intellekt: „Es gibt Dinge,
die einzig der Intellekt zu suchen vermag, die er jedoch aus sich
selbst heraus niemals finden wird. Diese Dinge finden könnte nur
der Instinkt; er aber wird sie niemals suchen.“(SE 156)
Dementsprechend stellt Bergson die weitere tiefgreifende
Strukturverschiedenheit zwischen Instinkt und Intellekt fest, dass
Instinkt und Intellekt zwei radikal verschiedene Bewusstseinsformen
in sich einschließen. Folglich taucht die Frage auf, in welchem
Grade der Instinkt bewusst ist. Es gibt unzählige Abstufungen
und Unterschiede des Instinkts und dessen Bewusstheit. „Die
Pflanze z. B. hat (...) Instinkte: zweifelhaft aber ist, ob diese
Instinkte von Empfindung begleitet sind. Ja, auch beim Tier findet
sich kaum ein zusammengesetzter Instinkt, der nicht in einem Teil
seiner Maßnahmen wenigstens, unbewusst wäre.“ (SE
148) Aus diesem Grunde betont Bergson ganz deutlich, dass der
Intellekt mehr auf Bewusstsein, der Instinkt mehr auf Unbewusstheit
eingestellt werden kann.
Unser Intellekt richtet sich zuerst
auf die Materie, er denkt nämlich mehr praktisch. Er hat aber
nicht nur diese, sondern auch andere Fähigkeiten. Er kann seine
natürliche Richtung aufgeben und sich selbst zukehren. Ohne
diese Aufgaben zu erledigen, kann er nicht die wahre Kontinuität,
die reale Bewegtheit und die schöpferische Entwicklung denken.
Der Intellekt behandelt alle Dinge
mechanistisch. Der seine natürliche Richtung nicht verändernde
praktische Intellekt bestimmt sich durch eine natürliche
Verständnislosigkeit für das wirkliche Leben, während
der Instinkt sich nach der Form des Lebens gestaltet. Der Intellekt
stellt das Werden als eine Reihe von Zuständen vor, deren jeder
in sich homogen ist und sich nicht verändert. Er anerkennt kein
Unvorhersehbares. (SE 168) Der Intellekt erklärt das
Unvorhersehbare und das Neue durch deren Zurückführung auf
bekannte oder frühere Elemente (deswegen fühlt sich der
Intellekt in der Vergangenheit wohl). Der Intellekt erkennt das
restlose Neue genau so wenig, wie das radikale Werden. Der Intellekt
versäumt hier einen wesentlichen Aspekt des Lebens. Der
Intellekt deckt seine Unzulänglichkeit sofort auf, sobald er an
das Lebendige rührt. „Denn ob es nun darauf ankomme, das
Leben des Körpers oder das Leben des Geistes zu behandeln, immer
verfährt er mit der Schärfe, der Starrheit, der Brutalität
eines Werkzeuges, das zu solchem Gebrauch nicht geschaffen ist.“
(SE 169-170) Durch den so verstandenen Intellekt kann man das
wirkliche Leben nicht verstehen. Der Instinkt sieht aber die Dinge
organisch. Diesem Instinkt kommt das virtuelle Bewusstsein zu. Es
gibt eine Kraft, die dem Leben innewohnt, die gezwungen ist, zwischen
Instinkt und Intellekt zu wählen. Wenn der Instinkt, der auch
Sympathie ist, durch den Intellekt vertieft und erweitert werden
könnte, würde er uns den Schlüssel des
Lebensgeschehens geben. Das Leben, d.h. „das durch die Materie
geschleuderte Bewusstsein“ (SE 186), kann seine Aufmerksamkeit
entweder auf seine eigene Bewegung oder auf die Materie richten, die
‚durchquerte’. „Es orientierte sich so im Sinn der
Intuition einerseits, des Intellekts andererseits. Auf den ersten
Blick nun scheint die Intuition dem Intellekt weitaus vorzuziehen, da
in ihr Leben und Bewusstsein sich selbst immanent bleiben.“ (SE
186) Die Entwicklung des Lebewesens aber zeigt uns, dass das Leben
auf dem Wege der Intuition nicht weiterkommt. Die Intuition muss sich
zum Instinkt verengen, um einen winzigen Ausschnitt des Lebens
umspannen zu können, sie muss das Leben berühren, ohne es
zu sehen.
Der auf die Materie gerichtete
Intellekt kann sich aus diesem Zwang befreien. Da der Intellekt sich
an die äußeren Gegenstände anpasst, gelangt er dazu,
von einem Ding zum anderen überzugehen, die Schranken zu
beseitigen, die ihm entgegenstehen, und sich ins Unendliche zu
erweitern. Der so frei gewordene Intellekt vermag sich „nach
innen zurückzuwenden, und die ihm noch schlummernden
Möglichkeiten der Intuition zu wecken.“ (SE 187) Aus
diesem Gesichtspunkt gewinnt der Mensch innerhalb der bewussten
Geschöpfe eine höhere Stellung. Nachdem sich das
Bewusstsein um der eigenen Befreiung willen in zwei komplementäre
Elemente, „in Pflanze und Tier, hat spalten müssen, suchte
es einen Ausweg in der zweifachen Richtung von Instinkt und
Intellekt: es hat ihn nicht im Instinkt, sondern im Intellekt nur
durch jähen Sprung vom Tier zum Menschen gefunden. (SE 189)
Bergson
stellt ganz deutlich fest, dass die Intuition über den
Intellekt hinauswächst. Trotzdem bleibt doch der Intellekt
bestimmend. „Ohne den Intellekt wäre sie, als Instinkt, an
die besonderen, ihr praktisch wichtigen Gegenstände geschmiedet
geblieben, und wäre durch ihn zu Ortsbewegungen veräußerlicht
worden.“ (SE 182-183)26
Die Funktion des menschlichen
Intellekts ist das Handeln und das Wissen um das Handeln. Er soll
auch mit der Realität in Kontakt treten. Dadurch wird er
verstehen, was das Leben ist. Bergson lehnt in diesem Sinne die
Schilderung des Intellekts von Platon ab. Seine Funktion ist nicht
mehr, sagt Bergson, „leere Schatten vorübergleiten zu
sehen, nicht mehr, jenseits seiner selbst gewandt, das aufglühende
Gestirn zu schauen. Er hat anderes zu leisten.“ (SE 196)
Unser Intellekt stellt deutlich nur
Diskontinuierliches vor, weil man in der Materie nur
Diskontinuierliches findet. Wir haben aber immer mit bewegten Dingen
zu tun. Unsere Handlungen bearbeiten unzweifelhaft die bewegten
Körper. Die Beweglichkeit und deren Fortschreiten sind der Kern
des Lebens aber auch der Natur. Von dieser Beweglichkeit kehrt sich
unser Intellekt ab, weil er kein Interesse daran hat, sich mit der
Beweglichkeit zu befassen. Die Bewegung ist die Realität selbst,
und die Bewegungslosigkeit ist nur scheinbar und relativ. Unser
Intellekt stellt nur die Bewegungslosigkeit vor (vgl. SE 160). In der
Tat kann auch die Kontinuität des Lebens nicht vom Intellekt
gedacht werden. Dies kann nur durch die Intuition verstanden werden.
Trotz
ihrer scheinbaren Überlegenheit ist die Intuition in ihrem
Zustandekommen, in ihrer Nachprüfung und in ihrer Mitteilung vom
Intellekt abhängig. Bergson definiert die Intuition einmal als
eine Rückwendung des Intellekts gegen sich selbst. Es ist eine
Verkehrung gegen seine eigene Richtung, die eher vom Instinkt
angeregt wird, der zwar nicht zum Bereich des Verstandes gehört,
aber auch nicht außer dem Ganzen des Geistes liegt (vgl. SE
179). Zum anderen definiert Bergson die Intuition als einen seiner
selbst bewusst gewordenen Instinkt, der fähig ist, über
seinen Gegenstand zu reflektieren und ihn ins Unendliche zu erweitern
(vgl. SE 181). Es sind zwei sich widersprechende Definitionen, weil
im ersten Fall der Intellekt vom Instinkt zur Intuition angeregt
wird. Im zweiten Fall ist der Instinkt, der mit Verstandesfähigkeiten
ausgestattet wird, die Intuition selbst. Bergson geht auf diesen
Widerspruch nicht ein und gibt keine Erklärung, wie er möglich
wird. Trotz diesem ungeklärten Widerspruch wehrt Bergson sich
streng dagegen, dass seine Intuition als eine Art von Instinkt oder
Gefühl verstanden wird. Er sagt im Gegenteil, dass seine
Intuition Reflexion ist. „Wir verlieren kein Wort über
denjenigen, der meint, dass unsere Intuition Instinkt oder Gefühl
wäre. Keine Zeile von dem, was wir geschrieben haben, legt
solche Auffassung nahe, und in allem, was wir geschrieben haben,
liegt die Behauptung des Gegenteils, nämlich dass unsere
Intuition Reflexion ist.“ (DW106)27
Solche Intuition ist aber nicht
leicht zugänglich. Sie ist erst dann zugänglich, wenn man
die Bedingungen dafür erfüllt oder die nötige
Grundlage vorhanden ist. Diese fundamentale Grundlage wird durch die
Intelligenz konstruiert. Die Intelligenz ist aber in reiner Form
nicht vorzufinden. Man kann in ihr immer mehr oder weniger die
Instinktspuren auffinden, wie auch im Instinkt etwas vom Intellekt
aufzufinden ist. Zum Beispiel begegnen wir bei der Biene, bei der der
Instinkt seine höchste Ausprägung findet, schon Spuren des
Intellekts, weil ihre Handlungen verstandgemäß sind. Sie
verhält sich so, als ob sie wirklich intelligent wäre.
Die
Intelligenz kann nichts Neues schaffen. Sie kombiniert und trennt;
sie verknüpft und koordiniert, aber sie erschafft nichts. „Sie
bedarf eines Stoffes, und dieser Stoff kann ihr nur von den Sinnen
und dem Bewusstsein geliefert werden.“ (DW 152) Die Intuition
kann erst dann ein Wirkungsfeld finden, wenn die Gedankenarbeit der
Intelligenz vorweg schon geleistet ist.28
Die Intelligenz ist nicht nur als Arbeitsgrundlage für die
Intuition wichtig, sondern ist auch bei der Entstehung der intuitiven
Erkenntnis als Wegweiser beteiligt. Neben solcher Eigenschaften hat
der Intellekt noch eine wichtige Funktion, nämlich die
Überprüfung der Intuition, weil sie sich nicht selbst
überprüfen kann. Diese Überprüfung wird durch
Dialektik durchgeführt. „Die Dialektik ist notwendig zur
Nachprüfung der Intuition.“ (SE 242) Denn sie ist es,
welche die Übereinstimmung unseres Denkens mit sich
gewährleistet. Die Dialektik ist nicht nur zur Nachprüfung
der Intuition notwendig, sondern auch für ihre Mitteilung. Sie
ist notwendig, „damit die Intuition sich in Begriffen breche
und anderen Menschen mitteile.“ (SE 242) Die Intuition ist mehr
als eine Idee; sie wird sich jedoch, um sich mitzuteilen, der Idee
bedienen (vgl. DW 58). Das Angewiesensein der Intuition bedeutet aber
nicht, dass sie das Ergebnis oder die Synthese dieser Erkenntnis ist
(vgl. ebd.).
Die Intuition zur Methode der
Philosophie zu erheben, kann unserer Ansicht nach auf zweierlei Art
betrachtet werden. Die Intuition als Methode anzunehmen,
rationalistisch gesehen, bedeutet, von der Objektivität und von
der Allgemeingültigkeit der Methode abzusehen. Denn die
Intuition muss sich, um zu wissenschaftlichen Theorien zu führen
und um irgendwelche Vorstellungen erzeugen zu können, an irgend
eine Begriffsbildung und irgendwelche Kategorien anschließen.
Anders gesagt, es muss die Intuition auf andere Weise, nämlich
stets mittels nicht-intuitiver Elemente formuliert werden. Man kann
Bergsons Begriff, der Intuition als eine Deutung der Welt, als
begrifflich gestaltetes Erlebnis verstehen, anstatt sie mit dem
ganzen Universum in Beziehung zu setzen. Bergsons Intuition will die
Wirklichkeit der Welt oder des Kosmos ergreifen, ohne damit
irgendwelche Bestimmungen zu setzen. Die Folge ist, dass sie eine
ununterschiedene Vielheit von Gedanken, Inhalten und Formen in einer
nicht geklärten Einheit versinken lässt. Da dieser
Charakter der Intuition nicht objektiv bestimmt werden kann, bringt
Bergsons Versuch viele Schwierigkeiten mit sich, die Intuition als
Methode zu begründen.
Auf
der anderen Seite kann die Intuition als das innerste Prinzip der
Welt und des Lebens verstanden werden. Das analytische Denken und der
Intellekt können die Welt nicht als Ganzes erkennen. Sie gehen
vom Einzelnen zum Ganzen. Intuition erfasst dagegen die Realität
als Ganzes, und dann analysiert sie das Einzelne von dieser Realität
ausgehend. Bergson beharrt in diesem Sinne auf seiner These, dass nur
das intuitive Denken die Welt in ihrer lebendigen Ganzheit verstehen
lässt. Demgegenüber begreift das analytische Denken die
Realität ‚im Nacheinander isolierter Beobachtungen und
einzelner Gesetze’. Einstein hat auf ähnliche Weise die
Mängel der wissenschaftlichen Methode bei der Konstruktion der
Wirklichkeit festgestellt. „Physik ist ein in Entwicklung
begriffenes logisches Gedankensystem, dessen Grundlage nicht durch
eine induktive Methode aus den Erlebnissen herausdestillisiert,
sondern nur durch freie Erfindung gewonnen werden kann. Die
Berechtigung (Wahrheitswert) des Systems liegt in der Bewährung
von Folgesätzen an den Sinneserlebnissen, wobei die Beziehung
der letzteren zu ersteren nur intuitiv erfassbar ist.“29
Um die Mannigfaltigkeit der Sinneseindrücke zu ordnen, braucht
man ein konsistentes Begriffssystem. „Dieses Begriffssystem
lässt sich nicht durch Induktion aus den Phänomenen
entwickeln (...), sondern muss gleichsam in seinen Sprung –
oder, wie Einstein sagt, durch Intuition – aufgefunden
werden.“30
W. Heisenberg lässt die Intuition ins Spiel kommen, wenn es um
die Frage geht, ob die Realität der Natur durch eine andere
Erkenntnishaltung, die der naturwissenschaftlichen Methode fremd ist,
anders angesehen werden kann, ob der tiefere Zusammenhang des Lebens
nicht nur durch die Gesetze, sondern durch die Intuition anders
verstanden werden kann. „Die intuitive Schau der tiefen
Zusammenhänge der Natur bedeutet für Heisenberg die
Erkenntnis der Welt der Werte, über die die Naturwissenschaften
schweigen.“31
Es
wäre genauso falsch, wenn man die Intuition völlig
verneint, wie die Auffassung, die die Intuition als einzigen Maßstab
der Wirklichkeit annimmt. Obwohl die Intuition in der Philosophie der
Gegenwart eher nicht als Erkenntnisquelle angenommen wird, wird sie
z. B. für die Physik unersetzbar. So gibt etwa Einstein zu, dass
er zur Entdeckung der Relativitätstheorie durch die Intuition
gekommen sei.32
Er sagt: „Höchste Aufgabe der Physiker ist also das
Aufsuchen jener allgemeinsten elementaren Gesetze, aus denen durch
reine Deduktion das Weltbild zu gewinnen ist. Zu diesen elementaren
Gesetzen führt kein logischer Weg, sondern nur die auf
Einfühlung in die Erfahrung sich stützende Intuition.“33
Die intuitive Erkenntnis muss aber, wie Bergson sagt, durch den
Intellekt kontrolliert und überprüft werden. Diese
Notwendigkeit wurde vor Bergson schon von Goethe erwähnt.
„Obwohl für Goethe die Intuition das höhere Vermögen
ist, braucht sie (...) Intellekt, um präzise Berechnungen
anzustellen. An der Intuition findet das intellektuelle Streben nach
Erkenntnis seine Grenze; die Erkenntnis wiederum weiß sich auf
die strukturierende und begrenzende Kraft des Intellekts
angewiesen.“34
Die Intuition zeigt sich uns in
unserem Alltag, in der Kunst, in der Philosophie, aber auch in der
Naturwissenschaft. Sie hat aber ihre Grenzen und innerhalb ihrer
Grenzen wird sie fruchtbar. Wenn sie aber beansprucht, für alle
Menschen ‚wegweisend’ zu sein, wird sie ihre Grenzen
überschreiten und damit ‚verführend’.
1
Vgl. zur Bergsonschen Fassung der Intuition die ausführliche
Darstellung von W. Meckauer, in: Der Intuitionismus und seine
Elemente bei H. Bergson, Leipzig 1917.
2
J. Benda weist darauf hin, dass Bergson sechs verschiedene Arten von
Intuition allein in der „Evolution Créatrice“ und
in der „Introduction á la Métaphysique“
vertrete. Aus: Le Bergsonisme ou une
philosophie de la mobilité, Paris 1912.
3
Kolakowski, Leszek.: H.Bergson, S. 36.
4
P. Jurevics stellt in diesem Zusammenhang fest, dass der Gegenstand
der Intuition nur ein freier Mensch sein kann. „Das freie ich,
das sich mit der Dauer identifiziert, - also mit einer qualitativen
Mannigfaltigkeit, die fortwährend in Wandlung begriffen ist.
Eine derartige Realität, unzugänglich für eine mit
starren Begriffen operierende Methode, kann in der Tat nur ein
Gegenstand der Intuition sein.“ Aus: Bergson, S. 93-94.
5
Bergson, Henri: Denken und Schöpferisches Denken. Aufsätze
und Vorträge, Meisheim am Glan 1948. Es wird im Text als DW
zitiert.
6
Bergson, Henri: Einführung in die Metaphysik, Jena 1920.
Es wird im Text als EM zitiert.
7
Vgl. Juravics, Paul: Bergson, S. 94.
8
So verstandene Intuition kann seiner Natur nach nur als eine
subjektive Erlebnis nicht als eine philosophische Intuition
betrachtet werden. Bergson sollte hier eine klare Abgrenzungslinie
zwischen mystische- und religiöse Intuitionsart ziehen. Es
genügt nicht zu sagen, dass beide Intuitionsarten verschieden
seien. Diese Abgrenzung findet man leider bei Bergson nicht.
9
„Wie der Dämon des Sokrates sich verhielt, der in einem
bestimmten Augenblick den Willen des Philosophen hemmte und ihn eher
von einer Handlung zurückhielt (...). Es scheint mir, dass die
Intuition sich oft auf spekulativem Gebiet genau so verhält wie
der Dämon des Sokrates im praktischen Leben; zum mindesten
beginnt sie in dieser Gestalt, wie sie sich auch weiterhin in dieser
Art am reinsten offenbart.“ (DW 126).
10
Ingarden, Roman: Intuition und Intellekt bei H. Bergson, in:
Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung,
hrsg. von E. Husserl, Band 5, Halle 1922, S. 285-462, hier S. 393.
11
Bergson wirft hier den philosophischen Empiristen vor, dass sie den
Gesichtspunkt der Intuition mit der Analyse, die nach Bergson die
Negation der Intuition ist, verwechseln, genauso wie derjenige, der
das Original in der Übersetzung sucht. „Man endigt so
notwendigerweise in der Negation, aber bei näherem Zustand
bemerkt man, dass die Negationen nur einfach bedeuten, dass die
Analyse keine Intuition ist, was sich von selbst versteht. Von der
ursprünglichen und übrigens unklaren Intuition, die der
Wissenschaft ihren Gegenstand liefert, geht diese sofort zur Analyse
über, die in Bezug auf diesen Gegenstand die Gesichtspunkte bis
ins Unendliche vermehrt.“ (DW 195) Vgl.
auch dazu Le Senne, René: L`Intuition Morale d`après
H. Bergson, in: Revue Philosophique, Paris 1941, S. 218-243.
12
L. Kolakowski hat Bergson so verstanden, dass er meinte, die
Intuition sei gar nicht mitteilbar, im Gegensatz zu Bergsons
Aussage, die Intuition sei in Grenzen mitteilbar.
13
Vgl. Chevalier, Jean: Bergson, Paris 1926, S. 65.
14
C. Hilpert lehnt eine solche Möglichkeit ab. Die menschliche
Erfahrung könne nicht in Dinge eindringen. Sie könne
lediglich die Erscheinung der Dinge erfassen. Leben und Materie
bleiben solcher Intuition verschlossen, so dass sie auch nicht an
das Absolute rühren könne. Aus: Die Unterscheidung der
intuitiven Erkenntnis von der Analyse bei Bergson, S. 89f.
M. Merleau-Ponty nimmt
in diesem Sinne die Intuition nicht als neuen Erkenntnisakt an und
hält es für einen Irrtum Bergsons, dass das meditierende
Subjekt mit dem Gegenstand seiner Meditation zu verschmelzen
vermöge. Vgl. Phänomenologie der Wahrnehmung,
Berlin 1966, S. 87.
15
Ingarden, Roman: Intuition und Intellekt bei H. Bergson, S.
378.
16
Bergson, Henri: Schöpferische Entwicklung, Jena 1912. Es
wird im Text als SE zitiert.
17
Nach Bergson ist es unmöglich, eine vollständige
Beschreibung des Instinkts zu machen. Nach ihm sind Instinkt und
Intellekt voneinander nicht scharf zu unterscheiden. Denn jeder
konkrete Instinkt ist mit Intelligenz gemischt, während „jeder
reale Intellekt von Instinkt durchtränkt ist. Überdies
lassen weder Intellekt noch Instinkt strenge Definitionen zu; sie
sind Tendenzen, nicht fertige Dinge.“ (SE 141) Trotzdem gibt
Bergson einige Definitionen: „Vollendeter Instinkt ist das
Vermögen der Anwendung ja des Aufbaus organischer Werkzeuge.“
(Ebd. 145) „Instinkt ist (...) angeborene Erkenntnis einer
Sache.“ (Ebd. 155) Bergson ist aber gegen die Auffassung, dass
der Instinkt mit dem Intellekt gleichzusetzen ist (vgl. SE
179-180). Man muss hier feststellen, dass Bergson die Unterschiede
zwischen Instinkt und Intellekt deutlich und klar bestimmen sollte.
18
Im ähnlichen Sinne betont Cassirer die Bedeutung des Werkzeugs
für die geistige Existenz des Menschen. „Das Werkzeug
gehört nicht mehr, wie der Leib und seine Gliedmaßen,
unmittelbar dem Menschen zu: es bedeutet ein von seinem
unmittelbaren Dasein Abgelöstes- ein Etwas, das in sich Bestand
hat, einen Bestand, mit dem es selbst das Leben des Einzelmenschen
weit überdauern kann.“ Aus: Form und Technik, in:
Symbol, Technik, Sprache, Aufsätze aus den Jahren 1927-1933,
hrsg. von E. W. Orth und J. M. Krois, Hamburg 1985, S. 64.
19
Vgl. Vrhunc, Mirjana: Bild und Wirklichkeit, S. 120.
20
Vgl. Rickert, Henri: Die Philosophie des Lebens. Darstellung und
Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit,
Tübingen 1920, S. 23.
21
Kroner, Richard: Henri Bergson, in: Logos. Internationale
Zeitschrift für Philosophie und Kultur, hrsg. von G. Mehlis,
Band I (1910/11), S. 125-151, S. 125.
22
Vgl. Juravics, Paul: Bergson, S. 100.
23
Bergson gibt weniger Ansatzpunkt für das Erklären des
Verhältnisses zwischen Instinkt und Intuition. “Bergson
says comparatively little explicitly about the relations between
instinct und intuition, but he does make clear that intuition is a
development of instinct.” Lacey, A. R.: Bergson, S.
150, London/New York 1989.
24
Vgl dazu Lavelle, Louis.: La Pensée religieuse de Bergson,
in: Revue Philosophique, S. 143 und Rideau, Emile.: Le
Dieu de Bergson, S. 11f.
25
Richter, Rudolf: Intuition und intellektuelle Anschauung bei
Schelling und Bergson, Eschenhagen 1929, S. 51.
26
Vgl. auch dazu Millot, Albert: L`intérêt pédagogique
de la doctrine de Bergson, in: Revue Philosophique, S. 320.
27
Vgl. dazu Rolland, Emile: La Finalité morale dans le
Bergsonisme, S. 140.
28
Vgl. Goldstein, Julius: Henri Bergson und Sozialwissenschaft,
in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 31 (1910),
S. 1-22, S. 5.
29
Einstein, Albert: Aus meinen späten Jahren, Stuttgart
1979, S. 105.
30
Kather, Regine: Spinozas Einfluss auf Ethik und Anthropologie A.
Einstens, in: Studia Spinoza 9 (1993), S. 275-294, S. 278.
31
Kather, Regine: Eine kleine Geschichte der Intuition, S. 116.
32
Vgl. Einstein, Albert:Mein Weltbild, hrsg. von C.
Seelig, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1981, S. 109.
33
Ebd., S. 110f.
34
Kather, Regine: Ebd., S. 115.
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