Erschienen in Ausgabe: No 68 (10/11) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Jörg Bernhard Bilke
Dieses Buch musste geschrieben werden! Es ist der erste
Bericht einer Betroffenen über Zwangsadoptionen von DDR-Kindern, die ihren
Müttern aus politischen Gründen weggenommen und, unter Auslöschung der
Vorgeschichte, fremden Familien übereignet wurden, die als staatstreu und
SED-nah galten. Als das Nachrichten-Magazin „Spiegel“ im Dezember1975 in zwei
Beiträgen darüber berichtete, wurde der Ostberliner Korrespondent Jörg Mettke wegen
„grober Verleumdung“ am 16. Dezember 1975 ausgewiesen, ein untrügliches Indiz
dafür, dass dieses Verfahren staatlich organisierten Kinderraubs tatsächlich
praktiziert wurde, nachdem es von Margot Honecker, der „Ministerin für
Volksbildung“ 1963/89, per Gesetz sanktioniert worden war. Die mit dem
Mauerfall 1989 gestürzte Ministerin konnte, ohne jemals für ihre Verbrechen
bestraft worden zu sein, 1992 über Moskau nach Chile ausreisen, wo sie noch
immer mit einer deutschen Rente ihren Lebensabend verbringt. Die Opfer aber, es
sind inzwischen 75 000 Fälle aktenkundig, leiden bis heute darunter, was ihnen
der sozialistische Staat Entsetzliches angetan hat.
Katrin Behr beispielsweise, im Sommer 1967 im
ostthüringischen Gera geboren, wurde am 7. Februar 1972, als sie vier Jahre alt
war und ihr Bruder Mirko sechs, von fünf Männern und einer Frau im Morgengrauen
aus dem Schlaf gerissen und mit ihrer Mutter (24) zum Marktplatz getrieben.
Dort standen wartend zwei Dienstwagen der „Volkspolizei“, die Mutter wurde in
Handschellen weggefahren, die Kinder von einer Mitarbeiterin der „Jugendhilfe“
zur Großmutter gebracht, wo sie eine knappe Woche auf die Überstellung in ein
staatliches Vorschulheim warten mussten. Von diesem Heim aus wurde das völlig
verstörte Kind einem Hausmeisterehepaar vermittelt, das es nach einer Nacht
zurückschickte ins Kinderheim. Dort verkroch sich das Mädchen in dunklen Ecken,
um stundenlang zu weinen. Schließlich erfuhr sie von einer Erzieherin, dass
ihre Mutter eine „Staatsverräterin“ wäre und niemals zurückkäme. Diese
unverständlichen Erklärungen versetzten sie in entsetzliche Angstzustände,
zumal sie deshalb auch noch von den anderen Kindern und den Erzieherinnen
verspottet wurde („Heulsuse, Heulsuse“).
Der zweite Versuch einer Adoption wurde im Sommer 1973
vorgenommen. Eine Kinderärztin aus Stadtroda in Thüringen, frisch geschieden,
nahm Katrin auf und zog wenige Wochen später mit ihr nach Gadebusch in
Mecklenburg, auch Bruder Mirko sollte mitadoptiert werden. Aber schon im
Oktober 1973 gab die Pflegemutter, sichtlich überfordert von der
Erziehungsarbeit, auf und brachte Katrin zurück ins Kinderheim nach Gera. Die
Rückgabe als „unerwünscht“ nahm ihr den letzten Rest von Geborgenheit, sie fiel
in „blanke Verzweiflung“, als sich auch die Großmutter von ihr abwandte. Dass
das alles im SED-Auftrag (die Großmutter war Parteimitlied) geschah, konnte sie
nicht wissen und hätte es als Kind auch nicht verstanden. Was ihrer Mutter 1972
zugestoßen war und warum sie im Gefängnis landete, erfuhr sie ohnehin erst
Jahrzehnte später, nach dem Mauerfall von 1989, als sie 2003 von Ostberlin nach
Gera zurückgekehrt war und im Archiv der dortigen Adoptionsvermittlungsstelle
die Erlaubnis zur Akteneinsicht bekommen hatte. Das hieß aber nur, dass ihr die
Sachbearbeiterin in vier Sitzungen aus den zwei Kladden vorlesen durfte, dass
ihre Mutter, als „Staatsfeindin“ verurteilt, von 1973 bis 1978, also mehr als
vier Jahre, im „Roten Ochsen“ zu Halle hatte einsitzen müssen. Begründet wurde
die Verurteilung mit dem Schlagwort „Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch
asoziales Verhalten“. Den Unterlagen war aber nur zu entnehmen, dass die junge
Mutter gelegentlich, wenn ihre Kinder krank gewesen waren und der mütterlichen
Fürsorge bedurft hatten, nicht zur Arbeit erschienen war, was als
„Arbeitsbummelei“ und schließlich als „asoziales Verhalten“ galt. Da im
Sozialismus Arbeitspflicht herrschte, war sie verhaftet, verurteilt und
weggesperrt worden.
Der dritte Versuch einer Adoption, der zum Jahreswechsel
1973/74 erfolgte, musste gelingen, dennKatrin war von ihren Erzieherinnen eingeredet worden, wenn auch ihre
neuen Adoptiveltern sie als „unerwünscht“ zurückbrächten, müsste sie für immer
im Heim bleiben. Weihnachten 1973 schon durfte sie bei ihren neuen Eltern
verbringen,und spürte sofort einen
Hauch von Geborgenheit, wonach sie sich fast zwei Jahre gesehnt hatte. Umso
erschrockener war sie dann, als sie am 2. Januar 1974 mit Gewalt ins Heim
zurückgebracht wurde: „Meine Kräfte reichten nicht zur Gegenwehr. Am Ende saß
ich im sanften Klammergriff auf dem Schoß der Frau, die ich zeitweilig schon
für meine neue Mutter gehalten hatte, während der Mann, der sich als mein neuer
Vater ausgegeben hatte, den Wagen steuerte – in eine mir nur zu bekannte
Gegend. Tatsächlich tauchte nach kurzer Fahrt vor der Windschutzscheibe das
altvertraute Kinderheim auf.“Der Grund,
was dem Kind hätte erklärt werden können, war der vorerst noch fehlende Platz
in der Kindertagesstätte!
Die neuen Eltern wohnten in Gera-Langenberg und waren
stramme Genossen, die kinderlose Mutter arbeitete als Russischlehrerin und
Parteisekretärin an der Polytechnischen Oberschule „Bruno Kühn“, benannt nach
dem Bruder Lotte Ulbrichts, dem Widerstandskämpfer Bruno Kühn (1901-1944); der
Vater, einer Arbeiterfamilie aus Bad Köstritz entstammend, war Maurer gewesen,
hatte sich aber zum Architekten hocharbeiten können; zu ihm konnte Katrin, die
zwölf Jahre in dieser Familie lebte, ein Vertrauensverhältnis aufbauen, das
freilich immer wieder Anfechtungen ausgesetzt war. Zur Mutter fand sie nie, trotz
eifriger Bemühungen, die an Selbstaufgabe grenzten, eine gute Beziehung. Sie
hatte nämlich, obwohl sie noch Kind war, eine Unmenge häuslicher Pflichten zu
erledigen, die noch zunahmen, als 1977 Halbbruder Sören geboren wurde; zum
Spielen und Lesen blieb kaum die Zeit. Die Mutter jedenfalls ging völlig in
Beruf und Parteiarbeit auf, das Adoptivkind, das sich nach Liebe und Geborgenheit
sehnte, hatte, in ein Netz von Verboten eingespannt, die lästige Hausarbeit zu
erledigen. Die Genossin Mutter interessierte nicht der gegenwärtige Mensch mit
seinen Ängsten und Nöten, sondern nur der zukünftige Mensch des Kommunismus,
der noch zu erschaffen war!
Aber obwohl die neue Adoptivmutter offensichtlich dem
Parteiauftrag nachkam, die „Tochter einer rebellischen Staatsgegnerin in die
sozialistische Gesellschaft zu integrieren“, erlebte Katrin in dieser
privilegierten, weil staatstragenden Familie auch Dinge, die ihr die echte
Mutter nicht hätte bieten können. Plötzlich hatte sie wieder eine liebevolle
Großmutter und eine Menge neuer Verwandter, das Haus war von einem
wunderschönen Garten umgeben, der zum Spielen einlud. Nach einem Schwächeanfall
mit Fieber, den ihr überforderter Körper erlitt, war sie in der Kinderklinik
gesund gepflegt worden, durfte danndie
Eltern zum Skifahren nach Oberwiesenthal im Erzgebirge begleiten, verlebte glückliche
Sommertage 1974 am Schwielowsee bei Potsdam und wurde pünktlich am 1. September
1974, wie DDR-üblich, in die erste Klasse der Schule ihrer Pflegemutter
aufgenommen. Sie wurde, auch das DDR-üblich, „Junger Pionier“ und
„Thälmann-Pionier“, durfte im Sommer 1977 mit Kindern der Baubrigade ihres
Vaters nach Rostock-Lüttenklein ins Ferienlager fahren und trat schließlich mit
18 Jahren der SED bei, weil ihr Ehemann Politoffizier auf der Insel Rügen war.
Trotz aller Widrigkeiten, die Katrin Als Adoptivkind in
Gera-Langenberg überstehen musste, hatte sie es eigentlich mit ihren
Pflegealtern noch ganz gut getroffen! Hätte sie im Heim bleiben müssen wie ihr
Bruder Mirko, der nie adoptiert wurde, hätte sie sich, wie sie selbst schreibt,
zu einer „introvertierten Einzelgängerin“ entwickelt, menschenscheu,
misstrauisch, verschlossen, ohne Selbstwertgefühl. So aber wurde sie in eine
privilegierte Familie aufgenommen, die einem „kleinbürgerlich geprägten
Realsozialismus“ huldigte, wo „Westfernsehen“ streng verboten war. Dass Katrin
im Lauf ihrer sozialistischen Erziehung das positive DDR-Bild ihrer Eltern
übernommen hat, wird man ihr nicht vorwerfen können. Die völlig andere
DDR-Sicht ihrer politisch verfolgten Mutter lernte sie erst 1991 kennen.
Offensichtlich war sie auch eine fleißige und strebsame
Schülerin, was ihr Selbstbewusstsein und neuen Lebensmut verschaffte, denn je
älter sie wurde, desto hartnäckiger strebte sie nur noch ein Ziel an, möglichst
rasch durch Heirat die ungeliebte Familie zu verlassen. Ihr Status als
„Außenseiterin“, der sich nach der Geburt des Bruders 1977 noch verstärkte,
machte sie aber auch zur wachsamen Beobachterin ihrer Umgebung. So lernte sie
im Sommer 1974 Onkel Otto, den zehn Jahre älteren Bruder ihrer Mutter, kennen,
der eine Datsche am Motzener See besaß. Später erfuhr sie, dass er und alle
anderen Datschenbesitzer ringsum hohe Offiziere des „Ministeriums für
Staatssicherheit“ waren. Nachdenklich machte sie auch, dass ihre Mutter sie
immer aus dem Haus schickte, wenn ein bestimmter Herr in Zivil zu Besuch kam.
Später, nach dem Mauerfall, konnte sie in den Akten lesen, dass ihre Mutter
MfS-Offizieren Auskünfte gab über die Schüler der Oberklassen. Als ihr Vater
zum Jahreswechsel 1974 für mehrere Wochen verschwand, wurde ihr erklärt, er
würde „durch Bauarbeiten von uns ferngehalten“. In Wirklichkeit saß er „wegen
Diebstahls sozialistischen Eigentums“ in Untersuchungshaft. Er hatte
Baumaterial abgezweigt und an Angehörige der „privilegierten
Funktionärsschicht“ verschoben. Seine Auftraggeber aber ließen ihn nicht
hängen, er kam mit einer Bewährungsstrafe davon. Ein DDR-Durchschnittsbürger
mit diesem Delikt wäre für Jahre im Gefängnis verschwunden!
Das Buch ist angefüllt mit solchen Geschichte aus dem
Innenleben der DDR-Nomenklatura! Katrins Schilderung ihrer Jugendweihe 1982 im
Geraer Stadttheater, der ein gemeinsamer Besuch der Gedenkstätte Buchenwald
vorausging, um die sozialistischen Konfirmanden politisch einzustimmen, ist
eine Glanzleistung! Ein Jahr später, als sie den Berufswunsch „Heimerzieherin“
geäußert hatte, absolvierte sie zwei Praktiken in Geraer Kinderheimen, aber
ihre intrigierende Mutter, die sich mit der Amtsärztin verbündet hatte, redete
ihr den gewählten Beruf aus. So entschied sie sich dann dafür, Krankenschwester
zu werden und lernte 1986 über eine Anzeige in der NVA-Zeitschrift
„Armeerundschau“ ihren späteren Mann Olaf kennen, der die Offiziersschule in
Löbau/Sachsen besucht hatte, jetzt in Prora auf Rügen stationiert war und in
Binz wohnte. Dass er Politoffizier mit Stasi-Verbindungen war, erfuhr sie erst
später. Aber sie heiratete ihn in Arnstadt, dem Wohnort seiner Eltern, am 14.
November 1986, weniger aus Liebe, sondern weil er weit weg von Gera und ihren
Adoptiveltern wohnte.
Die Ehe, in der zwei Kinder geboren wurden, scheiterte und
wurde am 24. August 1995 geschieden. Als Ehemann Olaf im Spätsommer 1989, als
der SED-Staat dem Untergang entgegen trieb, eine politische Schulung in
Ostberlin begann, die bis zum Jahresende dauern sollte, fiel die Berliner
Mauer, was er Katrin wie beiläufig am 10. November in Binz mitteilte. Sie hatte
das auf Rügen nicht mitbekommen:“Ich jubelte nicht und holte auch keinen Rotkäppchen-Sekt
aus dem Schrank, ich schaute nur sprach- und verständnislos meinen Mann an.“
Der wurde dann im Januar 1990 im Rang eines Majors von der „Nationalen
Volksarmee“, die jetzt ohnehin aufgelöst wurde, entlassen und bekam eine
vergleichbare Planstelle bei der „Reichsbahn“ in Arnstadt. Katrin aber fuhr
voller Ängste mit einer Kollegin aus dem Krankenhaus auf einen Tagesausflug
nach Lübeck, kassierte ihr Begrüßungsgeld, konnte es aber, verwirrt vom
„kapitalistischen“ Warenangebot, nicht ausgeben.
Vor der Geburt ihres zweiten Kindes im Mai 1990 war ihr vom
Arzt geraten worden, wegen einer vermuteten Erbkrankheit eine Blutprobe ihrer
leiblichen Mutter zu besorgen. Dass der Wohnort, ein Dorf bei Greiz in
Thüringen, so einfach über das Geraer Jugendamt zu ermitteln war, hatte sie
nicht gewusst. Nun aber packte sie die Angst vor dieser Begegnung, weshalb sie
fast ein Jahr zögerte, ehe sie am 6. April 1991, über zwei Jahrzehnte nach der
Verhaftung, aufbrach, um ihre verschollene Mutter zu besuchen. Dort wurde sie
überaus herzlich aufgenommen, erfuhr Wärme, Liebe und ein ungeahntes
Glücksgefühl. Zugleich wurde ihr aber auch eine völlig andere DDR gezeigt, die
Nachtseite des Sozialismus, als ihre Mutter von ihren Zuchthaus- und
Verfolgungsjahren berichtete, das waren für Katrin „Erzählungen aus einem
unbekannten Land“.
Sie konnte sich aber auch in die Situation der Mutter
versetzen, der die wiedergefundene Tochter, sozialistisch erzogen, wie eine
„Abgesandte aus dem Lager ihrer Verfolger“ vorkommen musste, zumal der
staatstreue Schwiegersohn Olafauch
„einer von denen“ gewesen war. Auch die Schilderung der Begegnung mit ihrer
Mutter ist ein Meisterstück in diesem Buch! Dass sie, auf Versöhnung versessen,
ihre beiden Mütter zur Aussprache an den Kaffeetisch bat, musste freilich
scheitern: Die Gräben zwischen der Vertreterin der „herrschenden Klasse“, die
die Macht hatte, Kinder von ihren Eltern zu trennen, und der politisch
Verfolgten, die sich nicht dagegen wehren konnte, waren zu tief!
Katrin Behr ist heute eine selbstbewusste Frau, die nicht
„an meinem Selbstmitleid ersticken“, sondern aktiv das noch kaum erforschte
Thema „Zwangsadoption“ aufarbeiten wollte. Im November 2007 setzte sie ein
Portal und eine Homepage ins Internet und gründete im Februar 2008 in Berlin
den Verein „Hilfe für die Opfer von DDR-Zwangsadoptionen“: „Ich wollte
Menschen, die in einer ähnlichen Situation steckten, helfen. Daher dachte ich
über die Möglichkeiten nach, wie ich die zerrissenen Lebensfäden, die die DDR
hinterlassen hatte, wieder miteinander verknüpfen und dabei ausfindig machen
konnte, was damals wirklich geschehen war.“ Wer sie aufsuchen will, findet sie
in ihrer Dienststelle in der Frankfurter Allee 187 in 103 65
Berlin-Lichtenberg, Telefon: 030/55 77 93 54, e-mail: Behr@ uokg.de
Katrin Behr „Entrissen. Der Tag, als mir die DDR meine
Mutter nahm“, Droemer-Verlag, München 2011, 304 Seiten, 16.00 Euro
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