Erschienen in Ausgabe: No 68 (10/11) | Letzte Änderung: 25.04.14 |
Interview mit Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung a. D., mit der Tabula Rasa, Zeitung für Gesellschaft und Kultur
von Norbert Blüm
Herr
Dr. Blüm, Sie sprechen in Ihrem Buch „Ehrliche Arbeit, Ein Angriff auf den
Finanzkapitalismus und seine Raffgier“ von der Liturgie der Globalisierung! Die
Rede ist aber auch von der Infantilisierung der Gesellschaft, was ist damit
gemeint?
Das Herzwort des Neoliberalismus ist das Wort „Mehr“ und
immer „Mehr“. Ohne Wachstum ist die neoliberale Welt nicht denkbar. Das ist aber
eine kindliche Illusion. Und das Wesen der Erziehung muss es sein, zu lernen, dass
die Welt Grenzen sowie das Leben Grenzen hat. Der heutige Finanzkapitalismus
ist von der Raffgier erfaßt und hat sich damit von der wirklichen Welt
entfernt. Die Finanzmärkte übertreffen bei weitem die Wertschöpfung, sie laufen
seit Jahren der Wertschöpfung davon, und dies ist ein kindliches Denken, das
gerade zusammenbricht.
Sie
rechnen in „Ehrliche Arbeit“ mit dem Finanzkapitalismus ab! Wie kann man in der modernen Welt sinnvoll
gegen den homo oeconomicus kämpfen und warum ist die neoliberale
Nutzenmaximierung vernunftwidrig?
Weil dieser homo oeconomicus eine Kunstgestalt ist, die es
gar nicht gibt – der Mensch hält es nicht aus, immer zu kalkulieren, immer zu
rechnen. Liebe, Vertrauen, Solidarität, die besten Sachen, die wir Menschen
kennen, haben mit Nutzenmaximierung rein gar nichts zu tun. Wenn einer eine
Beziehung angeht, mit der Frage, was er davon hat, soll er gleich damit aufhören.
Und insofern befriedigt diese Art von Weltanschauung die tiefen Sehnsüchte der
Menschen nicht, sie ist deshalb auch nur von einer beschränkten Lebensdauer. Der
Mensch lässt sich diese Reduzierung auf Nutzenmaximierung nicht gefallen, ihm
gefällt es nicht, dass er ständig rechnen muss. Für mich ist dieser
Schnäppchenjäger, zu dem wir ja konditioniert werden, der Prototyp dieser neuen
Welt, in der der Mensch ständig die Preise vergleicht. Ein Mensch, der
dazu gezwungen ist, morgens drei Stunden früher aufzustehen, um die Preise von
Lidl und Aldi zu beobachten – wir haben doch Besseres zu tun.
Früher
forderten Sie einen Kampf gegen die Vergesellschaftung der Wirtschaft, wie
stehen Sie heute dazu?
Man muß den Spieß umdrehen. Ich habe früher zu recht gegen
die Sozialisierung der Wirtschaft gesprochen, also die Vergesellschaft der
Wirtschaft, heute muß ich mich gegen die Verwirtschaftung der Gesellschaft
aussprechen. Es gibt kaum noch einen Bereich, der inzwischen nicht von
Privatisierung, Deregulierung und Wettbewerb bestimmt wird. Selbst der
Kernbereich des Staates ist schon erfasst, es gibt Justizvollzugsanstalten, wo
der Strafvollzug privaten Firmen übergeben wird. In Amerika gibt es mehr private
Macht als staatliche Polizei, im Irak mehr Söldner als staatliches Militär. Das
sind aber nur Symptome. Alles gerät unter das Diktat der Wirtschaft – selbst
die Ehe. Wir reduzieren diese als Lebensabschnittspartnerschaft, weil
irgendwann jemand anderes kommen könnte, der noch besser ist, also können wir
uns nicht festlegen.
Welche
Aufgabe könnte nach dem Scheitern von Sozialismus und Kapitalismus der
Katholischen Soziallehre zukommen?
Dort, wo ihr Platz immer war. Gleich weiten Abstand zu
halten zwischen Individualismus und Kollektivismus; der Kapitalismus wie der
Kommunismus, sie haben nur eine Seite des Menschen im Blick, und die haben sie
für das Absolute erklärt, der Kapitalismus – das Individuum und der Kommunismus
das Kollektiv. Die christliche Soziallehre hingegen sieht den Menschen in
seiner Ganzheit, in seiner Doppelgesichtigkeit, er ist sowohl Individuum mit
individuellen Rechten und Pflichten wie Sozialwesen mit sozialen Rechten und
Pflichten. Und diese Balance muss ständig neu eingependelt werden. Im Moment
hat die Welt eine Schlagseite zu einem losgelassenen Individualismus und
dagegen muss sich die Katholische Soziallehre wenden. Dies beginnt damit, dass
sie auch die großen Institutionen des sozialen Lebens stärkt, beispielsweise
die Familie, die gerade ruiniert wird. Um ein Beispiel zu geben: Nach dem
jüngsten Bundesgerichtshofsurteil soll eine Frau, die bisher halbtags
gearbeitet hat, jetzt ganztags arbeiten, um Unterhalt zu erhalten, mit anderen
Worten, die Mutter mit Kind soll genauso viel arbeiten wie der Vater ohne Kind.
Hieraus lässt sich nur schlußfolgern, dass Erziehungsarbeit offenbar gar keine
Arbeit ist. Hier zeigt sich schon sehr deutlich wie die Familie unter die
Gesetze des Arbeitsmarktes gestellt wird.
Was
verstehen Sie unter der neuen sozialen Verantwortung? Wie soll der künftige
Sozialstaat konkret aussehen?
Das wichtigste Prinzip, dass wir aktivieren und vitalisieren
müssen, ist die Subsidiarität, eine gegliederte Gesellschaft also, nicht eine
uniformierte. Subsidiarität darf nicht isoliert werden, sonst führt dies zu
einem Missverständnis. Subsidiarität funktioniert nur im Zusammenhang mit der
Solidarität. Ohne Solidarität hängt die Subsidiarität in der Luft, die
Subsidiarität ist das Kompetenzprinzip der Solidarität. Sie gliedert die Gemeinschaft
nach der Vorfahrtsregel – zuerst die kleineren Gemeinschaften, deshalb fängt Gliederung
der Gesellschaft bei der Familie an, deshalb müssen wir mehr
Sozialversicherungen, nicht staatliche steuerfinanzierte Alterssicherheit und
nicht kapitalgedeckte Privatversicherungen fördern – und auch nicht reine
Privatversicherungen. Sozialversicherung also, und die kann selbst verwaltet
werden, ohne Tarifautonomie; wir haben die Sozialpartner dezimiert, dies ist ja
als Tarifkartell attackiert worden, trotzdem nimmt die Tarifpartnerschaft dem
Staat Arbeit ab, sie ist also eine subsidiäre Einrichtung. Ich will drei
Institutionen nennen: Familie, solidarische Sozialversicherung, die selbst
verwaltet wird, und Tarifpartnerschaft. Und wenn man an das große Europa denkt,
kann diese Idee nur mit Hilfe des Prinzips der Subsidiarität gelingen. Europa funktioniert
weder mit nationalstaatlichem Egoismus noch mit größtem Zentralismus, sondern
nur mit einer gestuften Verantwortung.
Was
heißt, daß die Ordnung der Dinge der Ordnung der Personen untergeordnet werden
soll? Was verstehen Sie unter einem Sozialstaat, der auf dem Selbstbewußtsein
der Personen beruht?
Dies ist ein Kernsatz eines großen Konzilsdokumentes –
„Gaudium et Spes“. Darin ist die ganze Katholische Soziallehre verdichtetet;
nämlich dass der Mensch, die Person, wichtiger als irgendeine Sache ist. Am
Menschenbild entscheidet sich das Schicksal einer Gesellschaft. Was ist der
Mensch? Ist er ein autark-autonomes Wesen, was machen kann, was es will, oder
hat es Verantwortung gegenüber Gott und den Mitmenschen? Also die Person muss wiederum
einen gleich weiten Abstand zu Individualismus und Kollektivismus halten, die
Person ist der Platzhalter einer Integration des sozialen und des individuellen
Wesen des Menschen. Zwar muss die Katholische Lehre einen Beitrag zur Zeit
leisten, darüber hinaus aber hat sie einen zeitlosen Kern – die Würde der
menschlichen Person, und diese Würde hat ihren letzten Anker darin, dass sie
Abbild Gottes ist, eine höhere Würdigung gibt es gar nicht. Das gilt für alle
Menschen dieser Erde, ohne Ausnahme. Dieses Abbildsein, nicht vom Staat,
sondern von Gott gegeben, das ist unser stärkstes Bollwerk zur Verteidigung des
Menschen.
Beispiel
Atomkraft! Wo sehen Sie hier die Dialektik der Aufklärung am Werk?
Bei diesem Thema habe ich dazugelernt. Ich war immer der
Meinung, die Atomkraft sei die Spitzentechnologie der Zukunft, aber nicht erst
seit Fukushima muss man darüber nachdenken, dass bis heute keine Antwort auf
die Frage der Entsorgung gegeben wurde. Wir überlassen diese den nachfolgenden
Generationen, ohne ihnen dafür eine Antwort geben zu können. Mit anderen
Worten: Wir handhaben etwas, dass wir nicht beherrschen – und dies halte ich tatsächlich
für Magie, das ist Beschwörung. Statt Beherrschung – Beschwörung. Wir haben
aber nicht nur Verantwortung für die Lebenden, sondern auch für die künftigen
Generationen, wir können diesen doch kein Müll hinterlassen, von dem wir nicht
wissen, wie sie diesen entsorgen, hinterlassen.
In
Ihrem neuen Buch nehmen Sie immer wieder Bezug zu den unterschiedlichsten
Philosophen, Sie haben selbst Philosophie studiert und gelehrt. Haben Sie einen
Favoriten, von dem Sie sagen könnten, dessen philosophisches Denken für Ihr
Leben und Denken prägend war?
Nein. Die Philosophie ist so groß, dass sie die Wahrheit nie
ganz hat, die Wahrheit ihr nicht ganz erscheint. Deshalb nähern sich die
unterschiedlichsten Philosophien von allen Seiten dem vom uns nie ganz zu
erfassenden Begriff der Wahrheit an. Ich würde mich daher weigern, eine
Hierarchie aufzumachen. Allerdings gebe ich zu, dass meinem Lebensverständnis das
Denken des Thomas von Aquin in der Nachfolge des Aristoteles entspricht. Thomas
von Aquin unterscheidet sich vom platonischen Idealismus mit Aristoteles, dass
er die Ideen in den Sachen sucht. Und vom Materialismus unterscheidet ihn, dass
die Ideen, das Wesen, unser Telos ist, das, wohin wir uns entwickeln sollen,
während der Materialismus jede Idee als gestaltgebend abstreitet. Thomas von
Aquin bleibt für mich der Vertreter der aristotelischen Mitte.
Sie
haben bei dem heutigen Papst Benedikt XVI. Theologie studiert! War er ein
strenger Lehrer?
Nein. Ich habe ihn in Bonn als jungen Theologieprofessor
kennengelernt. Dort war er für die Bonner Studenten eine Ausnahmegestalt, weil
er mit großer Zartheit die kompliziertesten theologischen Fragen mit sanfter
Stimme erklärt hat. Ratzinger kommt selbst ja aus der Tradition des heiligen
Augustinus, und dies ist eine Tradition, in deren Mittelpunkt die Liebe steht: „Liebe
und dann tue, was du willst“, dies ist der schönste Satz des Heiligen Augustinus’,
dies ist kein Satz der Willkür, denn richtig voll zu lieben, heißt Anerkennung
des Anderen; Benedikt XVI. ist ein Papst, der von seiner theologischen Herkunft
auch starke Brücken zum Luthertum bauen kann, denn auch Luther war von
Augustinus und dessen Gnadenlehre stark beeinflußt.
„Dumm
ist der Konservatismus nicht“ – so darf ich Sie zitieren, warum brauchen wir
diesen Konservatismus in den Tagen des anything goes, der großen Beliebigkeit?
Ich bin von Herkunft und Gemüt gar kein Konservativer, ich
habe mich immer als progressiven Menschen verstanden. Ich entdecke nur
plötzlich im Alter, dass möglicherweise die Welt zu bewahren die neue Maxime
des Fortschrittes und der Zukunft ist. In einer Zeit der großen Veränderungen
geht es eigentlich um Entschleunigung, weil wir sonst vor lauter Tempo, vor
lauter Bäumen, den Wald nicht mehr sehen. Ich habe auch entdeckt, dass Sachen
zu verteidigen, die gut sind, Tapferkeitsfragen sind. Das tapfer und modisch
nicht nur der ist, der was Neues will, sondern auch der, der Altes, Gutes
verteidigt. Deshalb glaube ich, müssen wir in diesen Turbozeiten die Beweislast
umdrehen. Nicht mehr das Alte muss beweisen, dass es besser ist als das Neue,
sondern das Neue muss beweisen, dass es besser ist. Ich bin ja nicht für
Stillstand, natürlich gibt es Veränderung, aber wer etwas verändern will, hat
die Beweislast, dass das, was verändert werden soll, dass das Ziel der
Veränderung also besser ist als das Bestehende. Wir müssen die Beweislast
umdrehen, weil wir sonst kopflos, verrückt werden. Das Bewahren geht vor
Verändern, trotzdem bleibt die Welt nicht stehen. Wir sind nie am Ziel, aber
mit der Entschleunigung würde es uns weitaus besser gehen.
Herzlichen
Dank für das Gespräch, das Dr. Stefan Groß führte
Mehr
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„Ehrliche Arbeit. Ein Angriff auf den Finanzkapitalismus und
seine Raffgier“, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe
Random House GmbH, München 2. Auflage, 2011. ISBN: 978-3-579-06746-9.
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