Erschienen in Ausgabe: No 68 (10/11) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Julian Nida-Rümelin
Herr Professor
Nida-Rümelin, Sie haben als Präsident der Deutschen Gesellschaft für
Philosophie dem diesjährigen Kongress das Thema „Welt der Gründe“
vorangestellt. Warum sollten wir 2011 darüber reflektieren und was ist diese
„Welt der Gründe“?
Die Frage ist, was eigentlich im Zentrum philosophischer
Forschung, philosophischen Nachdenkens steht. Da gibt es verschiedene
Antworten, aber eine, die mir ganz plausibel erscheint, ist: im Zentrum der
gesamten Philosophie, auch wie sie sich heute darstellt, steht die Frage nach
der Vernünftigkeit, Vernünftigkeit des Handelns, Vernünftigkeit des Urteils,
der Überzeugung, vielleicht auch eine Vernünftigkeit der Gefühle, es gibt
gegenwärtig eine Renaissance der Philosophie der Gefühle. Von daher eint dieses
Thema viele sehr unterschiedliche Forschungsbereiche und auch Ansätze.
Daher trägt die Kongressüberschrift auch nicht den Titel
„Raum der Gründe“, um das Thema nicht zu stark an Wilfrid Sellars, John McDowell, Robert Brandom
anzubinden, also an eine analytische, aber zugleich von Hegel und Kant
beeinflußte Strömung in der amerikanischen Philosophie – die Sellarsschule, zu
der auch Richard Rorty gehört. Das hier gewählte Thema ist zentral für den Pragmatismus.
John Dewey hat einstmals für viele irritierend gesagt, dass
man Demokratie als große Forschungsgemeinschaft verstehen muss, dass man
gemeinsam, möglichst objektiv und fair, zu erfahren sucht, wie die Realität
ist, um daraus Perspektiven für die Gemeinschaft in einem öffentlichen
Gespräch zu entwickeln. Auch John Deweys Konzeption der Philosophie ist ganz
auf die Welt der Gründe ausgerichtet.
Der Kantianismus, der Neukantianismus, der deutsche
Humanismus des 19. Jahrhunderts, man kann den ganzen Deutschen Idealismus als
eine Philosophie der Gründe interpretieren, aber auch in der analytischen
Philosophie, zu der ich mich im weitesten Sinne zähle, spielt der Begriff eine
zentrale Rolle.
Ein spezifischer Anlass, dieses Thema zu wählen, war und ist
eine Feuilletondebatte, genauer: die Debatte zwischen Neurowissenschaft und
Philosophie. Dabei geht es letztendlich auch um die Frage nach der
Königsdisziplin. Ich selbst halte diese Diskussion für ziemlich abwegig, es
gibt keine Königswissenschaft mehr, jede Wissenschaft hat ihre eigenen Paradigmen
und Methoden. Obgleich die Philosophie im 19. Jahrhundert noch diese
Leitbildfunktion hatte - mittlerweile haben sich die Einzelwissenschaften aus
ihr jedoch herausgelöst und emanzipiert. Unterdessen ist die Philosophie eine
Disziplin neben anderen, allerdings mit einem sehr spezifischen Profil. Eine
der wichtigsten Aufgaben, die die Philosophie heute leistet, ist die Klärung der
Fragen: was ist ein guter Grund etwas zu glauben, was ist ein guter Grund etwas
zu tun, was ist ein guter Grund für bestimmte Emotionen. Diese normativen und auch
logischen Fragen kann die Neurowissenschaften nach meiner festen Überzeugung mit
Sicherheit nicht übernehmen, nie – auch wie sie heute aufgestellt ist. Insofern
habe ich in einem Streitgespräch mit dem Hirnforscher Wolf Singer gesagt: es
gibt keine Königswissenschaft, die Neurowissenschaft ist genausowenig
Königswissenschaft wie die Philosophie, aber beide haben eine wichtige und
integrierende Rolle, sie müssen sich wechselseitig befruchten.
Der abgedruckte Text ist ein Auszug eines längeren
Interviews mit Professor Dr. Julian Nida-Rümelin, Staatsminister a. D., das demnächst
in voller Länge hier erscheint.
Interview: Dr. Stefan Groß
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