Erschienen in Ausgabe: No 68 (10/11) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Teresa Tammer
1.
Einleitung – Der Fall Demjanjuk
„Jetzt, am Ende meines Lebens, versucht Deutschland -
die Nation, die ohne Gnade und grausam Millionen unschuldiger Menschen ermordet
hat - meine Würde, meine Seele, meinen Geist und mein Leben auszulöschen mit
einem politischen Schauprozess und dem Versuch, mich, einen ukrainischen
Bauern, für die Verbrechen, die Deutsche im Zweiten Weltkrieg verübt haben,
schuldig zu sprechen.“1
Der Fall
John Demjanjuk zeigt, wie schwierig es ist, die Zusammenarbeit zwischen
Einheimischen und ihren deutschen Besatzern während des Zweiten Weltkriegs zu
bewerten. 1920 wurde Iwan Mykolajowytsch Demjanjuk in einem ukrainischen Dorf
geboren. Er diente in der Roten Armee und kam 1942 in deutsche
Kriegsgefangenschaft. Aus der Gefangenschaft wurde er als „Hilfswilliger“
rekrutiert, von der SS ausgebildet und in nationalsozialistischen
Konzentrations- und Vernichtungslagern als Wachmann eingesetzt. Nach dem Krieg
wanderten er und seine Familie in die USA aus. Bereits in den 1980er Jahren
wurde in Israel gegen Demjanjuk ein Prozess geführt, in dem ihm vorgeworfen
wurde, im Lager Treblinka an der Massenvernichtung von Juden beteiligt gewesen
zu sein. Er wurde zum Tode verurteilt. Später stellte sich jedoch heraus, dass
es sich um eine Verwechslung handelte. 2009 wurde Demjanjuk auch von der
deutschen Staatsanwaltschaft angeklagt. Das Urteil wurde im Mai 2011 verlesen,
demnach John Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord an 28.000 Menschen im
Vernichtungslager Sobibór in Polen schuldig gesprochen und zu fünf Jahren Haft
verurteilt wurde.2
John Demjanjuk empfindet sich selbst – wie in obigem Zitat deutlich wird – als
Opfer der Deutschen. Sie brachten Not und Zerstörung in seine Heimat, für sie
habe er Zwangsarbeit leisten müssen und nun wollten sie ihn, einen ukrainischen
Bauern, für die eigenen Verbrechen verantwortlich machen.
Mit der Verurteilung erklärte das Gericht Demjanjuk zum
Täter. Die Komplexität des Falls bleibt jedoch bestehen. Wie kann jemand, der
zuvor in der Roten Armee gegen die deutschen Besatzer seiner Heimat gekämpft
hat, sich in den verbrecherischen Dienst der Nationalsozialisten begeben? Die
folgende Darstellung wird diese Frage nicht beantworten können, doch versucht
sie, die Bedingungen der ukrainischen Bevölkerung vor und nach dem Überfall der
Deutschen auf die Sowjetunion 1941 nachzuzeichnen, die Gründe für die
Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern und die Vielschichtigkeit dieses
Themas aufzuzeigen.
In den
Ausführungen Frank Golczewskis wird der Widerspruch, der in der ukrainischen
Kooperation mit den deutschen Besatzern liegt, deutlich: Einerseits geht er
davon aus, dass ohne die Hilfe durch die einheimische Polizei und Verwaltung
die Beherrschung und Ausbeutung des Landes niemals möglich gewesen wären.
Andererseits seien es die Deutschen gewesen, die die Voraussetzungen zur
Durchführung der Verbrechen geschaffen hätten.3
Diese scheinbare Unvereinbarkeit bildet die Problematik ab, die auch hinter dem
Prozess gegen John Demjanjuk steht. Die Deutschen haben den Krieg begonnen, sie
besetzten fremde Länder und unterwarfen ihre Bevölkerungen. Mancherorts, so beispielsweise
in der Ukraine, wurden die deutschen Truppen jedoch beim Einmarsch 1941 von
Teilen der Bevölkerung mit Freude und Hoffnung auf ein besseres Leben
empfangen. Die Realität der deutschen Besatzungsherrschaft war hingegen eine
andere. So führten die Not der Besatzungssituation, die Angst vor Gewalt und
die Erfahrung von Unterdrückung durch die vorhergehende Beherrschung zu
opportunistischen Verhaltensweisen der Einheimischen. Zudem stießen die Pläne
der Nationalsozialisten, bestimmte Menschengruppen zu vernichten oder
auszubeuten, auch auf Zustimmung der davon profitierenden Bevölkerung.
Gleichzeitig muss erwähnt werden, dass keine Verallgemeinerung die Realität
zutreffend beschreiben würde und die einzelnen Motive der Zusammenarbeit nicht
isoliert voneinander betrachtet werden können.
Im
Weiteren soll statt „Kollaboration“ der Terminus „Kooperation“ verwendet
werden. Als Kollaboration wird gemeinhin jede Art der Zusammenarbeit mit einer
Besatzungsmacht bezeichnet. Christoph Dieckmann weist in der Einleitung des
Buches Kooperation und Verbrechen. Formen der "Kollaboration" im
östlichen Europa 1939 – 1945 (2003) jedoch darauf hin, dass der Begriff
während des Zweiten Weltkriegs die Bedeutung des Verrats am eigenen Volk
erhalten habe und politisch aufgeladen sei. Da die Geschichtsschreibung – wie
auch diese Arbeit – nicht nur den Fall des negativ konnotierten Landesverrats,
sondern auch vielfältige andere Formen der freiwilligen und erzwungenen
Zusammenarbeit zwischen Besatzungsmacht und Bevölkerung untersuchen und
deutlich machen wolle, einigten sich die Autoren des Bandes auf den
unverfänglicheren Begriff der „Kooperation“.4
Im
Folgenden wird ein kurzer Abriss der verschiedenen Besatzungsherrschaften in
der Ukraine gegeben, um zu verdeutlichen, welchen Erfahrungshorizont die
Menschen 1941 hatten. Danach werden Formen und Motive der ukrainischen
Kooperation beleuchtet. Der Arbeit liegt die These zu Grunde, dass in
Anbetracht der historischen Gegebenheiten eine klare Opfer-Täter-Dichotomie
nicht aufrecht zu erhalten ist.
2. Die
Ukraine unter verschiedenen Besatzungsmächten im 20. Jahrhundert
Die
Gebiete der heutigen Ukraine gehörten vor dem Ersten Weltkrieg zum russischen
Zarenreich und zur österreichisch-ungarischen Monarchie. Da Österreich während
des Ersten Weltkriegs ukrainische Militärverbände zuließ und gegen Russland
einsetzte sowie im Frieden von Brest-Litowsk die Unabhängigkeit eines
ukrainischen Staates anerkannte, galt es den Ukrainern, im Gegensatz zu Russland,
fortan als Unterstützer.5
Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der Habsburgermonarchie versuchten
ukrainische Nationalisten einen unabhängigen Staat zu gründen. Dies scheiterte
jedoch und Teile der heutigen Westukraine gingen an Polen, Ungarn und die
Tschechoslowakei. Mittel- und Ostukraine einschließlich der östliche Teil
Wolhyniens gelangten in den sowjetischen Einflussbereich. Die Bestrebungen
ukrainischer Nationalisten, diesen Zustand zu ändern, blieben bestehen. Zudem
erfuhr die ukrainische Bevölkerung sowohl unter polnischer als auch unter
sowjetischer Herrschaft politische, soziale und kulturelle Benachteiligungen.
Die Hungersnot in der Sowjetukraine Anfang der 1930er Jahre, die mehr als vier
Millionen Opfer unter der bäuerlichen Bevölkerung forderte, verstärkte
antisowjetischen Tendenzen und prägte sich tief in das Gedächtnis der Menschen
ein. Ursachen für den Hunger waren die Folgen der von der Sowjetregierung
durchgesetzten Kollektivierung der Landwirtschaft sowie die bewusste
Verschärfung der humanitären Katastrophe durch Unterlassung von
Hilfeleistungen. In den polnisch regierten Gebieten der Westukraine förderte
eine Zwei-Klassen-Gesellschaft die Entstehung radikaler ukrainischer
Jugendgruppen. 1929 gründete sich aus diesen und anderen nationalistischen
Gruppen die Organisation Ukrainischer Nationalisten (ukrainisch: Організація
Українських Націоналістів, kurz: OUN). Ab den 1930er Jahren trat die OUN offen
gegen Polen, Juden und nicht-nationalistische Ukrainer auf, wobei sie auch vor
militanten Übergriffen nicht zurückschreckte.6
Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs hofften demzufolge viele Ukrainer auf eine
Neuordnung Europas und damit verbunden auf einen eigenen Staat.
Der
Hitler-Stalin-Pakt, der am 24. August 1939 unterzeichnet wurde, teilte das
östliche Europa in eine deutsche und eine sowjetische Einflusssphäre auf. Mit
Kriegsbeginn im September 1939 gelangten fast alle Gebiete, in denen Ukrainer
lebten unter sowjetische Herrschaft. Neben der bereits existierenden
Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (USSR), gehörten nun auch
Ostgalizien und Westwolhynien zum sowjetischen Machtbereich. Die ukrainische
Bevölkerung in den zuvor polnisch dominierten Gebieten ließ dies zunächst auf
eine Besserstellung hoffen.7
Stalins Vorgehen gegen die Eliten traf nämlich vor allem Polen, deren bis dahin
bestehende soziale Vorrangstellung damit gebrochen war. Die „Befreiung“ der
Ukrainer von der polnischen Unterdrückung war eine der Rechtfertigungen für den
sowjetischen Einmarsch. Obschon es zu einer Ukrainisierung von Schulen und
Universitäten kam und auch die griechisch-katholische Kirche vorerst keine
Einschränkungen erlebte, regte sich bei den Bauern allmählich Widerstand gegen
die sowjetischen Besatzer. Die ab 1940 auch hier durchgeführte Kollektivierung
der Landwirtschaft hatte daran einen nicht unerheblichen Anteil. Die OUN, die
als einzige Widerstandsbewegung gegen die Sowjetunion im Untergrund weiter
bestand, gewann in dieser Zeit zunehmend an Mitgliedern und Sympathisanten.8
Mit dem
Überfall des nationalsozialistischen Deutschland auf die Sowjetunion wurde die
Westukraine im August 1941 dem Generalgouvernement zugeschlagen. Ein zweiter
Teil der ukrainischen Gebiete wurde zum Reichskommissariat Ukraine (RKU) und
einer dritter blieb unter deutscher Militärverwaltung. Wurde der Einmarsch der
Deutschen von weiten Teilen der Bevölkerung noch begrüßt, schwand jedoch nach
den ersten Wochen und Monaten zunehmend die Hoffnung auf Freiheit und
Mitspracherechte für Ukrainer. 9
Andreas
Kappeler macht deutlich, welcher Zweck der Ukraine innerhalb der
nationalsozialistischen Ostpolitik zugedacht war. Die Menschen und das Land
sollten für die deutschen Kriegszwecke ausgebeutet werden. Erich Koch,
Reichskommissar im neuen RKU, gab 1942 bekannt: „Es gibt keine freie Ukraine.
Das Ziel unserer Arbeit muß sein, daß die Ukrainer für Deutschland arbeiten und
nicht, daß wir das Volk hier beglücken.“10
Die Landwirtschaft sollte Getreide, Milch und Fleisch liefern. Junge Frauen und
Männer wurden ins Deutsche Reich zur Zwangsarbeit deportiert.
Der Krieg
und die deutsche Besatzung waren vor allem auch verbunden mit Terror und
Gewalt. Unter den Soldaten der Roten Armee, die in deutsche
Kriegsgefangenschaft gerieten, war eine große Anzahl Ukrainer, so auch John
Demjanjuk. Die katastrophalen Umstände in den Kriegsgefangenenlagern und der
von den Deutschen einkalkulierte Tod von Häftlingen durch Verhungern führten
dazu, dass es nur geringe Überlebenschancen gab. Insgesamt starben zwischen 2,6
und 3,3 Millionen Rotarmisten, die bis 1945 in deutsche Gefangenschaft gerieten.11
Hinzu kam
die Vernichtungspolitik gegenüber Juden. Die Westukraine war einer der
Hauptschauplätze des Holocaust. Erschießungen, Mordaktionen, Pogrome,
Zwangsarbeitslager, Ghettos sowie die nationalsozialistischen Vernichtungslager
Sobibór und Bełżec waren hier Teil der systematisch durchgeführten Auslöschung
von Menschen.12
Sie hatte das Ende der ukrainischen Juden als einer bedeutenden
Bevölkerungsgruppe zur Folge.13
Zugleich
arbeiteten Einheimische in allen gesellschaftlichen und politischen Bereichen
mit den Besatzern zusammen. Ukrainer betätigten sich u.a. als Übersetzter,
Sekretärinnen, Verwaltungsbeamte, Hilfspolizisten und Wachmänner. In Anbetracht
der oben beschriebenen Kriegs- und Besatzungssituation stellt dies, flüchtig
betrachtet, einen Widerspruch dar. Wie im Folgenden näher erläutert wird, gab
es sowohl pragmatische als auch ideologische Gründe zu kooperieren. In vielen Fällen
war es auch schlichtweg der Wille zu überleben.
3.
Motive für die Kooperation mit den deutschen Besatzern
Die
Besatzer waren auf die Mitarbeit einheimischer Institutionen und Personen
angewiesen, da der Personalbedarf zur Durchsetzung von Herrschaft und Kontrolle
von den Deutschen nicht abgedeckt werden konnte.14
Die Gründe für die Bereitschaft, mit den Deutschen zusammenzuarbeiten, waren
vielfältig. Zum einen war es Opportunismus und die Hoffnung auf bessere Lebensverhältnisse.
Damit einher ging meist die Ablehnung des sowjetischen Systems. Des Weiteren
bot der Dienst bei den deutschen Besatzungsbehörden höhere Lebensmittelrationen
und den Schutz vor der Zwangsrekrutierung zum Arbeitseinsatz ins Deutsche
Reich.
Die
Unterscheidung zwischen „freiwilliger“ und erzwungener Kooperation kann in den
meisten Fällen nicht eindeutig getroffen werden.15
Besonders deutlich und auch relevant für den Fall Demjanjuk wird dies anhand
der Tatsache, dass auch für Kriegsgefangene ab 1941 die Möglichkeit bestand,
deutschen militärischen Verbänden beizutreten. Die Motivation der Gefangenen
lag auf der Hand. Sie entkamen dadurch dem täglich drohenden Tod durch
Verhungern in den Lagern.16
Die Kooperation mit den Besatzern war aber auch insoweit notwendig, da nur auf
diese Weise die grundlegende Versorgung der Bevölkerung gesichert werden
konnte. Sie ging jedoch in der Ukraine weit darüber hinaus.
Als die
Deutschen 1941 die Sowjetunion überfielen und in Richtung Lemberg
einmarschierten, war das Bataillon Nachtigall, das aus
national-ukrainischen Freiwilligen bestand, an ihrer Seite.17 Hinzu kamen ukrainische
Schutzmannschaften und Hilfspolizisten, die Judenerschießungen durchführten,
Zwangsarbeiter rekrutierten und die Bevölkerung unter Kontrolle halten sollten.
Laut Golczewski waren die „einheimischen Helfer“ direkt an den Morden beteiligt
oder sie „erleichterten den Deutschen ihre Taten.“18
1942 standen ca. 100.000 ukrainische „Hilfswillige“ unter deutschem
Militärbefehl.19
Die
ukrainische Kooperation muss zudem unter einem weiteren wichtigen Aspekt betrachtet
werden: dem ukrainischen Nationalismus. Bereits seit dem Ersten Weltkrieg gab
es Bestrebungen innerhalb der ukrainischen Nationalisten mit Deutschland zu
kooperieren, da damit die Hoffnung verbunden war, eine ukrainische Staatsnation
zu gründen.20
Frank Golczewski nennt fünf Gründe, die die Kooperation mit den Deutschen
nahelegten: Erstens sahen ukrainische Nationalisten die Gründung eines
ukrainischen Staates als den Schlüssel zur Lösung aller sozialen und politischen
Probleme und damit als ihre Hauptaufgabe an. Die Deutschen betrachteten sie als
Helfer in dem Prozess. Zweitens galten Österreicher seit dem Ersten Weltkrieg
als Unterstützer der ukrainischen Nationalbewegung. Dagegen wurden drittens
Juden, Polen und Russen als Gegner dieser Bewegung angesehen. Viertens hielten
ukrainische Nationalisten Russen für ihre Hauptgegner und waren bereit, sich
mit deren Feinden zu verbünden. Fünftens war unter der ukrainischen Bevölkerung
ein unpolitischer Antisemitismus verbreitet, der sich mit der Vorstellung vom
„jüdischen Bolschewismus“ verbinden ließ.21
Die
NS-Politik hatte kein Interesse an einer eigenständigen ukrainischen Nation,
doch konnte sie sich vorherrschende Spannungen sowie antisemitische und
antipolnische Tendenzen zunutze machen.22
Es wurde zu Anfang tatsächlich der Eindruck verstärkt, als "Befreier"
und "Partner" der ukrainischen Bevölkerung gekommen zu sein. So
erließ Reichsführer SS Heinrich Himmler am 25. Juli 1941 den Befehl
„Schutzformationen aus den genehmen Volksteilen“ aufzustellen, mit denen in
erster Linie Ukrainer gemeint waren. Die unverzüglich einsetzende Verfolgung
von Juden und Polen ließ die Ukrainer an eine Besserstellung glauben und
beruhigte ihre Zweifel an den neuen Machthabern.23
Überdies
hatte die deutsche Vernichtungspolitik eine gewisse Vorbildfunktion, die die
Lösung ethnischer Konflikte vorführte. Dies und die neue Realität des Krieges,
in dem das gesellschaftliche Zusammenleben nicht mehr funktionierte wie vorher,
prägten das Vorgehen der ukrainischen Nationalisten. Selbst als es im Herbst
1941 zum Bruch mit den Deutschen kam, nutzten sie die neue Situation zur
Durchsetzung eigener Interessen. Die Ukrainische Aufstandsarmee (ukrainisch:
Українська Повстанська Армія, kurz: UPA) ging ab Frühjahr 1943 zu gezielten
Mordaktionen gegen Polen und sowjetische Partisanen über. In Ostgalizien
begannen derartige "Säuberungen"24
im Sommer 1943.25
Zu einem
erneuten Wandel im Vorgehen der Deutschen kam es ab Winter 1943/44. Wehrmacht
und SS bauten nun wieder auf die Zusammenarbeit mit OUN-Verbänden und der UPA, um
dem gemeinsamen Feind, der Roten Armee, entgegenzutreten.26 Die Bereitschaft der deutschen
Militärverbände mit den ukrainischen Nationalisten zu kooperieren, hatte
demnach zweckrationale Gründe. Sie diente immer nur der Durchsetzung eigener
Interessen und nicht der Förderung einer ukrainischen Nationalstaatlichkeit.
Die nationalsozialistische Herrschaft konnte nur noch bis Herbst 1944 gegen die
vorrückenden sowjetischen Truppen aufrechterhalten werden.
4.
Fazit
Die Arbeit
war überschrieben mit der provokanten Frage, ob ukrainische „Kollaborateure“
als Opfer oder Täter zu bezeichnen sind. Da es hier jedoch zunächst darum gehen
sollte, die Ereignisse, ihre Ursachen und Folgen zu betrachten, wurde der
Begriff „Kooperation“ verwendet. Das Ereignis ist die Zusammenarbeit der
einheimischen Bevölkerung mit der deutschen Besatzungsmacht während des Zweiten
Weltkriegs. Als Ursachen wurden die Erfahrungen der Ukrainer unter vorheriger
Beherrschung und die Verbreitung eines ukrainischen Nationalismus, wie auch die
repressive Politik der Deutschen nach dem Einmarsch 1941, mit der sich die
Menschen arrangieren mussten, aufgeführt. In der Folge konnten die deutsche
Besatzungsherrschaft überhaupt erst installiert, die Vernichtung der Juden
„effektiv“ und planmäßig durchgeführt und der Krieg gegen die Sowjetunion
fortgesetzt werden.
Welche
Anwendung soll/muss nun dieses Wissen, das Teilen der ukrainischen Bevölkerung
ein Mitwirken an den Verbrechen der Deutschen attestiert, finden? Die Justiz
traf im Fall Demjanjuk ein eindeutiges Urteil, demzufolge der Angeklagte zum
„Täter“ erklärt wurde und eine Strafe verbüßen muss. Diese Arbeit vertritt
jedoch den Standpunkt, dass es immer die Deutschen waren, die die Bedingungen
für eine Kooperation stellten, die einen neuen Referenzrahmen des Möglichen
schufen und zur Beteiligung an Verbrechen aufriefen. John Demjanjuk war in
deutscher Kriegsgefangenschaft und hätte dort wie Millionen anderer
sowjetischer Soldaten ums Leben kommen können. Muss daher der Schluss gezogen
werden, Demjanjuk sei ein „Opfer“ gewesen?
Nein, die
Erkenntnis ist, dass „Opfer“ und „Täter“ Kategorien sind, die die vergangene
Realität stark vereinfachen. Aus juristischer Perspektive oder für das
kollektive Gedächtnis mögen sie eine berechtigte bzw. identitätsstabilisierende
Funktion einnehmen, doch für eine historische und die hier vorliegende
Betrachtung sollte am Ende die Aufweichung der Opfer-Täter-Dichotomie stehen.
1Teil der
Erklärung John Demjanjuks vor dem Gericht am 22. Februar 2011 in München.
„Kriegsverbrecher-Prozess: Demjanjuk droht mit Hungerstreik“, 22. Februar 2011,
http://www.focus.de/politik/ausland/kriegsverbrecher-prozess-demjanjuk-droht-mit-hungerstreik_aid_602288.html.
2„Demjanjuk zu
fünf Jahren Haft verurteilt“, 12. Mai 2011, http://www.faz.net/artikel/C30923/ns-kriegsverbrecherprozess-demjanjuk-zu-fuenf-jahren-haft-verurteilt-30336744.html.
3Vgl.:
Golczewski, Frank: Die Kollaboration in der Ukraine, in: Dieckmann, Christoph
u.a. (Hg.): Kooperation und Verbrechen. Formen der "Kollaboration" im
östlichen Europa 1939-1945, Göttingen 2003, S. 182.
4Vgl.: Dieckmann,
Christoph u.a. (Hg.): Kooperation und Verbrechen, S. 11ff.
5Vgl.:
Golczewski, Frank: Die Kollaboration in der Ukraine, S. 152.
6Vgl.: Bruder,
Franziska: Geschichtspolitik in der Ukraine. »Die unabhängige Ukraine entdeckt
für sich und die ganze Welt ihre wahre Geschichte«, in: Flierl, Thomas/ Müller,
Elfriede (Hg.): Osteuropa. Schlachtfeld der Erinnerungen, Berlin 2010, S. 175f.
7Kappeler,
Andreas: Kleine Geschichte der Ukraine, München 1994, S. 216.
8Vgl.: Ebd., S.
215f.
9Vgl.: Boeckh,
Katrin: Stalinismus in der Ukraine. Die Rekonstruktion des sowjetischen Systems
nach dem Zweiten Weltkrieg, Wiesbaden/Harrasowitz 2007, S. 74.
10Zitiert nach
Kappeler, Andreas: Kleine Geschichte der Ukraine, S. 218.
11Vgl.: Hartmann,
Christian: Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland 1941/2,
München 2010, S. 568.
12Vgl.: Bruder,
Franziska: Geschichtspolitik in der Ukraine, S. 176f.
13Ebd., S. 219.
14Vgl.:
Golczewski, Frank: Die Kollaboration in der Ukraine, S. 172.
15Vgl.: Boeckh,
Katrin: Stalinismus in der Ukraine, S. 78f.
16Vgl.:
Golczewski, Frank: Ukrainische Reaktionen auf die deutsche Besetzung 1939/41,
in: Benz, Wolfgang/ Houwink Cate, J. Th M. Ten/ Otto, Gerhard: Anpassung,
Kollaboration, Widerstand. Kollektive Reaktionen auf die Okkupation, Berlin
1996, S. 208.
17Vgl.: Bruder,
Franziska: Geschichtspolitik in der Ukraine, S. 175f.
18Golczewski,
Frank: Die Kollaboration in der Ukraine, S. 182.
19Boeckh, Katrin:
Stalinismus in der Ukraine, S. 78.
20Vgl.: Dieckmann,
Christoph u.a. (Hg.): Kooperation und Verbrechen, S. 17.
21Golczewski,
Frank: Die Kollaboration in der Ukraine, S. 152f.
22Vgl.: Bruder,
Franziska: Geschichtspolitik in der Ukraine, S. 177.
23Golczewski,
Frank: Ukrainische Reaktionen auf die deutsche Besetzung 1939/41, S. 208f.
24Timothy Snyder
bezeichnet die Tötung und Vertreibung der Polen durch die Ukrainer aus
Wolhynien und Galizien 1943 als „ethnical cleansing“. Er meint damit die
Schaffung ethnisch „reiner“ Gebiete und nicht ,wie der Begriff Genozid es nahelegt,
die physische Auslöschung einer Gruppe. Vgl.: Snyder, Timothy: The
Causes of Ukrainian-Polish Ethnic Cleansing 1943, in: Past & Present,
179/2003, S. 197-234, hier S. 197.
25Bis 1946 kamen
bei den Massakern und den darauffolgenden Vergeltungsmaßnahmen insgesamt
100.000 Polen und tausende Ukrainer ums Leben.
26Vgl.: Bruder,
Franziska: Geschichtspolitik in der Ukraine, S. 177.
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