Erschienen in Ausgabe: No 69 (11/11) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Heike Geilen
"Soafa,
Soif, Soefm,Säffn, Sääf" - dies alles bedeutet "Seife" und
dies alles wird in Bayern gesprochen. Deutsch ist nicht gleich Deutsch. Nicht
nur jedes Bundesland, sondern auch jede Region innerhalb eines Bundeslandes ist
geprägt von seiner „eigenen Sprache“. Allerdings gehen auf Grund der
allgemeinen Schulpflicht, Radio und Fernsehen, wo meist Hochdeutsch zu hören
ist, immer mehr kleinere, lokale Dialekte verloren. So sprachen zum Beispiel
die Schlonsaken, die in Schlesien beheimatet waren, einen Mischmasch aus gleich
mehreren Sprachen: Polnisch, Tschechisch, Slowakisch und Deutsch. Mit ein
bisschen Improvisationswillen kann man den Sinngehalt des nachfolgenden Satzes
sogar erkennen: "Moj junge se szlecht auffiruje, ani se sztyfli nie
wixowal." Auf Deutsch: "Mein Junge führt sich schlecht auf, nicht
einmal seine Stiefel putzt er."
"Man
wird über diesen Satz lachen und sich fragen, ob aus einem solchen Dialekt
(...) je eine eigene, sozusagen regulär entfaltete Schrift- und Hochsprache
hätte werden können?", so Karl-Markus Gauß in seinem wunderbaren Buch
"Im Wald der Metropolen". Er beantwortet sie gleich selbst:
"Warum nicht? Sprachen sind fließende, keine stehenden Gewässer, und in
der Geschichte Europas sind zahllose Dialekte untergegangen, während andere zur
Grundlage großer Nationalsprachen wurden." Als klassisches Beispiel der
jüngsten Geschichte führt er die italienische Nation an, deren tatsächlich
Italienisch sprechender Anteil bei ihrer Vereinigung höchstens zehn Prozent
ausmachte.
Im
heutigen Europa gibt es circa fünfzig, sechzig größere Sprachen. Die
Dialektvielfalt allerdings dürfte um einiges höher sein und eine Zahl mit
mindestens einer Null mehr ausmachen. Nun behandelt das Buch des österreichischen
Autors und Herausgebers der Zeitschrift "Literatur und Kritik"
keineswegs nur die immense Vielfalt landschaftlich geprägter Dialekte. Aber
beispielgebend zeigt dieser Einstieg, worum es Gauß geht: dem Kleinen im
Großen, dem Individuellen im Ganzen. Sein Buch fokussiert den Blick auf das
Einzigartige, das man im Gewusel unserer Zeit schnell übersieht und im lauten
Getöse gar nicht mehr wahrnimmt, um es letztendlich wieder in einen großen
Kontext einzubinden.
Gauß
schlendert unter anderem durch die österreichische Hauptstadt, fernab ihrer
Hauptverkehrsadern und entdeckt manch vergessenen - vornehmlich literarischen -
"Helden" seiner Stadt, den heute kaum noch jemand kennt. So zum
Beispiel den Arzt und Schriftsteller Baron von Feuchtersleben, der zu seiner
Zeit - Mitte des neunzehnten Jahrhunderts - von vielen Zeitgenossen als
Lebenslehrer und Seelentröster verehrt wurde und von dem solch geistreiche
Worte stammen wie: "Der Mensch kann nicht immer zu Allem aufgelegt sein,
aber er ist immer zu Etwas aufgelegt. Dies thue er."
Überall
in Europa, wo sich Karl-Markus Gauß umschaut, sei es nun in Wien oder auch
Slowenien, Italien, Rumänien oder Polen, immer bewegt er sich in
"Seitenstraßen", in Gässchen und Winkeln fernab der großen
Touristenströme. Er hat Freude am Individuellen, am Unspektakulären und
entdeckt oft versteckte Einfahrten und Orte abseits einer Landstraße. In 13
lose miteinander verbundenen Geschichten verknüpft er auf ironische, kluge und
eloquente Weise Reiseeindrücke mit politischen sowie kulturgeschichtlichen
Reminiszenzen und Entdeckungen und verbindet dadurch kleine, vielleicht gar
rätselhafte Existenzen mit der ganzen Welt.
"Im
Wald der Metropolen" liest sich als Dialektvariante, als Individualreise
und zeichnet gerade dadurch ein "Bild von Europa als Ganzem (...) von
Europa, das dabei ist zu vergessen, wie es entstand und was es ausgemacht
hat...". Denn irgendwann, noch ehe "die Nationen erfunden, die
Dialekte zu Nationalsprachen normiert wurden und die Dichtung sich zur Hüterin des
nationalen Bewusstseins berief, gab es diese Sehnsucht, eine europäische
Kultur, die auf der Höhe des antiken Griechentums stand, überall heimisch zu
machen." Karl-Markus Gauß lässt diese Sehnsucht in seinem Buch erneut
erwachen.
Karl-Markus
Gauß
Im Wald der Metropolen
Paul
Zsolnay Verlag, Wien (2010)
303
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3552055053
ISBN-13:
978-3552055056
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