Erschienen in Ausgabe: No 70 (12/11) | Letzte Änderung: 09.01.14 |
Zum Begriff der Subjektivierung bei Michel Foucault
von Robert Lembke
Es ist eine in der Foucault-Forschung gängige Praxis, das Werk
des französischen Historiker-Philosophen in verschiedene Phasen
zu unterteilen. Man wird um dieses Vorgehen selbst dann nicht
herumkommen, wenn man versucht, stärker die Einheit der Theorie
als ihre Brüche und Umkehrungen zu betonen. Ich orientiere mich
an einer Einteilung in vier Phasen, die ich im folgenden kurz
erläutern will: In der ersten Phase zeigt Foucaults Denken einen
stark surrealistischen Einschlag, der sich mit von Heidegger
abgeleiteten existenzphilosophischen Motiven zu einer Art
‚Gegenpsychologie‘ verbindet, wie sie exemplarisch
in der „Introduction“ zu Ludwig
Binswangers Le rêve et
l’existence zum Vorschein kommt.1
Die zweite Phase ist die mit einigem Recht strukturalistisch zu
nennende, in der Foucault mit Hilfe wissensgeschichtlicher
Untersuchungen eine neue Art von Ideengeschichte zu formulieren
versucht, die unter Absehung der Intentionen der Sprecher die
reine sprachliche Faktizität der Texte zum Vorschein zu
bringen sucht.2
Die dritte Phase wird eingeläutet durch die praxisphilosophische
Besinnung: nicht mehr dem ‚Universum des Diskurses‘
in seiner reinen Vorfindlichkeit wendet sich die Analyse zu, vielmehr
wird nun nach den Bedingungen und Erzeugungsweisen des „Diskurses“
durch „Praktiken“ gefragt.3
Die vierte Phase schließlich bilden die Untersuchungen
Foucaults zur antiken und christlichen Ethik, die durch seinen
verfrühten Tod Fragment geblieben sind.4
Innerhalb dieser allgemeinen Orientierung5
positioniert sich vorliegender Aufsatz folgendermaßen: Ich
werde mich nur auf die Phase 3 und 4 seiner Arbeit beziehen, also auf
die praxisphilosophischen Teile seiner Theorie, die man
grobgesprochen auch als seine Gesellschaftstheorie und seine
Ethik bezeichnen kann. Dabei werde ich versuchen, den
inneren Zusammenhang beider Phasen mit Hilfe des Begriffes der
Subjektivierung herzustellen, der zwar jeweils unterschiedlich
bestimmt wird, dem dabei jedoch auch spezifische
Bedeutungskomponenten erhalten bleiben.
Man kann den Begriff der Subjektivierung nicht ohne den des Subjekts
erläutern; dies deswegen, weil Foucault diesen durch jenen
ersetzen will – „Subjektivierung“ bedeutet zunächst
einmal nichts anderes als ‚zum Subjekt machen‘. Der
Verdacht gegen das traditionelle philosophische Subjekt als „Stifter
und Einheitsprinzip seiner Innen- und Außenwelt“6,
den Foucault mit seinen Denkervätern Nietzsche, Freud und
Heidegger teilt, führt aber nicht umstandslos zur Eliminierung
des Subjektsbegriffs, wie ihm von Seiten der Gegner immer wieder
vorgeworfen wurde, sondern zu seiner Neubestimmung bzw.
Neuformulierung, die der spätmodernen Depotenzierung des
Intellekts relativierend Rechnung zu tragen versucht.
Der Subjektbegriff, den Foucault in Anschlag bringt, leitet sich aus
Überlegungen des marxistischen Philosophen Louis Althusser her,
der Foucaults zeitweiliger Lehrer und Freund war.7
Dieser hatte in seiner Theorie „ideologischer Staatsapparate“8
zuerst den Begriff des Subjekts in neuartiger Weise als Träger
des sozialen Zusammenhangs interpretiert. Foucault übernimmt
zwar nicht dessen Herleitung bis in alle Einzelheiten, wohl aber
die Bestimmung des Subjekts als Untertan, das in immer schon
bestehende gesellschaftliche Verhältnisse eingepasst werden
muß und zu deren Erhaltung beizutragen hat.
Zuvor schon hatte die zu beobachtende Ontologisierung des
Subjektbegriffs sich durch Heidegger vorbereitet: Dieser bestimmt das
Spezifische der neuzeitlich-wissenschaftlichen Weltanschauung,
die er als „Zeit des Weltbildes“9
charakterisiert, darin, daß die Welt, als Gesamtheit des
Seienden, nunmehr erst durch den Menschen ihre Art und Weise der
Existenz zugewiesen bekommt; der Mensch stellt, wie Heidegger sich
ausdrückt, ein Bild der Welt nach seinen (rational-technischen)
Maßstäben her, und wird somit allmählich zu dem
subjectum10,
das die Welt in ihrem Sein begründet.11
Der Begriff des Subjekts vollzieht also eine doppelte Bewegung:
Einerseits wird er (durch Heideggers Diagnose) als radikal
anthropomorph ausgewiesen – es gibt keine transzendente Größe
mehr, die als unvordenkliches Subjekt fungieren könnte –,
andererseits wird er individualisiert (durch Althussers Diagnose),
indem er an die jeweiligen Einzelnen zurückgebunden wird.
Subjekte sind nunmehr die Mitglieder eines politischen Gebildes, die
in dessen immer schon bestehende Strukturen eingepasst werden
müssen. Dieser konkret-soziologische Subjektbegriff geht einher
mit einer radikalen Verzeitlichung: Weil das Subjekt als etwas
begriffen wird, daß sich durch Sozialisationsprozesse innerhalb
eines selbst keineswegs stabilen politischen Zusammenhangs erst
herausbildet, ist es vom Prozess seiner Konstituierung eigentlich
nicht zu unterscheiden, ist nie endgültig fertig; darum
verwendet Foucault zunehmend den Begriff der Subjektivierung,
der das Prozesshafte, den beständigen Charakter des Werdens,
besser zum Ausdruck bringt.
Foucault hat die beiden grundlegenden Arten der Subjektivierung
nacheinander behandelt, sie stellen unterschiedliche
Beschreibungen innerhalb sehr verschiedener Theoriekonzeptionen dar.
Ich nenne diejenige Subjektivierung, die dem Subjekt des Zwangs
in der Gesellschaftstheorie entspricht, unterwerfende
Subjektivierung, die andere, die dem Subjekt der Freiheit
in der Ethik entspricht, autopoietische Subjektivierung.
I. Unterwerfende Subjektivierung
Foucault leistet die Bestimmung des Menschen als Untertan, was seine
veröffentlichten Schriften betrifft, im wesentlichen in den
Büchern Überwachen und Strafen und Der Wille zum
Wissen. Beide Bücher haben sehr unterschiedlichen Charakter;
während das eine ein Musterbeispiel für Foucaults Art
philosophischer Geschichtsschreibung darstellt, ist das andere
eigentlich die Einleitung eines Großprojektes, das jedoch nie
verwirklicht wurde.12
Überwachen und Strafen ist vordergründig eine
Geschichte des Strafsystems im 18. und 19. Jahrhundert; warum es mehr
sein soll, erläutert Foucault mit folgendem Satz: „Die
Analyse der Strafmechanismen soll nicht in erster Linie an deren
‚repressiven‘ Wirkungen als ‚Sanktionen‘
ausgerichtet sein, sondern sie in die Gesamtheit ihrer positiven
Wirkungen […] einordnen.“ (ÜS, 34) D.h. z.B. für
die ostentative Marter, mit der Foucault seine Analyse beginnt, daß
sie nicht einfach der Vernichtungsmut der Mächtigen und der
Unterhaltung der Untergebenen dient, sondern daß sie einen
spezifischen Zweck hat, der der jeweiligen Herrschaftsform
korrespondiert: Im Falle der Monarchie geht es dabei um die
symbolische Wiederherstellung des Körpers des Souveräns,
den der Straftäter durch sein Vergehen verletzt hat (sei es
direkt wie im Fall des Attentäters oder indirekt wie beim Dieb).
Diese Form der öffentlichen Hinrichtung wird im Laufe der Zeit
(1760-1840) sukzessive durch die Gefängnisse ersetzt, scheinbar
stille und unbedeutende Orte, an denen sich jedoch Foucault zufolge
für die Gesellschaft Entscheidendes vollzieht: Es sind Orte, an
denen Praktiken sich entwickeln und Wissen akkumuliert
wird.
Die Praktiken sollen allgemein dem Ziel dienen, den Inhaftierten ‚zu
bessern‘, es sind Behandlungsmethoden, die letztlich darauf
abzielen, ein „zahmes Tier“ (Nietzsche) aus ihm zu
machen. Foucault fasst diesen Komplex unter dem Titel „Disziplin“:
Disziplinen sind „Methoden, welche die peinliche Kontrolle der
Körpertätigkeiten und die dauerhafte Unterwerfung
ihrer Kräfte ermöglichen und sie gelehrig/nützlich
machen“ (ÜS,175). Im Zentrum dieser Methoden steht
nicht zufällig der Körper, über dessen Unterwerfung
und Disziplinierung sich die ‚Reinheit der Seele‘
herstellen lassen soll. Das minutiöse Regime, dem die Gefangenen
unterworfen werden (Essen, Arbeiten, Andacht), zeitigt
Subjektivierungseffekte, wie etwa die Veränderung
der subjektiven Zeitwahrnehmung hin zu der eines kontinuierlichen
Ablaufs; weiterhin solche, die die freie Expressivität und
Kreativität körperlicher Akte einschränken, wie die
„Zusammenschaltung von Körper und Geste“
sowie die „Zusammenschaltung von Körper und
Objekt“ (ÜS, 195-197, Herv. i.O.).
Das Wissen ist die zweite zentrale Kategorie dieser
Einrichtungen. Es folgt einer doppelten Bewegung: Zunächst wird
es produziert und akkumuliert, dann aber verlässt es die
produzierende Einrichtung in Richtung Humanwissenschaft. Foucaults
radikale These besagt, daß die Humanwissenschaften nur
Systematisierung und Rationalisierung eines anwendungsbezogenen
Wissens sind, das am Disziplinarobjekt Mensch gewonnen wurde und noch
wird. Die Humanwissenschaften wurden geboren „in jenen
ruhmlosen Archiven […], in denen das moderne System der Zwänge
gegen die Körper, die Gesten, die Verhaltensweisen erarbeitet
worden ist“ (ÜS, 246). Das „Kerkernetz“ der
Gesellschaft besteht jedoch nicht nur aus den Gefängnissen; alle
Institutionen, die darauf ausgerichtet sind, die Vielzahl der
Menschen mit Hilfe eines Belohnungs-/Bestrafungsmechanismus an einer
Norm auszurichten, fallen in diese Kategorie: Schule, Militär,
Krankenhaus, Irrenanstalt u.ä.
Mit dem Begriff der Norm ist ein weiteres zentrales Konzept
aus Überwachen und Strafen benannt: Sie funktioniert als
„individualisierende Objektivierung“, d.h. jeder muß
sich nach ihr richten, und seine Individualität besteht darin,
wie er sie verfehlt – das normierte Individuum ist das
Individuum als Fall. Der einzige entscheidende
Unterschied ist „die äußere Grenze zu den Anormalen“
(ÜS, 236), d.h. derjenigen, die in kein zahlenmäßig
erfassbares Verhältnis zur Norm kommen – sie werden Opfer
von Ausschlussmechanismen.
Dies ist das Bild des unterworfenen Subjekts, wie es die erste Hälfte
von Überwachen und Strafen zeichnet. Der körperlich
disziplinierte, normierte und damit sanktionierte Mensch wird durch
jene Subjektivierungs- und Objektivierungsprozesse erst eigentlich
zum Individuum13,
das fähig ist, sich an ein „System von Normalitätsgraden“
(ÜS, 237) zu halten. Betrachtet man diese Diagnose im Hinblick
auf ihre Aktualität, so scheint sie diese eingebüßt
zu haben. Die von Foucault mit scharfem Blick ans Licht gezerrten
Gewaltverfahren scheinen heute deutlich verringert, und so scheint es
geboten, Foucault in die antiautoritären 70er Jahre zu
verweisen, als Pink Floyd ganz in seinem Geiste sangen: „We
don’t need
no education“. Heute, da jeder
Jugendliche froh ist, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, scheint
vielmehr „Selbstregulierung“ – um einen
neoliberalen Terminus zu gebrauchen – angezeigt zu sein.14
Nun hat aber Foucault selber noch in Überwachen und Strafen
Mittel zur Analyse dieses Phänomens bereitgestellt. Diese gilt
es m.E. zu beachten, bevor man Foucault vorschnell als historisiert.
Die Rede ist natürlich vom Benthamschen Panopticon, jener
speziellen Gefängnisarchitektur, die durch die Anordnung der
Räume und Personen bewirkt, daß der Zwang, der dem
Gefangenen zunächst immer physisch – ‚peinlich‘
– auferlegt wurde, nun internalisiert wird.15
Dieses panoptische Verfahren hat eigentlich zwei Seiten: Auf der
einen Seite zwingt es den Gefangenen, sich stets regelkonform zu
verhalten, weil ständig die Möglichkeit der Beobachtung
besteht; auf der anderen Seite kann jeder die Funktion des
Beobachters einnehmen. Somit wird das moderne Disziplinarindividuum
um eine Überwachungsfunktion ergänzt, die für eine
ständige Kontrolle der Gesellschaftsmitglieder untereinander
sorgt.
Foucaults Analyse des modernen Subjekts ist so vorerst komplett; sie
gibt eine vorläufige Antwort auf die Frage, wie es möglich
ist, die Legitimität eines „eines parlamentarischen und
repräsentativen Regimes“ (ÜS, 284f) sicherzustellen:
dessen „dunkle Kehrseite“ bildet die vorbewusste,
physische Konditionierung der Untertanen, die nach dem
Versprechen des Wortes Demokratie eigentlich den Souverän
bilden sollen.
Der Wille zum Wissen bringt als neuen Gedanken den der
„Bio-Macht“: Die Notwendigkeit der Verteilung der
Individuen im Raum, die dadurch entsteht, daß der
wissenschaftliche Fortschritt das Leben über den Tod siegen läßt
und zur gesteigerten Akkumulation der Menschen führt, resultiert
in einer „Bio-Politik“, die sich das Ziel der
technologischen und administrativen Steigerung des Lebens auf die
Fahnen schreibt. Hatte Foucault in Überwachen und Strafen
die Transformationen der Macht noch häufig mit ökonomischen
Notwendigkeiten in Verbindung gebracht, so kommt nun der
Gesichtspunkt des Lebens neu hinzu. Dies führt dazu, daß
der gleichsam mechanistische Subjektivzierungsprozess, wie er oben
beschrieben wurde, nun sich öffnet zu einer stärkeren
Betonung (scheinbarer) Autonomie. Das auch diese letztlich als Trug
entlarvt wird, zeigt zugleich intellektuelle Schärfe und
Verzweiflung des Foucaultschen Denkens. Das Buch ist gegen den
theoretischen Gegner in Sachen Sex, den zuzeiten herrschenden
Freudmarxismus eines Herbert Marcuse oder Wilhelm Reich mit ihrer
Verehrung der Psychoanalyse, gerichtet.16
Anstatt von Befreiung zu reden, konstatiert Foucault die
geschichtliche Herausbildung eines Areals der Sexualität,
das er mit dem Aufkommen des Bürgertums zusammenbringt. Die
Individuen siedeln sich darin an, ohne zu ahnen, daß der
Mensch, „von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man
einlädt, […] bereits in sich das Resultat einer
Unterwerfung [ist], die viel tiefer ist als er“ (ÜS, 42).
Foucault leitet die spezifischen Eigenschaften der Sexualität
aus ihrer geschichtlichen Entstehung ab: So entstehen die
verschiedenen Perversionen, von denen Freud sprach, überhaupt
erst aus jenem Willen zum Wissen, der einem biopolitischen
Kontrollinteresse entspringt. Der Sex als zentraler Punkt für
Erhaltung und Gesundheit des Volkskörpers muß ans Licht
gezerrt werden, um ihn, hierin ähnlich dem Körper der
Individuen, zu regulieren und zu kontrollieren. Im Unterschied zur
Disziplinierung des Körpers, der als irgendwie zu gestaltende
materielle Entität erscheint, geht Foucault hier noch einen
Schritt weiter: Der Sex wird von ihm zur Fiktion erklärt, er ist
„ein idealer Punkt, der vom Sexualitätsdispositiv und
seinem Funktionieren notwendig gemacht wird“ (WzW, 149).
Foucault versteigt sich zu der Auffassung, daß der gesamte
Prozess der vermeintlichen Unterdrückung des Sexes mitsamt
der erheischten Befreiung nur Teil einer biopolitischen
Machtstrategie ist, die bewirkt, daß die Individuen durch diese
Art der Subjektivierung von Expertenwissen abhängig gemacht
werden und ihnen dadurch Souveränität entzogen wird.17
Den anderen Pol der Untersuchung bildet die „Technologie des
Geständnisses“. Hier bemüht sich Foucault darum zu
zeigen, wie sich verschiedenste kulturelle Phänomene als
Modifikationen des Geständniszwangs analysieren lassen, den die
abendländische Kultur dem Christentum verdankt. Auch hier
zeigt sich die Säkularisierung einer religiösen Praktik,
der Beichte, als funktionales Element des sozialen Zusammenhangs.
Indem wir alle uns gegenseitig unsere Idiosynkrasien, Macken und
sexuellen Vorlieben gestehen, subjektivieren wir uns als Untertanen,
d.h.: „vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem
unterworfen sein und durch Bewußtsein und Selbsterkenntnis
seiner eigenen Identität verhaftet sein“.18
Das Geständnis zeigt sich als Technik zur Affirmation
oktroyierter Verhaltensweisen; ein Mittel, das gleichzeitig so
etwas wie sozialen Zusammenhang durch Gemeinsamkeit stiftet. Der
Einzelnen erwirbt erst durchs Gestehen – auch auf gehäuften
Zwang durch Nachfrage hin – seine soziale Identität: diese
ist die Wahrheit, die ihm zugewiesen wird. Will er sie nicht
akzeptieren, muß er über Techniken verfügen, die ihre
Alteration erlauben; über Verhaltensweisen, die es ihm erlauben,
sich eine andere Wahrheit, ein anderes Selbst zu
erfinden als das, welches ihm immer schon vermittelt wird. Damit aber
ist die Möglichkeit und Notwendigkeit jener „Selbsttechnologien“
ausgesprochen, die Foucault in seinem Spätwerk zu thematisieren
versucht.
II. Autopoietische Subjektivierung
Foucault hat die Möglichkeiten des Subjekts der Freiheit,
das er demonstrativ „Selbst“ (soi) nennt, im Rahmen
seiner Thematisierung der antiken und frühchristlichen
Sexualethik entwickelt; aus dieser Analyse resultiert die
‚Kategorientafel‘ der Subjektivierungsweisen, mit Hilfe
derer er die Möglichkeit beschreibt, sich als Subjekt eines
Gegenstandsbereiches zu konstituieren. Von den vier Aspekten dieses
Schemas19
ist der Wichtigste der dritte, die ethische Arbeit (Askese), denn mit
ihm ist die größte theoretische Sprengkraft verbunden. Mit
der Betonung dieses Aspektes der Umsetzung der autopoietischen
Subjektivierung durch fortgesetzte Übung wendet sich Foucault
gegen das von ihm sogenannte „nicht-asketische Wissenssubjekt“,
dessen Inauguration er Descartes zuschreibt. Dieser sei für den
ethischen Bruch mit der aus antiken Zeiten überkommenen
Tradition der Askese insoweit verantwortlich, als er das durch
Praktiken konstituierte Subjekt der Antike ersetzt habe durch
„irgendein Subjekt […], daß sehen kann, was
evident ist“; damit sei erst „die Institutionalisierung
der modernen Wissenschaft“ ermöglicht worden.20
Das Subjekt der Freiheit kann sich also nur durch beständige
Anstrengung konstituieren, nicht allein durch spekulative Einsichten.
(Wobei das Denken, mehr noch das Schreiben, auch eine bestimmte Form
der Übung darstellt, die jedoch allein nicht ausreicht.) Damit
vollzieht Foucault die Ablösung eines Subjekts, das sich durch
ein Wissen-daß auszeichnet, durch eines, das sich über
das Können, über spezifisch erworbene Handlungsmacht
definiert.21
Durch die ethische Arbeit an sich selbst erwirbt der Einzelne sowohl
bestimmte Handlungskompetenzen als auch die allgemeinere
Fertigkeit der Selbstführung.
Hier gilt es, sich daran zu erinnern, daß das unterworfene
Subjekt auf ähnliche Weise konstituiert wird. Durch
Disziplinierung und Normierung wird ihm ebenfalls Handlungsmacht
verliehen, dies allerdings nur in bestimmten, durch Machtwirkungen
determinierten Kanälen. Wie lassen sich also die heteronome
unterwerfende Subjektivierung und die autopoietische
Subjektivierung voneinander unterscheiden, wenn die Art der sich
vollziehenden Subjektkonstitution auf dieselbe Weise – nämlich
durch praktische Einübung – funktioniert? Christoph Menke
hat vorgeschlagen, der Unterschied läge im Zweifelsfall nur in
der Haltung, mit der die einzelne Handlung ausgeführt
wird,22
„denn [so Foucault] eine einzelne Handlung ist nicht für
sich allein genommen schon moralisch“.23
Stattdessen kommt es auf ihre Einbettung in die Totalität einer
Lebensführung an, auf die Ausrichtung auf ein übergreifendes
Ziel (vierter Modus der Subjektivierung) an.24
Während also die Funktionsweise der Subjektkonstitution in
beiden Fällen, für den Menschen als Untertan wie für
den Menschen als Selbst, die gleiche ist, unterscheiden sich beide in
der Anzahl der ‚Freiheitsgrade‘ (von 0 bis 3). Ihre Zahl
ließe sich bestimmen, wenn man feststellt, welche der drei
anderen Modi der Subjektkonstitution (außer der Übung
bleiben noch: Bestimmung der ethischen Substanz, Unterwerfungsweise,
Zielorientierung) sich der Einzelne vom Allgemeinen vorgeben läßt.
Der Versuch, die von Foucault in unterschiedlichen Phasen seines
Arbeit gegebenen Beschreibungsmodelle zusammenzudenken, muß
sich nach einem Paradigma richten, das erlaubt, die
Unterschiedlichkeit der Prozesse zu integrieren. Der Begriff der
Subjektivierung bringt dabei den dynamischen Charakter der
beteiligten Prozesse zum Ausdruck, den irrreduziblen Anteil des
Werdens und der Veränderung, den die Theorie in sich
aufzunehmen versucht. Konkret heißt das, die beiden
unterschiedlichen Arten von Subjektivierung –
unterwerfende und autopoietische – sind in ein Modell der
Ontogenese des Subjekts zu überführen, das dieses als
konstituierendes und konstituiertes im Prozess des Werdens zeigt. Als
Paradigma dieser Entwicklung bietet sich nun das des Kampfes
oder gar des Krieges an, wie man überhaupt sagen kann, daß
dies die Grundmetapher der Foucaultschen Philosophie insgesamt ist.25
Die zwei Kraftlinien der Subjektivierung definieren einen Raum,
innerhalb dessen sich die „immerwährende Schlacht“
(ÜS, 38) abspielt, in der das Individuum gegen die Einflüsse
des „Außen“ (Deleuze) und der anderen und nicht
zuletzt gegen sich selbst um sich selbst kämpft.26
Wenn man diese Beschreibung ernstnimmt, wird klar, daß darin
wenig Raum für Hoffnung (auf den Sieg oder auf die Versöhnung)
ist, denn in gewissen Sinne existiert das Subjekt der Freiheit nur
in dem Maße und so lange, wie es kämpft. Foucault
übernimmt damit nahezu 1:1 Heideggersche Kategorien: Das nach
Freiheit strebende Individuum bleibt stets der Gefahr des
„Verfallens“ ausgesetzt, d.i. das Zurücksinken
in die „Uneigentlichkeit“ des „Man“ als
Gesamtheit kulturell eingeschliffener Verhaltensweisen.27
Die Bestimmung der beiden grundlegenden Seinsweisen des Subjekts
als untrennbare Hälften eines ewigen Kampfes läßt
jedoch die Einnahme eines übergeordneten Standpunkts nicht mehr
zu; damit aber eignet diesem Denken ein utopisches Defizit oder gar
anti-utopisches Moment, auf das ich zum Abschluss kurz zu sprechen
kommen will.
III. Foucault als
Anti-Utopist28
Foucault hat letztlich kein Kriterium – wie z.B. Geist
oder eine als authentisch angesehene Subjektivität
–, von dem aus sich die als kontingent eingesehenen
gesellschaftlichen Formungen normativ kritisieren lassen;29
er greift die Verhältnisse nur wegen ihrer Nicht-Pluralität
an,30
ihm wird Andersartigkeit zum Prinzip, das seinen Wert in sich selber
hat. Es gibt keine spezifische ‚Motivation‘ für
seine Kulturkritik, außer die, die durch die bisherige
Geschichte Verfemten, Unterdrückten, Marginalisierten zu Wort
kommen zu lassen; und diese Motivation hat man folglich nur, wenn man
selbst zu ihnen gehört – diese „Standpunkt-Epistemologie
der unterdrückten Wissensarten“,31
von der Foucault einmal träumte, läßt sich durch ein
Freudsches Argument plausibilisieren: Nach Freud wandelt der
Kulturprozess die ursprüngliche Bisexualität des Menschen
(wahrnehmbar etwa an der Antike) in Heterosexualität in der
Weise um, daß die jener zugeordnete Energie auf die Verehrung
des kulturellen Ideals umgeleitet wird.32
Der Homosexuelle, bei dem dieser Mechanismus aus irgendwelchen
Gründen aussetzt, ist demnach zur ‚Kulturkritik‘
prädestiniert; wenn er zusätzlich aus der Besonderheit
seiner Lage heraus sich mit anderen Unterdrückten,
Marginalisierten, Ausgeschlossenen (den Wahnsinnigen, den
Kranken, den Verbrechern, den Frauen) solidarisiert, läßt
sich als Ergebnis der Impuls des Foucaultschen Denkens ablesen.
Dieser dezentrierende Impuls ist aber zugleich ein anti-utopischer,
denn die Utopie ist vom Standpunkt des Außenseiters nichts
anderes als die denkerische Extrapolation der gerade
vorherrschenden kulturellen Deutung, in der dieser sich unter-
bzw. gar nicht repräsentiert fühlt. (Von hier aus läßt
sich m.E. auch Foucaults ‚unzeitgemäße‘
Ablehnung des Humanismus verstehen.) Weil aber die hegemoniale
Deutung sich ebenfalls innerhalb eines dauernden Kulturkampfes
konstituiert, umbildet und überformt, sind aus diesem
systematischen Grund Utopien generell zu verwerfen, denn als
vorschnelle Generalisierungen leisten sie nur neuen, auf
essentialistischen Annahmen beruhenden Ausschließungsmechanismen
Vorschub, die das Ganze ideologisch ‚auf Linie bringen sollen‘
– historisch aufgetreten in Faschismus wie Stalinismus.
Stattdessen ginge es jener Standpunkt-Epistemologie, die das
postmoderne Pendant zum revolutionären Bewußtseins
des Proletariats ist,33
um eine Integration unterdrückter Gruppen in die
plural-demokratische Gesellschaft, womit das erkenntnismäßige
und sozialkulturelle Privileg der ‚Herrschenden‘ –
und das heißt paradoxerweise auch: der großen
untertänigen Masse – aufgehoben werden soll.
In einem Radiovortrag von 1966 – also noch vor der
machttheoretischen Wende – hat Foucault sein Verhältnis
zur Utopie konkret zum Ausdruck gebracht.34
Er setzt dort an die Stelle der rein imaginierten ‚Nicht-Orte‘
die „Heterotopien“, andere Orte, an denen die
Normen des Alltags teilweise außer Kraft gesetzt sind bzw. die
nach eigenen Regeln funktionieren. Er zählt auf: „Gärten,
Friedhöfe, Irrenanstalten, Bordelle, Gefängnisse, die
Dörfer des Club Méditerranée“.35
Diese „Gegenräume“ sind keine Extrapolationen des
Bestehenden mehr, sondern das in ihm selbst gegenwärtige Andere,
dessen reale (wenn auch nur temporär erfahrbare) Negation in
Form parasitärer Inseln, die der bestehenden Allgemeinheit
inkompatibel sind, d.h. die nicht widerspruchsfrei integriert werden
können. Für den Menschen, der sich in ihnen bewegt,
bedeutet das jedoch Zerreißung und innerer Kampf – im
äußersten Fall auch die Bereitschaft, sich für eine
Seite zu entscheiden.
Wie die Herstellung neuer Heterotopien in concreto aussehen
könnte – auch dafür lassen sich in den vielfältigen
Schriften Foucaults Belege finden. So würdigt er etwa in einem
Interview von 1982 (sic!) ausdrücklich das innovative Potential
der SM-Szene (Sadomasochismus), die sich der Erfindung neuer Formen
der sexuellen Betätigung verschrieben hätten. Im selben
Interview findet sich dann sogar der Satz: „Wir müssen die
Drogen versuchen.“36
Was an diesen Hinweisen befremdet, ist ihr experimenteller und
okkasioneller Charakter, der den Vorwurf der Verantwortungslosigkeit
provoziert, gerade wenn man bedenkt, daß es sich hier um
öffentliche Verlautbarungen eines berühmten
Philosophen handelt. Sie entspringen m.E. aus der folgenreichen
Stilisierung des schlechthin Anderen, Abweichenden zu einem Wert an
sich selbst; die daraus entspringende Gefahr einer zentrifugalen
Bewegung in Richtung der Umwertung alles Hergebrachten ist die
Erblast eines radikalen Nietzscheanismus, der hinter allen
‚Tatsachen‘ nur Machtwirkungen und mit ihnen verbundene
Unterdrückungsmechanismen am Werk sieht. Die anvisierte
Liberalität und Pluralität steht dabei in Gefahr, in einen
sektiererischen Kultus von ‚Differenz‘ umzuschlagen.
Gegen dieses Sich-Verlieren im Delirium irrationaler und sprunghafter
‚Kreativität‘ hat Foucault – vielleicht im
Gegensatz zu Deleuze/Guattari – als Gegengewicht immerhin die
ethische Formung eines Selbst aufzubieten, das er freilich nicht, wie
einige Interpreten behaupten,37
als isoliertes Individuum ansieht, sondern – idealerweise
– als in subkulturelle Vergemeinschaftungsformen eingebunden,
in denen die Beziehungen nach dem Vorbild der philia, der
Freundschaft, sich entwickeln.
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Thomas Schäfer,
Reflektierte Vernunft. Michel Foucaults Projekt einer antitotalitären
Macht- und Wahrheitskritik, Frankfurt/M. 1995.
Wilhelm Schmid, Auf
der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und
die Neubegründung der Ethik bei Foucault, Frankfurt/M. 21992.
Ulrich Johannes
Schneider, Michel Foucault, Darmstadt 2004.
1
Schriften in vier Bänden. Dits
et Écrits, 4 Bde., hg. v.
Daniel Defert u.a., Bd. 1: 1954-1969, S. 107-174; im
folgenden zitiert als Schriften mit Band- und Seitenzahlen.
2
Hierher gehören die beiden Bücher Die Geburt der Klinik
(1963; dt. 1973) und Die Ordnung der Dinge (1966; dt. 1971).
3
Den Übergang zu dieser dritten Phase markieren die
Antrittsvorlesung Die Ordnung des Diskurses (1970) sowie der
Text „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“ (1971,
in: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt/M. 1987); die
beiden zentralen Bücher sind Überwachen und Strafen
(1975; dt. 1976) und Der Wille zum Wissen (1976; dt. 1977).
4
Der vierte (ursprünglich zweite) Band der Histoire de la
sexualité, „Les aveux de la chair“, konnte
nicht mehr erscheinen, da Foucault testamentarisch jede posthume
Veröffentlichung untersagte. Lediglich ein Auszug ist
schon früher veröffentlicht worden; vgl. Schriften
4, 353-368.
5
Wie jedes Schema ist auch dieses abstrakt-idealistisch und somit nur
als Heuristik sinnvoll. Seine Grenze zeigt sich etwa darin, daß
sich Foucaults Dissertation Wahnsinn und Gesellschaft,
die chronologisch in Phase zwei fällt, nur schlecht einordnen
läßt, weil in ihr auch schon die späteren
praxisphilosophischen Wege vorgeprägt sind und sie andererseits
sowohl sprachlich als auch denkerisch dem Frühwerk verhaftet
bleibt. – Außerdem ließe sich, wenn man die neuere
Foucault-Forschung berücksichtigt, noch eine fünfte
Phase annehmen, die sich zwischen die dritte und vierte einschieben
würde, zwischen denen sich ja, nach den zugehörigen Werken
geurteilt, eine Lücke von beinahe acht Jahren auftut. Die
Neuedition sowohl der von Foucault am Collège de France
gehaltenen Vorlesungen wie auch all seiner Interviews,
Zeitungsartikel und Gelegenheitsschriften hat diese Lücke
geschlossen, so daß nunmehr der vorher rätselhafte Bruch
zwischen Gesellschaftstheorie und Ethik als Übergang eigenen
Inhalts erscheint. Leitend ist hier vor allem das Konzept der
„Gouvernementalität“, das Foucault im
Anschluss an seine Überlegungen zur Bio-Macht in Der Wille zum
Wissen entwickelt hat. Dieser ‚neue‘ Foucault, der dann
im Bereich Politiktheorie rubriziert werden könnte, ist
Gegenstand neuerer Forschungs- und Editionsbemühungen; vgl. vor
allem Thomas Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft.
Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität,
Frankfurt/M. 1997 sowie weiterführend Ulrich Bröckling/Susanne
Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der
Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen,
Frankfurt/M. 2000.
6
Matthias Rüb, „Das Subjekt und sein Anderes. Zur
Konzeption von Subjektivität beim frühen Foucault“,
in: Eva Erdmann/Rainer Forst/Axel Honneth (Hg.), Ethos der
Moderne, Frankfurt a.M./New York 1990, S. 187-201, hier 187.
7
Zum Verhältnis von Althusser und Foucault, das zur Zeit der
hier diskutierten Theorien schon wieder deutlich abgekühlt war,
vgl. Didier Eribon, Michel Foucault, Frankfurt/M. 1993, S.
63-122; S. 202-266.
8Vgl.
Louis Althusser, „Ideologie und ideologische Staatsapparate“
(1970), in: Ideologie und ideologische Staatsapparate.
Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg/ Westberlin
1977, S. 108-153, bes. 130ff.
9
Vgl. den gleichnamigen Aufsatz in: Martin Heidegger, Holzwege.
Gesamtausgabe Bd. 5, Frankfurt/M. 1977, S.75-96.
10
Heidegger leitet den Begriff des Subjekts aus dem griechischen
hypokeimenon her, das er als „das Zugrundeliegende“
übersetzt.
11
Man könnte sagen, daß damit in der Moderne sich der Satz
des Protagoras erst eigentlich erfüllt. („Der Mensch ist
daß Maß aller Dinge, der seienden, daß und wie sie
sind, der nichtseienden, daß und wie sie nicht sind.“).
12
Die Geschichte der Sexualität war ursprünglich auf sechs
Bände geplant; vgl. Eribon, a.a.O., S. 391f.
13
Als Nietzscheaner erkennt Foucault keine vorgängige,
unentstellte Subjektivität oder Individualität an; da
alles „Text“ ist, der einer bestimmten „Interpretation“
bedarf, gibt es kein authentisches Subjekt unterhalb der
Subjektivierungsprozesse; solange der einzelne sich nicht gegen
seine soziale Prägung wehrt – eine Möglichkeit,
deren Fundierung auf der hier referierten Stufe der Theorie noch
kaum möglich ist –, existiert er nicht unabhängig
von ihr; er muß vielmehr eine eigene Subjektivität erst
herstellen.
14
Deshalb hat Nancy Fraser im Jahre 2001 Foucault für historisch
erklärt. Ihr zufolge bezöge sich seine Kritik auf die Ära
des „Fordismus“; für die darauffolgende des
„Postfordismus“ seien seine Begriffe deshalb nur noch
begrenzt und unter erheblichen Modifikationen als
Beschreibungsmittel einzusetzen. (Dies., „Von der Disziplin
zur Flexibilisierung? Foucault im Spiegel der Globalisierung“,
in: Axel Honneth/Martin Saar, Michel Foucault. Zwischenbilanz
einer Rezeption, Frankfurter Foucault-Konferenz 2001,
Frankfurt/M. 2003, S. 239-258) – Fraser interpretiert Foucault
‚soziologisch‘, d.h. unter völliger Absehung seiner
späteren Theorie der Ethik, was mit ihrer Frontstellung gegen
den Liberalismus zusammenhängt, dem Foucault den Marxisten
zufolge im Spätwerk Zugeständnisse gemacht hat. (Vgl. dazu
Tilman Reitz, „Die Sorge um sich und niemand anderen. Foucault
als Vordenker neoliberaler Vergesellschaftung“, in: Das
Argument 249, Berlin 2003, S. 82-97).
Demgegenüber
wird eine Interpretation, wie sie hier verfolgt wird, viel stärker
die ‚psychologische‘ Seite betonen, die mit dem Begriff
der Subjektivierung angesprochen ist; d.h. die Erkenntnis der
Mechanismen der Herrschaft und die Möglichkeiten einer
Befreiung aus Sicht des Einzelnen.
15
Diese Internalisierung des Zwangs rückt Foucault in die Nähe
der „Theorie der Zivilisation“ von Norbert Elias; vgl.
dazu Thomas Lemke, „Max Weber, Norbert Elias und Michel
Foucault über Macht und Subjektivierung“, in: Berliner
Journal für Soziologie 1/2001, S. 77-95.
16
Dieser Gegner firmiert unter der Bezeichnung „Repressionshypothese“,
was anzeigen soll, daß jene Theoretiker die Unterdrückung
des Sex mit der der Wahrheit ineins setzen.
17
Foucaults polemische Einseitigkeit, die gegen das Fanal der
sexuellen Befreiung anrennt, läßt in nahe an eine
Verschwörungstheorie geraten; wenn er auch viele Phänomene
richtig beschreibt, so bleibt doch die Fiktionalisierung des Sex
unnachvollziehbar. Sein nietzscheanischer Furor, der ihn dazu
treibt, auch noch die ‚Tatsache‘ eines biologisch
bedingten Sexualtriebes zu negieren (worauf seine Argumente
letztlich hinauslaufen), läßt ihn hier in die Irre gehen;
stattdessen wäre inhaltlich die Vermischung befreiender
und unterwerfender Komponenten sichtbar zu machen – z.B. mit
Mitteln der Dialektik.
18
„Das Subjekt und die Macht“, in: Hubert Dreyfus/Paul
Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und
Hermeneutik, Frankfurt/M. 1984, S.241-261, hier 247.
19
Vgl. Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit
II, Frankfurt/M. 1986, S. 36-45.
20
„Zur Genealogie der Ethik. Ein Überblick über
laufende Arbeiten“, in: Hubert Dreyfus/Paul Rabinow, Michel
Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik,
Frankfurt/M. 1984, S. 265-292, hier 291. – Dieser Punkt ist
äußerst umstritten. So kritisiert etwa Pierre Hadot diese
Auffassung mit dem Hinweis, daß Descartes „Meditationen“
schrieb, die er seinen Lesern zur wochenlangen Beschäftigung
anempfahl; dadurch liegt er für Hadot bereits wieder in
der Linie einer Wiederherstellung der antiken „spirituellen
Praktiken“. (Vgl. Pierre Hadot, Philosophie als Lebensform.
Antike und moderne Exerzitien der Weisheit, Berlin 1991, S.
177-181) Philosophiehistorisch geht der Bruch mit Descartes auf
Heideggers dekonstruierenden Ansatz zurück; noch sein Lehrer
Husserl schrieb bekanntlich Cartesianische Meditationen.
21
Diesen Punkt besonders herausgearbeitet hat Christoph Menke,
„Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer
Disziplinierung und ästhetischer Existenz“, in: Axel
Honneth/ Martin Saar, Michel Foucault. Zwischenbilanz einer
Rezeption, Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt/M.
2003, S. 283-299.
22
Ebd., S. 299.
23
Der Gebrauch der Lüste, a.a.O., S. 39.
24Um
ein konkretes Beispiel zu geben: Man kann z.B. Sport treiben –
einmal, um sozial geforderten Aussehenskonventionen zu genügen
oder, im anderen Falle, um sich an der Bewegung und dem Miteinander
zu erfreuen. Das Beispiel erreicht darin die Grenze der
Plausibilität, daß ‚Sport treiben‘ ja noch
keine einzelne Handlung ist und die geschilderte Differenz sich
bereits bei der Wahl der Sportart auswirken wird.
25
Ich erinnere an die militärische Terminologie, bspw.
„Strategie“, „Dispositiv“, „Unterwerfung“,
„Schlacht“ usw.
26
Gilles Deleuze, Foucault, Frankfurt/M. 1986, S. 134f. –
An anderer Stelle spricht Deleuze von einer „Guerilla mit sich
selbst“ als spezifischer Kampfform der Philosophie; vgl.
Deleuze, Unterhandlungen. 1972-1990, Frankfurt/M. 1993, S. 7.
27
Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 182001,
passim.
28
„Foucault ist Pessimist, was die Ideologie der Befreiung
angeht, er ist nicht Utopist und macht sich damit entsprechend
unbeliebt bei jenen, die über die Gegenwart der
gesellschaftlichen Wirklichkeit gedanklich hinaussteigen wollen.“
(Ulrich Johannes Schneider, Michel Foucault, Darmstadt 2004,
S. 147)
29
Die klassische Formulierung für diese normative Lücke geht
auf Nancy Fraser zurück: „Foucault ruft ganz eindeutig
zum Widerstand auf. Aber warum? Warum ist der Kampf der Unterwerfung
vorzuziehen? Warum soll der Herrschaft Widerstand geleistet werden?
[…] Nur mit normativen Vorstellungen könnte er daran
gehen, uns zu sagen, was an dem modernen Macht/Wissen-Regime falsch
ist und warum wir ihm entgegentreten sollen.“ (Nancy Fraser,
„Foucault über die moderne Macht: Empirische
Einsichten und normative Unklarheiten“, in: dies.,
Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs, Geschlecht,
Frankfurt/M. 1994, S. 31-55, hier 48)
30
Dies der Lösungsvorschlag von Thomas Schäfer; für ihn
beruht Foucaults Werk auf einer „theoriepolitischen Option“,
die ihn einerseits – neoliberalistisch – für den
Pluralismus und die Offenheit moderner Gesellschaften eintreten
läßt, die aber andererseits auf einer „anarchische[n]
Subjektivität“ beruht, deren „Gesetzlosigkeit darin
besteht, sich kritisch gegen jede Form des Daseins zu verhalten,
sich keiner Lebens-, Denk- oder Sprechweise verpflichtet zu wissen“
(Ders., Reflektierte Vernunft. Michel Foucaults Projekt
einer antitotalitären Macht- und Wahrheitskritik,
Frankfurt/M. 1995, S. 74f, S. 54).
31
Vgl. Hans-Herbert Kögler, Michel Foucault,
Stuttgart/Weimar 1994, Kap. II.6.
32
Vgl. Sigmund Freud, „Zur Einführung des Narzißmus“,
in: ders., Studienausgabe, Bd. III: Psychologie des
Unbewußten, S. 39-68, hier 62f.
33
Die Argumente sind strukturhomolog: So wie die proletarische
Revolution mit dem Eigentum auch den Klassengegensatz aufhebt, soll
die Standpunkt-Epistemologie das gesellschaftliche Ungleichgewicht
der möglichen kulturellen Deutungen aufheben. Der Unterschied
ist freilich der, das im ersten Fall das irdische Paradies, im
zweiten ein labiles Gleichgewicht der Differenzen angepeilt wird.
34
„Die Heterotopien“, in: Michel Foucault, Die
Heterotopien. Der utopische Körper, Zwei Radiovorträge,
Frankfurt/M. 2005, S. 7-22.
35
Ebd., S. 11.
36
„Michel Foucault, ein Interview: Sex, Macht und die Politik
der Identität“, in: Schriften 4, 909-924, hier
913f.
37
Z.B. Wilhelm Schmid, Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst.
Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei
Foucault, Frankfurt/M. 21992.
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