Erschienen in Ausgabe: No 71 (1/2012) | Letzte Änderung: 06.02.13 |
von Heike Geilen
Wenn
man an Wellen denkt, assoziiert man unmerklich mit Strand,
Sonne und Meer. Denn dort treten sie offenkundig zutage, als rollende Brecher,
die Gischtwolken aufwerfen oder als stete Folge von Wellenkämmen, die eine nach
der anderen mit schöner Regelmäßigkeit auf den Kiesstrand fallen, je nach
Stimmung des Ozeans. Ihre Bewegungen hypnotisieren und bringen "einen
ewigen Klang von Traurigkeit mit sich", schrieb der englische Dichter
Matthew Arnold.
Wenn
man den Blick hebt und zum Wolkenbeobachten übergeht, hat man schon die nächste
Welleneinflusswirkung entdeckt. "Denn die Atmosphäre ist auch ein Ozean,
ein Ozean allerdings, der aus Luft und nicht aus Wasser besteht", erklärt
der Gründer der "Cloud Appreciation Society" Gavin Pretor-Pinney. Er
bleibt in seinem Buch allerdings nicht nur mit dem Blick im Nass oder dem Weiß
am Himmels hängen, sondern deckt ein unglaublich reichhaltiges
"Wellenspektrum" ab. Denn die "wellenförmige Beschaffenheit
unserer Welt mag so unmerklich in Erscheinung treten, dass viele von uns zeit
ihres Lebens davon keinerlei Notiz nehmen, aber sie ist so grundlegend für
unsere Welt, dass man sie in allem bemerkt, sobald man beginnt, darauf zu
achten."
Der
britische Autor nimmt den Leser auf eine überaus interessante Reise mit. Dabei
wirft er mitunter recht kindliche Fragen auf: "Warum gibt es
Wellen?", "Woher kommen sie?" oder "Warum spritzen sie
so?". Fragen, deren Antworten aber alles andere als simpel und einfach
sind. In neun Kapitel hat Gavin Pretor-Pinney sein gut verständliches,
unterhaltsames, aber dennoch tiefgründiges Sachbuch gegliedert. Er
"untersucht" außer den "wässrigen" und "luftigen"
Wellen, auch unsere körpereigenen, zum Beispiel die "Kommunikationswellen"
der Neuronen oder die des Herzschlags. Aber auch den "geheimen"
Informationswellen unserer Notebooks oder der Resonanz eines Musikinstrumentes
widmet er seine Aufmerksamkeit. "Resonanz ermöglicht die mühelose
Herauslösung von Ordnung, Klarheit und manchmal sogar Schönheit aus dem
unglaublichen Lärm des Lebens." Ja, sogar La-Ola- oder Stop-and-Go-Wellen
eines beginnenden Verkehrsstaus werden von dem Briten unters Visier genommen
und anschaulich erläutert.
Mittels
lebendiger Beispiele aus der Natur oder dem täglichen Leben, vielen
erläuternden und anschaulichen Skizzen oder Fotos und weitgehender Vermeidung
von abstrakten und schwer verständlichen Fachbegriffen dürfte auch der
Physiklaie transversale, longitudinale und Torsionswellen auseinanderhalten und
verstehen, ohne zuvor in einen kritischen Zustand von Wellenkonfusion verfallen
zu sein. Im Gegenteil: Gavin Pretor-Pinney erreicht eine erstaunliche
Sinnesschärfung der persönlichen Wahrnehmung unserer komplexen irdischen
Wellenstruktur. Nach der Lektüre seines bereichernden Sachbuches achtet man
vielleicht nicht mehr nur auf die Informationen, die Wellen uns übermitteln,
sondern ebenso auf "diese subtilen, springlebendigen Boten" selbst.
Auch wenn die Gefahr vergleichsweise gering ist, dass man, wenn jemand
"Ich liebe dich" zu einem sagt, ab sofort nur daran denkt, dass diese
Aussage aus einer Abfolge von periodischen Druckwellen besteht.
Und
vielleicht verstehen wir letztendlich sogar unser Leben als ein logisches Auf
und Ab besser, selbst "wenn die Höhen und Tiefen in der Realität
vielleicht nicht so deutlich ausgeprägt sind. Wir müssen uns Herausforderungen
stellen, die uns an neue Orte und zu neuen Höhepunkten bringen - auf den Kamm
der Welle -, bevor der unvermeidliche, nervenaufreibende, dramatische Abstieg
beginnt."
Gute
Neuigkeiten gibt es auf jeden Fall für Trödler. Die Gezeiten (oder besser: die
Reibung der Wassermassen) - natürlich in ihrer Gesamtheit gleichfalls von
Wellen "getragen und strukturiert" - führen dazu, dass sich die Drehung
der Erde verlangsamt. Aus den ursprünglich 14-Stunden-Tagen vor vier Milliarden
Jahren sind mittlerweile die 24-Stunden-Tage von heute geworden. "Wenn Sie
also gelegentlich denken, das Leben verfliege zu schnell und nie habe man Zeit,
irgendetwas zu erledigen, seien Sie unbesorgt, denn die Gezeiten arbeiten für
sie. (...) Dank der Wellen werden Sie in 50 Jahren schon eine tausendstel
Sekunde mehr am Tag zur Verfügung haben."
Gavin
Pretor-Pinney
Kleine Wellenkunde für Dilettanten
Rogner & Bernhard Verlag, Berlin (Juni
2011)
348 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3807710752
ISBN-13: 978-3807710754
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