Erschienen in Ausgabe: No 71 (1/2012) | Letzte Änderung: 06.02.13 |
von Heike Geilen
"Was ist das? Der Mensch wünscht es sich herbei, und wenn er es
endlich hat, lernt er es nicht kennen." Mit diesem Rätsel brachte bereits
Leonardo da Vinci das Paradoxe und Geheimnisvolle dieser menschlichen
Notwendigkeit auf den Punkt. Der
Schlaf ist ein faszinierendes Phänomen. Man meint, ohne Schlaf nicht leben zu
können. Für Körper, Geist und Seele scheint er unentbehrlich. Aber niemand
weiß, was er tut, wenn er schläft, und warum er es tut.
"Wir verbringen den ganzen Tag bei klarem Bewusstsein, dann legen wir
uns ins Bett, knipsen das Licht aus und - was? Knipst sich das Gehirn auch aus?
Wird es ausgeknipst? Was passiert mit all den Ideen darin? Erstarren sie?
Laufen sie langsam weiter?" Diese und weitere Fragen stellt sich der
studierte Philosoph und Mathematiker Tobias Hürter, der als freier Autor und
Wissenschaftsjournalist arbeitet, in seinem unterhaltsamen und lehrreichen
Buch. Erstaunlicherweise geschieht sogar sehr viel wenn wir schlafen. "Da
werden Erinnerungen sortiert, Gefühle geklärt, Urteile geschärft.", so
Hürter. Und Allan Hobson von der Harvard-Universität behauptet gar, ohne Schlaf
wäre Bewusstsein, wie wir es tagsüber haben, nicht möglich. "Es ist wie
beim Kochen, im Wachen holen wir uns die Zutaten, im Schlaf kochen wir die
Suppe daraus.", stellt der kalifornische Schlafforscher Matthew Walker
fest. Offensichtlich vollenden wir in der Abgeschiedenheit der Nacht, was wir
am Tag begonnen haben.
Tobias Hürter nimmt den Leser auf eine spannende Reise durch die Nacht mit.
Eingeteilt in 17 Kapitel, beginnend um 21:00 bis morgens um 7:30, tastet er
sich in die rätselhafte Welt des Schlafes vor und vermittelt die von der
Wissenschaft mehr und mehr entschlüsselte "fein choreografierte Folge von
Zuständen, die wir Nacht für Nacht durchleben." Mit diesem Buch kann die
normalerweise im wahrsten Sinne des Wortes verschlafene oder "verborgene
Dramaturgie der Nacht" im Wachen durchlebt werden. So durchwabern zum Beispiel
um 21:20 Alphawellen unser Gehirn oder man versinkt gegen 23:00 im Reich der
hypnagogen Fantasie. Der Verstand wird abgeschaltet und wir geben die Kontrolle
über den Körper und das Geschehen im eigenen Kopf vollkommen ab. Ganz schön
mutig! Allerdings ist bereits um 0:30 Schluss mit Entspannung. Dann kommt mit
dem REM-Schlaf Unruhe in die Hirnstromkurven und der erste Lärm stellt sich
ein. Lärm? Allan Hobson, emeritierter Professor für Psychiatrie
an der Harvard
Medical School, hält Träume für den "Lärm, den das Gehirn
macht, während es seine Hausaufgaben erledigt." Tobias Hürter ergänzt:
"Im Traum verknüpft unser Gehirn die Bruchstücke der Erinnerung zu einem
sinnvollen Ganzen. (...) Der REM-Schlaf ist die Spielphase des Gehirns nach dem
Großreinemachen im Leicht- und Tiefschlaf." Den physiologischen Tiefpunkt
erreicht der Schläfer allerdings erst 4 Uhr. Eine gut wärmende Bettdecke wäre jetzt
angebracht, denn der Körper fällt auf seine Minimaltemperatur. Und wenn man um
7:30 meint, endlich wach zu sein, hat man sich schon wieder getäuscht. Denn
eigentlich träumen wir weiter....
Tobias Hürter hat mit "Du bist, was du schläfst" ein Sachbuch mit
philosophischem Grundtenor geschrieben. Denn wenn wir einschlafen, geschieht
etwas Besonderes: unser Bewusstsein, dieser Synchronisierer des
"milliardenstimmigen Neuronengeplappers zu einem einheitlichen
Ganzen", scheint sich im Nichts zu verlieren. Dieser Moment ist für das
Bewusstsein nicht zu erhaschen, denn es entschlummert selbst. Vielleicht liegt
gerade da ein Schlüssel zu dessen Rätsel.
Im Schlaf, so Tobias Hürter, werden wir zu Kindern, Künstlern,
Psychotikern, manchmal zu Zombies, manchmal zu Affen und dann zu Menschen.
Eines ist jedoch mittlerweile klar: Wir schlafen nicht für unseren Körper,
sondern für das Gehirn! "Wir schlafen, um unser Gefühl für uns selbst zu
erhalten.", fasst der Autor zusammen und dazu "brauchen wir regelmäßig
Ruhe vor uns selbst. (...) Das Bett ist somit mehr als eine Ruhestätte, es ist
ein Bewusstseinslabor."
Tobias
Hürter
Du bist, was du schläfst.
Was zwischen Wachen und Träumen alles
geschieht
Piper
Verlag, München (September 2011)
272
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3492054544
ISBN-13:
978-3492054546
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