Erschienen in Ausgabe: No 73 (3/2012) | Letzte Änderung: 29.03.12 |
von Heike Geilen
"Ich bin
nicht mehr die, die ich war.
Der Haken ist
nur, auch wenn ich es nicht mehr bin, kann ich oft nicht vergessen, was ich
war, und dann ist mir schlichtweg mein Name zuwider, und ich wünschte, ich wäre
nicht ich."
So hätte der
neue Roman von Javier Marías beginnen können. Aber der wohl bekannteste
zeitgenössische Autor Spaniens lässt seine in der Ich-Form erzählende
Protagonistin María, eine Verlagsangestellte Mitte dreißig, diesen beklemmenden
Satz erst gegen Ende seiner Erzählung äußern, nachdem sie in einen Strudel von
diffusen Erlebnissen gerät, die ihr weiteres Leben stark beeinflussen sollen.
Auslöser ist
der gewaltsame Tod eines Mannes, von dem der Leser im nun wirklich ersten Satz
erfährt: "Das letzte Mal sah ich Miguel Desvern oder Deverne, als ihn auch
seine Frau Luisa zum letzten Mal sah, was eigentlich seltsam, ja ungerecht ist,
denn sie war seine Frau und ich nur eine Unbekannte, die nie ein Wort mit ihm
gewechselt hatte." Gänzlich unbekannt ist María der Tote allerdings nicht.
Jeden Morgen beobachtet sie heimlich Miguel und Luisa in einem kleinen Café
beim Frühstück. Das Pärchen, welches dort in liebevoller Harmonie den Tag
beginnt, ist in seiner Verbundenheit beinahe so etwas wie ein Tagesglücksgarant
für María. Aus dem stillen Betrachten schöpft sie Kraft für den Tag. Als die
Beiden plötzlich ausbleiben und María aus der Zeitung erfährt, dass Miguel auf
offener Straße von einem Verrückten erstochen wurde, nimmt ihr Leben eine
nahezu dramatische Wendung.
Javier María,
der 1996 mit seinem Bestseller "Mein Herz so weiß" bereits ein
bedeutungsvolles Achtungszeichen setzte und Marcel Reich-Ranicki zu
Begeisterungsstürmen animierte ("Dies ist ein Meisterwerk, es ist ein ganz
großes Meisterwerk."), gelingt erneut ein großer Wurf. Abermals ist der
Tod eines Menschen Reflexionsthema und Sujet. Der Spanier setzt Menschen in den
Mittelpunkt seiner Betrachtungen, "die nichts als schemenhafte Statisten
sind, Randfiguren, die einen Winkel, den dunklen Hintergrund des Bildes
bewohnen und die wir nicht vermissen, wenn sie verschwinden", die aber
dennoch unser Leben durcheinander wirbeln und in völlig andere Bahnen lenken
können.
Liebe, Neid,
Verlangen, Verrat und Glück sind die Themen, mit denen sich Javier Marías
auseinandersetzt. Indes über allem steht das beherrschende Thema: der Tod.
"Wenn man an den Tod denkt und sich vor Augen führt, welche Wirkung er auf
die Lebenden hat, dann muss man sich ab und an fragen, was nach dem unseren
geschehen wird, in welcher Lage die Menschen zurückbleiben, für die wir wichtig
sind, wie sehr es sie mitnehmen wird. (...) Was dauert, verdirbt und verrottet
am Ende, langweilt, wendet sich gegen uns, macht überdrüssig, müde." Sein
Interesse gilt den Eventualitäten und imaginären Möglichkeiten. Dabei betritt
er immer wieder Zwischen- und Grenzräume und versucht diese auszuloten. Denn
nie "können wir sicher sein, was sich für uns als lebensnotwendig, wer
sich für uns als wichtig erweisen wird. Unsere Überzeugungen sind schwankend
und schwach, für so stark wir sie auch halten mögen. Ebenso unsere
Gefühle." Blinde Flecken und Widersprüche, Schatten oder Lücken gehören
zum Leben eines jeden Menschen. Javier Marías taucht in diese ein.
Honore de
Balzacs Erzählung "Oberst Chabert" und Alexandre Dumas "Die vier
Musketiere" geben dem Roman sein Rahmengerüst und werden immer wieder
eingeflochten.
"Die sterblich Verliebten" ist eine subtile,
mehrdeutige und kluge Erzählung, die sich ständig gabelt, in latenten
Abschweifungen multipliziert und spiegelgleich reflektiert.
Javier Marías Sprache ist poetisch und schön, seine
Überlegungen beinahe philosophisch. Man wiegt sich schier in seinen Worten, die
von Susanne Lange kongenial und gefühlvoll ins Deutsche übertragen wurden.
Gleichzeitig erzählt der spanische Autor mit einer Detailverliebtheit, die kaum
zu übertreffen ist. Eine Szene, die sich in wenigen Sekunden abspielt, dehnt er
mühelos auf mehrere Buchseiten aus. Seine Schilderungen konzentrieren sich
nicht nur auf Handlungen, sondern sie erfassen jedes Minenspiel, jede
Assoziation, die dadurch ausgelöst wird. Ausschweifend und trotzdem pointiert,
entwickeln sich diese mitunter zu anschwellenden Gedankenkaskaden. Ein Satz
über ein, zwei Seiten stellt dabei keine Seltenheit dar. Ein bisschen ähnelt
sein Stil dem großartigen österreichischen Autor Thomas Bernhard, der
gleichfalls ein Meister dieser Schreibweise war.
"Es ist
riskant, sich in einen anderen hineinzuversetzen, manchmal findet man nur mit
Mühe wieder hinaus." Nicht nur der Protagonistin María ergeht es derart.
Auch der Leser wird in diesen intensiven, auf hohem Niveau geschriebenen Plot
hineingezogen und kann sich nur schwer aus dem Text lösen. "Wes das Herz
voll ist, des geht der Mund über", steht irgendwo in der Bibel. Javier
Marías' Herz - so scheint es - ist übervoll. "Die sterblich
Verliebten" erweisen sich als fesselnde und brillante Lektüre. Ein reflexiver
Roman, der wie in allen guten Bücher, nicht versucht, Antworten zu finden,
sondern Fragen aufzuwerfen.
Javier
Marías
Die sterblich Verliebten
Originaltitel: Los enamoramientos
Aus dem Spanischen übersetzt von Susanne
Lange
S.
Fischer Verlag, Frankfurt (Februar 2012)
432
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3100478312
ISBN-13:
978-3100478313
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