Erschienen in Ausgabe: No 72 (2/2012) | Letzte Änderung: 06.02.13 |
von Heike Geilen
"Meine
Seele ist ein verborgenes Orchester; ich weiß nicht, welche Instrumente, Geigen
und Harfen, Pauken und Trommeln, es in mir spielen und dröhnen lässt. Ich kenne
mich nur als Symphonie."
Diese Worte
schrieb der große portugiesische Melancholiker Fernando Pessoa in seinem
"Buch der Unruhe". Wohl nicht allein, weil die genetischen Wurzeln
Antonio Damasios in Portugal liegen, hat ihn der amerikanische Professor für
Neurowissenschaften, Psychologie und Neurologie seinem Werk vorangestellt,
sondern weil dieser Satz so überaus zutreffend das ganze von ihm behandelte
Thema erfasst. Damasio wirft einen Blick hinter die Kulissen. Ihn interessieren
gerade die verborgenen "Einzelkämpfer" im Großen und Ganzen, ohne die
wir nicht wären, was wir heute sind, weil sie gerade jenes Etwas hervorbringen,
das wir so trivial Bewusstsein nennen. Für den Wissenschaftler ist die
getrennte Betrachtung der verschiedenen Teile des Bewusstseinspuzzle und deren angemessene
Würdigung Grundvoraussetzung für den Versuch, eine umfassende Beschreibung zu
formulieren.
Damasio, dessen
Bücher "Descartes' Irrtum" oder "Ich fühle, also bin ich"
bereits zu Bestsellern avancierten und in über 30 Sprachen übersetzt wurden,
nimmt sich mit Verve dieses komplexen und schwer greifbaren Themas an.
"Wir alle haben freien Zugang zu unserem Bewusstsein. Es perlt in unserem
Kopf so leicht und reichlich, dass wir es ohne jedes Zögern und ohne Besorgnis
jeden Abend nach dem Zubettgehen abschalten lassen, und wenn am Morgen der
Wecker klingelt, lassen wir es wiederkehren - mindestens 365-mal im Jahr,
Nickerchen nicht mitgerechnet. Und doch ist kaum etwas anderes an unserem
Dasein so bemerkenswert, grundlegend und scheinbar rätselhaft wie das
Bewusstsein." Was erzeugt die unzähligen in unserem Geist aufscheinenden
Inhalte? Wer ordnet und bändigt sie? Ist es möglich, die unsichtbaren Fäden
aufzuspüren, die diese Inhalte zu jenem bunten, reichen, quirligen Etwas
verbinden, das wir Selbst nennen? Warum fühlen wir diese Komposition sogar?
Letztendlich
bilden jedoch zwei Fragen das Grundgerüst des vorliegenden Buches. Erstens: Wie
baut das Gehirn einen Geist auf? Und zweitens: Wie sorgt das Gehirn in diesem
Geist für Bewusstsein? Deren Beantwortung wird - das sei vorab erwähnt - trotz
immer weiter fortschreitender Erkenntnisse in der Bewusstseinsforschung - auch
Antonio Damasio nicht gelingen. Dennoch gleicht sein "Gang durch ein
Minenfeld" keineswegs einem Ausflug auf zu dünnem Eis. Nicht um das starre
Behaupten eigener Sichtweisen geht es dem Hirnforscher, sondern "mithilfe
der vorhandenen Kenntnisse, so unvollständig und vorläufig sie auch sein mögen,
überprüfbare Vermutungen anzustellen und von der Zukunft zu träumen." Im
Mittelpunkt steht dabei die Frage, welche Strukturen im Gehirn des Menschen
erforderlich sind und wie es arbeiten muss, damit ein bewusster Geist entstehen
kann. Seine Hypothese einer komplexen möglichen Architektur des Gedächtnisses,
bei der ein "Gehirnraum" Erlebnisse kartiert und bewusst
wahrnehmbare, geistige Bilder produziert, ein anderer hingegen Formeln
speichert, nach denen die Gedächtniskarten "retroaktiviert" werden
können, erscheint verständlich und nachvollziehbar. Gerade Untersuchungen mit
Hirnverletzten/-geschädigten legen die Vermutung nahe, dass eine derartige
Dual-Kooperation möglich scheint.
Bei seiner
Annäherung an den bewussten Geist misst Damasio vor allem dem Selbst eine
besondere Rolle bei. Seiner Überzeugung nach entsteht ein bewusster Geist erst
dann, wenn zu grundlegenden geistigen Vorgängen ein Selbst-Prozess hinzukommt.
"Taucht in einem Geist kein Selbst auf, ist er auch nicht im eigentlichen
Sinn bewusst. In dieser missliche Lage befinden sich Menschen, deren
Selbst-Prozess durch traumlosen Schlaf, Anästhesie oder eine Erkrankung des
Gehirns außer Kraft gesetzt ist." Nur wie definiert man dieses Selbst? Ist
es immer vorhanden, wenn wir bei Bewusstsein sind, oder nicht? Antonio Damasio
beantwortet diese Frage mit einem klaren "Ja". Allerdings spürt man es
nicht immer. Unstrittig ist für ihn allerdings seine allzeit präsente
Fühlbarkeit. DiesenEmotionen und
Gefühlen widmet sich der Neurologe gleichfalls in großem Umfang. "Sie sind
die emotionsbasierten Signale, die ich als somatische Marker bezeichne."
Damasio
versteht es, auf unkonventionelle Art und Weise zu begeistern und trotz seines
schwierigen Sujets mitzureißen. Er spannt einen überaus großen Bogen von der
Gehirn-Biologie bis hin zur menschlichen Kulturgeschichte. Ein gewisses
neurologisches Grundverständnis sollte der Leser allerdings mitbringen. Auch
wenn Aufbau und Arbeitsweise unseres "Denkapparates" im Anhang gut
erläutert werden, erweist sich der behandelte Stoff als überaus komplex und
zuweilen in seiner Terminologie recht fachspezifisch. Allerdings lohnt sich
diese Mühe unbedingt. Zu verstehen, wie das Gehirn den
"Protagonisten" erzeugt, den wir mit uns herumtragen und als Selbst
oder Ich bezeichnen, ist ein überaus spannendes Unterfangen. Und auch wenn man
nach der Lektüre - um noch einmal das Eingangszitat von Fernando Pessoa
heranzuziehen - immer noch nicht in der Lage ist, jede Nuance von Geigen,
Harfen, Pauken und Trommeln auseinanderzuhalten, dem Verständnis einer
"Symphonie von Mahler'schen Proportionen", als der unser Geist von
Antonio Damasio bezeichnet wird, ist man trotzdem ein klitzekleines bisschen
näher gekommen. Und das, ganz ohne den fühlbaren Genuss eingebüßt zu haben.
Antonio
Damasio
Selbst ist der Mensch.
Körper, Geist und die Entstehung des
menschlichen Bewusstseins
Originaltitel: Self Comes to Mind.
Constructing the Conscious Brain
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt
von Sebastian Vogel
Siedler
Verlag, München (Juni 2011)
368
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3886809242
ISBN-13:
978-3886809240
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.