Erschienen in Ausgabe: No 74 (4/2012) | Letzte Änderung: 31.01.13 |
von Norbert Blüm
Gerechtigkeit
– ein großes Wort. Es bedeutet mehr, als 13 Buchstaben ausdrücken. Gerechtigkeit
ist das Heimweh nach dem verlorenen Paradies und manchmal sogar die Chiffre
einer Sehnsucht nach dem erträumten Utopia. Gerechtigkeit jedenfalls ist das
Kraftwerk großer geschichtlicher Energien, die selbst etablierte Gesellschaften
sprengten. Für „Gerechtigkeit“ haben Menschen ihr Leben eingesetzt und
geopfert. Daß zwei mal zwei vier und nicht fünf ist, dafür ist noch kein Mensch
gestorben. Mathematische Wahrheiten lassen die Herzen kalt. Für Gerechtigkeit
jedoch sind Menschen in den Tod gegangen. Die Idee der Gerechtigkeit ergriff
Menschen und ließ sie über sich hinauswachsen.
Gerechtigkeit
wohnt immer ein Potential der Transzendenz inne. Die Kämpfe, die in ihrem Namen
geführt werden, übersteigen meist die Anlässe, die sie auslösten. Selbst im
Kampf gegen Hunger geht es nicht nur um das Sattwerden durch Nahrungsaufnahme,
also nicht nur um Kalorien, die gezählt werden können, sondern um eine
Vorstellung vom Zusammenleben von Menschen, das mehr ist als eine
Zusammenrottung. Es ist ein humanes Spezifikum im Spiel, wenn es um
Gerechtigkeit geht. Es ist das Menschenrecht, nicht nur zu leben, sondern anerkannt
zu werden als Subjekt von Rechten und Pflichten. Der Aufstand der Hungernden
und die Demonstrationszüge der Armen sind etwas anderes als die Bewegungen von
Tierhorden auf der Wassersuche. Eine durstige Kehle und ein leerer Magen tun
weh. Noch mehr allerdings schmerzt die Verletzung des Gerechtigkeitsempfindens,
wenn sie mit Verachtung verknüpft ist.
Das
elementare Gerechtigkeitsverlangen wird also keineswegs allein durch
materiellen Mangel stimuliert. Die Revolte der Unterdrückten wird angetrieben vom
Mangel an Achtung und Anerkennung, unter dem die Verachteten und Unterdrückten leiden.
Deshalb: die Elementarkunde der Gerechtigkeit beginnt mit der Anerkennung des
anderen als anderer. Der Bauer Kain hatte die Lektion Anerkennung gegenüber
dem Viehhirten Abel noch nicht kapiert. Und bis in unsere Tage tun wir
uns mit der Toleranz schwer. Toleranz ist noch nicht Gerechtigkeit, jedoch das
Propädeutikum der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit bezieht sich auf andere.
Gerechtigkeit ist immer sozial. „Soziale Gerechtigkeit“ ist also ein „weißer Schimmel“.
Was
Gerechtigkeit genau ist, darüber werden Menschen streiten, solange Menschen auf
dieser Welt leben. Die klügsten Köpfe sind sich selbst in Jahrtausenden nicht
darüber einig geworden, was sie sei. Platon dachte darüber anders als Kant,
und dieser unterschied sich von Konfuzius und Hamurabi. Hegel und
Marx waren mit keiner dieser Antworten einverstanden und selbst
gegensätzlicher Meinung. Der Streit ist offenbar die Begleitkompanie der
Gerechtigkeit.
Was
allerdings ungerecht ist, darüber können sich die Menschen schneller einigen. Es
ist mit der Gerechtigkeit wie mit dem lieben Gott. Die klügsten Theologen aller
Religionen können leichter sagen, was Gott nicht ist, als genau zu beschreiben,
was oder wer er sei. Ungerechtigkeit schmerzt. Deshalb ist sie schneller und
heftiger identifiziert, als die Gerechtigkeit definiert wird; wahrscheinlich auch
deshalb, weil ins Moralische nicht nur die Vorschläge der Vernunft, sondern auch
die Impulse der Leidenschaften eingehen, die aus Verletzungen des Empfindens
gespeist werden. Es gibt Erfahrungen, die auf der ganzen Welt und zu jeder Zeit
wehtun. Nicht nur Vernunft ist „universal“, sondern auch Schmerzen sind
„global“. Hunger tut immer und überall weh. Die Folter löst in jeder Sprache
Schreie aus.
Also
fangen wir der Einfachheit halber damit an zu sagen, was Ungerechtigkeit ist.
Der Kampf gegen blanke Ungerechtigkeit ist der Anfang vom Einsatz für Gerechtigkeit.
Ungerecht ist, daß auf der Welt jeden Tag 30.000 Kinder „verrecken“, weil sie
zu wenig zum Essen haben, während andere in Saus und Braus leben. Das ist eine
schreiende Ungerechtigkeit. Darüber muß weder geforscht noch diskutiert werden.
Dagegen muß gehandelt werden. Ich brauche keine weiteren UN-Armutsberichte und
selbstreferentielles ILO-Betroffenheitspalaver. Es gibt wahrscheinlich mehr
gedruckte ILO-Papiere als ausgebeutete Kinder. Spart Euch Eure folgenlosen,
hohlen Worte! Es ist alles bekannt, was unbestreitbar ungerecht ist. Ungerecht
ist, daß ein Fünftel der Weltbevölkerung von vier Fünftel der Erdengüter leben
und vier Fünftel der Menschen von einem Fünftel des Reichtums. Es gibt kein
Diagnose-Defizit, sondern einen Mangel an Therapie.
Gleiches
und Ungleiches
Vor
Gott sind alle Menschen gleich. Das ist der Kern der christlichen Botschaft von
dem Menschen als Gottes Ebenbild. Die Gleichheit der Menschen ist die Elementarstufe
der Gerechtigkeit. Sie ist identisch mit der Würde des Menschen und setzt mit
seiner Existenz ein. Oberhalb der Anerkennung des Existenzrechtes der Menschen,
das nicht nur ein biologisches ist, gibt es jedoch gerechtfertigte Unterschiede.
Daß die einen mehr haben und die anderen weniger, ist noch nicht ungerecht.
Aber warum haben die einen mehr und die anderen weniger? Die „gemachten“
Unterschiede stehen unter Rechtfertigungszwang.
Die
Christliche Soziallehre kennt nur zwei Rechtfertigungsgründe für die
Besitzergreifung der Güter dieser Welt: Der erste Grund ist die Arbeit und der
zweite die Besitzergreifung herrenlosen Gutes. Den zweiten Grund kann man
heutzutage vernachlässigen, denn außer ein paar vergessenen Inseln ist auf der
Welt alles entdeckt und verteilt. Aber wie ist es mit dem Rest? Ist die Güterverteilung
die Frucht der Arbeit? Die 27 Milliardäre, welche zum Beispiel in Rußland über Nacht
aus dem Boden geschossen sind, haben ihren Besitz nicht erworben, weil sie mehr
gearbeitet hätten oder tüchtiger gewesen wären; etwa indem sie täglich ein paar
„Überstunden“ machten. Sie sind auch nicht sparsamer gewesen als diese, indem
sie vielleicht abends gar ein Gläschen Wodka weniger getrunken als jene, die
nichts haben. Ihren Reichtum verdanken die russischen Neureichen unter anderem
der Korruption, die Putin ermöglichte – und förderte! Gerechtigkeit?
Die
358 reichsten Familien dieser Welt, welche die Hälfte des Weltvermögens besitzen,
haben ihren Reichtum nicht durch Fleiß ergattert. Gerechtigkeit? Die
Güterverteilung auf der Welt ist ein Faustschlag ins Gesicht der Gerechtigkeit.
Hayek, der Urgroßvater der Neoliberalen, nannte die Gerechtigkeit einen
„Phantombegriff“. Da wird er sich aber im Himmel noch wundern, und seine auf
Erden lebenden Enkel noch mehr, welche Vitalität dieses „Phantom“ noch
entwickeln wird. Es ist nämlich noch nicht aller Tage Abend. Globalisierung
heißt nämlich nicht nur freier Handel mit Gütern, sondern auch unbegrenzter
Zugang zu Informationen.
Die
Armen lassen sich nicht mehr so leicht für dumm verkaufen wie früher. Sie
erfahren, wie es aussieht auf der Welt, und daß es auch anders geht, wie es
ihnen ergeht. Reichtum von Gottes Gnaden oder Armut als Schicksal werden nicht
mehr gutgläubig-dumm hingenommen wie sintemal.
„Jedem
das Seine“ ist der Grundsatz der Gerechtigkeit, und „Gleiches gleich behandeln“
und „Ungleiches ungleich“ ist ihre Faustregel. Der Kommunismus ist einst
zusammengebrochen, weil er Vielfalt unterdrückte. Die Kapitalisten werden daran
scheiten, daß sie die elementaren Gleichheitsrechte mißachten. Die Gerechtigkeit
hält gleich weiten Abstand von kapitalistischen und kommunistischen Irrtümern.
Kommunismus wie Kapitalismus haben die Balance zwischen Gleichheit und
Differenz nicht geschafft. Gleichheit und Differenz sind die beiden Gewichte
des Prinzips Gerechtigkeit, welche sie im Gleichgewicht halten muß. In welchem
Verhältnis stehen sie zueinander und in welcher Mischung?
Das
ist die Frage, mit der das Gerechtigkeitsprinzip konkretisiert wird. Gleichheit
kann nicht Differenzierung ersetzen und Differenzierung nicht Gleichheit. Wenn
alle hungern, ist deshalb noch nicht Gerechtigkeit erreicht, obwohl alle gleich
betroffen sind. Andererseits ist auch der Anstieg des allgemeinen Wohlstandes
noch kein Gerechtigkeitsindiz. Wenn einer zwei Bratwürste ißt, der andere aber
keine, hat jeder durchschnittlich eine Bratwurst gegessen, obwohl der eine
hungrig und der andere satt ist.
Auch
die Rawls’sche Gerechtigkeitsformel, wonach eine Verteilung dann
gerechtfertigt sei, wenn die Schwächsten bei der Veränderung den stärksten
Vorteil hätten, erfüllt noch nicht die hohen Ansprüche der Gerechtigkeit. Wenn
durch Verteilungsveränderung einer, der 10 Bratwürste hat, nur noch 8
Bratwürste besitzt, weil er dem, der 1 Bratwurst besaß, 2 abgab, so ist die
neue Verteilung 8: 3 nicht selbstverständlich gerecht, obwohl der Mann, der am
Ende 3 Bratwürste verzehrte, den größten Vorteil bei diesem Handel hatte. Aber
nicht jeder Kuhhandel ist schon gerecht, nur weil die Schwächeren dabei
gewonnen haben.
Neoliberale
Erfolgsmeldungen über wachsenden Wohlstand, die sich mit Durchschnittszahlen brüsten,
sagen nichts über den differenten Zustand des Wohlstandes der Welt. In
Deutschland wächst der Wohlstand, und der Abstand zwischen reich und arm.
Wohlstandswachstum und Zunahme der Ungerechtigkeit ist also machbar. Die
Gesellschaft driftet auch in Deutschland auseinander. Die Mitte wird schwächer.
Der Bevölkerungsteil, der weniger als 70% der Durchschnittseinkommen bezieht,
ist vom Jahr 2000 bis zum Jahr 2006 von 17,8% auf 25,4% gewachsen. Gestiegen
ist auch der Anteil derjenigen, die mehr als 150% des Durchschnittseinkommens
beziehen, nämlich von 18,2% auf 20,4%. Die Ränder werden stärker, die Mitte
schwächer. Deutschland spiegelt die Weltentwicklung. Auch wenn das Finanzgenie Soros
von seinen Spekulantengewinnen Milliarden für wohltätige Zwecke stiftet,
ist damit noch nicht das Gebot der Gerechtigkeit erfüllt. Die
Rockefeller-Stiftung ist eine lobenswerte soziale Institution – ebenso wie die
Bertelsmann-Stiftung und andere. Einrichtungen der Gerechtigkeit sind sie
deshalb noch lange nicht. Gerechtigkeit ist etwas anderes als Spendenbereitschaft
und Mäzenatentum. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sind beide vonnöten in
jedweder Gesellschaft. So perfekt wird nämlich keine menschliche Gesellschaft sein,
daß sie auf Barmherzigkeit verzichten könnte. Rufe aber nicht voreilig Barmherzigkeit
zu Hilfe, wenn Gerechtigkeit gefordert ist. Es kann die Flucht aus der Feigheit
vor der Gerechtigkeit sein, die vorschnell Zuflucht bei der Barmherzigkeit
sucht.
Die
zwei Seiten der Gerechtigkeit
Die
Gerechtigkeit entfaltet sich auf zwei Seiten, auf welchen der Mensch existiert.
Der Mensch ist Individual- und Sozialwesen. Der Fehler von Kapitalismus und
Sozialismus besteht darin, daß beide einseitig sind und „ihre Seite“ jeweils für
das Ganze gehalten haben. Der Kapitalismus das Individuelle, der Sozialismus das
Soziale. Die christliche Anthropologie integriert die zweifältige Existenzweise
des Menschen. Person ist immer beides: individuelles und soziales Wesen.
Dementsprechend entfaltet sich Gerechtigkeit in zwei Relationen: 1. Zwischen
den Einzelnen: Das ist die Tauschgerechtigkeit, 2. zwischen der Gemeinschaft
und dem Einzelnen, und zwar in zwei Richtungen: Vom Ganzen zum Einzelnen. Das
ist die „Verteilungsgerechtigkeit“. Und vom Einzelnen zum Ganzen, das ist die
„allgemeine Gerechtigkeit“. Gerechtigkeit ist zwar ein uraltes Ordnungsraster,
entpuppt sich aber als immer noch brauchbar, moderne, komplexe Sozialverhältnisse
zu entwirren und zu ordnen. Dazu einige Beispiele: Die Entlohnung der Arbeit
steht unter dem Gebot der Tauschgerechtigkeit. Es gilt das Prinzip der Äquivalenz:
Lohn für Leistung. Solange die Arbeiter an den Investitionen nicht beteiligt
werden, die sie mit erwirtschaften, sind sie die Betrogenen einer jeden
Lohnfindung. Der „gerechte Lohn“ kann zwar nicht mathematisch ermittelt und auf
Euro und Cent ausgerechnet werden, aber was „ungerechter Lohn“ ist, läßt sich
feststellen. Ohne investive Beteiligung, in welcher Form und über welchem Weg
auch immer, ist jedoch jede Entlohnung ungerecht. Es darf nicht alles
konsumiert werden, was
erwirtschaftet
wird. Das ist klar und jedermann erklärbar. Wie der kluge Bauer von der
jährlichen Ernte das Saatgut abzweigt, damit er im nächsten Jahr auch noch
ernten kann, müssen auch vom wirtschaftlichen Ergebnis Teile für Investitionen
reserviert werden. Wieso aber werden die Mittel, die für neue Investitionen notwendig
sind, einfach dem alten Kapital zugeschlagen? Diese Verteilungsgewohnheit hat
sich zur Selbstverständlichkeit aufgespielt, die sie aber nicht ist. Der
Überschußertrag Gewinn stammt aus der Leistungsgemeinschaft von Arbeit und
Kapital und muß deshalb auch beiden Seiten zu Gute kommen. Es geht nicht um die
Verteilung bestehenden Eigentums, sondern um die des neu entstehenden. Daß wir
das alte, bereits gebildete Eigentum ungeschoren lassen, ist ein pragmatisches Zugeständnis,
welches der Einsicht in die Unmöglichkeit geschuldet ist, alle Fehler der
Vergangenheit in der Gegenwart wettmachen zu können. Die Epikie, welche die
Gerechtigkeit mit der Billigkeit versöhnt, ist ein Obolus an die
Unvollkommenheit der Welt.
Eigentum
in Arbeitnehmerhand
Eigentum
in Arbeitnehmerhand ist ein altes, christlich-soziales Programm. Es kommt nur
in Trippelschritten voran. Die Kapitalkumulierung dagegen eilt seiner Verwirklichung
weltweit mit Riesenschritten davon. Das gilt auch hierzulande. 10% der
Haushalte in Deutschland besitzen 50% des Vermögens, und 50% nur 4,5%. Ist das
gerecht? Verteilungsveränderung wird erst handfest, wenn der Eigentumslohn
Gegenstand der Einkommenspolitik der Tarifpartner wird.
Die
Versöhnung von Arbeit und Kapital könnte der Rettungsanker des Kapitals werden.
Das von Arbeit und Wertschöpfung entkoppelte Finanzkapital ruiniert das
Eigentum. Wenn der Finanzkapitalismus sich weiter von der Arbeit entfernt und
sich dabei zum Stellwerksmeister der Globalisierung aufspielt, wird er sich allerdings
selbst zugrunde richten. 1,5 Billionen Dollar bewegen sich Tag für Tag auf der
globalen Datenautobahn um die Erde. 97% haben mit Arbeit und realen Gütern
nichts zu tun. Sie sind das virtuelle Spielmaterial von Spekulanten.
Damit
emanzipiert sich das Kapital von den Realitäten. Die bevorzugten Plätze des
Kapitals werden die Luftblasen, von denen Fachleute behaupten, ihre schädliche Wirkung
auf die Weltwirtschaft könnte nur vermieden werden, wenn auf die geplatzte eine
noch größere Blase folgte.
Virtueller
Finanzmarkt und Realität klaffen weit auseinander. Mit Eigentum und Arbeit
haben die Jongleure des Finanzmarktes weniger zu tun als die süddeutsche Klassenlotterie
mit der Belohnung von Leistung. Wenn sich auf der Welt die Börsenkurse um 1
Prozent verändern, wird mehr „umverteilt“, als alle Arbeitnehmer an diesem Tag
verdienen. Lohngerechtigkeit ist zum dekorativen Rahmenprogramm der
Kapitalbildung verkommen. Auf der Bühne wird um Lohnkosten
gekämpft. Tarifpartner liegen sich erschöpft in den Armen. Doch ihr Verteilungskampf
ist noch nicht einmal das Rahmenprogramm zum Geschäft, das hinter den Kulissen
abläuft und von dem niemand mehr weiß, wer, wann, wie viel, wo, wen über’s Ohr
haut.
Sozialpolitiker
werden hierzulande als „Verteilungspolitiker“ attackiert. Die Börsenumverteiler
wurden dagegen hofiert. So wurde „Sozialpolitiker“ ein Schimpfwort,
„Börsenmakler“ ein Kavaliersbegriff. Beide organisieren Umverteilung. An der
Börse nur unvergleichlich mehr, aber relativ lautlos.
Der
vagabundierende Finanzkapitalismus bedroht Arbeit und Eigentum. Deshalb sind
neben den Arbeitern auch die selbständigen Unternehmer die Opfer dieser Art von
Globalisierung. Der Mittelstand hat nur Zukunft im Bündnis mit der Arbeit. Im
Dienste des Finanzkapitals werden die Mittelständler bestenfalls Lehensträger, abhängig
von den Launen der Finanzjongleure, denen sie dienen, zu und abliefern.
Marktwirtschaft
und Tauschgerechtigkeit
Tauschgerechtigkeit
ist ein noch immer aktuelles Kapitel der Gerechtigkeit. Sie steht der
Marktwirtschaft nicht im Wege. Im Gegenteil. Sie ist ein Fundament der
Marktwirtschaft. Denn das Äquivalenzprinzip, also das Gleichgewicht von Leistung
und Gegenleistung, von Angebot und Nachfrage, steuert die Marktwirtschaft, so
jedenfalls sieht es das marktwirtschaftliche Modell vor.
Dabei
agiert Markt basisbezogen, also bedürfnisorientiert; die Marktwirtschaft schätzt
die Gewichte, welche auf die Waage der Äquivalenz gelegt werden, nicht autoritär
ein. Das unterscheidet sie von der Planwirtschaft. In der Marktwirtschaft entscheidet
die Knappheit über den Preis, also ein bedarfsbezogenes Kriterium.
Nicht
eine Planbürokratie entscheidet, was „gebraucht“ und „gemacht“ wird und wie
teuer es ist. Was knapp ist, ist teurer. Wenn beispielsweise Müllmänner knapp
sind, Professoren aber überreichlich vorhanden, müssen die Müllmänner nach dem
Gesetz von Angebot und Nachfrage mehr verdienen. Das Bedürfnis also entscheidet
über den Preis, und so wird Leistung an den Kunden rückgekoppelt. Das Bedürfnis
lenkt den Leistungseinsatz. Das Angebot folgt der Nachfrage. Der Kunde ist
König. Das jedenfalls entspricht dem marktwirtschaftlichen Ideal.
Die
globale Wirtschaft jedoch ist weitgehend eine Angebotswirtschaft. Das Kapital lenkt
und stranguliert die Arbeit, nicht die Nachfrage entscheidet. Die Bedürfnisse sind
zu Funktionen des Finanzkapitals geworden. Der Produktionsapparat und die in
ihn eingespeisten Innovationen sind nicht von Verbrauchern gesteuert, sonst
würde die Mondfahrt nicht vor der Beseitigung von Hunger und Elend von der Erde
gestartet sein.
Die
Anbieter dirigieren die Wirtschaft. Noten schreiben die Rating-Agenturen nach
eigenen, oft eigensüchtigen Mustern. Rating-Agenturen bestimmten über das Auf
und Ab von Unternehmen und ganzer Staaten dazu. Die zwei größten von ihnen,
nämlich Moodys und Standard Poors, kontrollierten – so wird geschätzt – mit
ihren Ratings den Fluß von rund 80 Prozent des Weltkapitals. Sie entscheiden
mit ihren „Vollstreckungsurteilen“ auch über die Kreditwürdigkeit von Schwellen-
und Entwicklungsländern. Wer hat diese Stellwerksmeister der Globalisierung
eigentlich legitimiert? Das Äquivalenzprinzip scheint ihnen noch nicht einmal
vom Hörensagen bekannt zu sein. Die „Leistungen“ der Rating-Agenturen
entpuppten sich schlagartig in der amerikanischen Hypothekenkrise als
prognostische Hochstapelei. Es handelt sich in Wirklichkeit um Schiedsrichter, die
mitspielen. Sie verdienen an ihren eigennützigen Beratungsgeschäften und
wirtschaften vornehmlich mit Blick in die eigene Tasche. Mit Marktwirtschaft
und Tauschgerechtigkeit hat das so wenig zu tun wie ein Banküberfall. Es handelt
sich eher um eine Form von organisierter Korruption.
Der
Finanzkapitalismus entledigte sich seiner Fessel. Die Regulierungen, die 1933
im sog. Glass Steagall Act als Konsequenz aus einem großen Weltwirtschaftscrash
gezogen worden waren, wurden 1999 abgeschafft. Hurra! Wettet und rettet sich,
wer kann. Die Finanzwirtschaft wurde dereguliert, privatisiert und ruiniert.
Das war der letzte „neoliberale“ Pyrrhussieg.
Sozialstaat,
Arbeit, Wohlstand
Das
Äquivalenzprinzip kann auch im Sozialstaat seine Ordnungsaufgaben erfüllen. Leistungen
der Rentenversicherung entsprechen zum Beispiel der Beitragsdauer und -höhe,
freilich mit sozialen Ausgleichsregulationen ergänzt. Der Versuch, Renten- und
Arbeitslosenversicherung durch ein allgemeines staatliches Grundeinkommen zu
ersetzen, wie ihn ausgerechnet ein Christdemokrat, Ministerpräsident Althaus,
unternimmt, verwechselt Gerechtigkeit mit Nivellierung. Mit einer solchen
Sozialpolitik wird jeder Anreiz für Fleiß und Sparsamkeit aus dem Sozialstaat
herausoperiert.
Wer
den Sozialstaat mit Steuern finanziert, koppelt ihn vom Äquivalenzprinzip ab
und macht ihn zum Nachfolger des alten Obrigkeitsstaates, diesmal allerdings in
der Maske des fürsorglichen Wohltäters. Wer unser Sozialsystem andererseits der
Kapitaldeckung übergibt, wirft es der Spekulation zum Fraß vor. In beiden Fällen
entledigt sich der Sozialstaat des Zusammenhangs mit der Arbeit. Chile, von der
Weltbank verführt, von Pinochet zur Kapitaldeckung drangsaliert, liefert
im Übrigen eindrucksvolles Anschauungsmaterial, wie es mit der Sicherheit von Kapitaldeckungssystemen
aussieht. Das Desaster ist weltweit zu besichtigen. Und von 112.000
Pensionsfonds der Vereinigten Staaten haben gerade mal 32.000
überlebt.
Wer
die Arbeit rehabilitieren will, darf den Sozialstaat nicht der Kapitaldeckung ausliefern.
Das wäre nicht nur ein sozialpolitischer, sondern auch ein
gesellschaftsstrategischer Fehler, der zur weiteren Entwertung der Arbeit führt
und zur Schwächung der Leistungsgerechtigkeit führt. Mit der kapitalgedeckten
Privatrente finanzieren die Arbeiter die Schlächter ihrer Arbeitsplätze. Das
ist eine Art von ungewolltem beschäftigungspolitischen Selbstmord. Nachdem das
vagabundierende Finanzkapital die Wiesen der Privatisierung langsam abgegrast
hat, entdeckt es als letzten Futterplatz die Soziale Sicherheit. Die soll jetzt
auch privatisiert, d. h. der Ratio der Spekulation anheim gegeben werden. Der
Sozialstaat, der in einer ausbalancierten Sozialen Marktwirtschaft das
Gegengewicht zur Marktwirtschaft bildet, wird so zum Hilfsmittel einer
Marktwirtschaft, die alles vertilgt, was sich noch außerhalb der Reichweite
ihrer Verwertung befindet.
Es
geht um die Gerechtigkeit. Die Arbeit steht der Würde des Menschen näher als
das des Kapitals, das nur instrumentalen Wert besitzt. Das jedenfalls ist der unbestreitbare
Kernsatz der Christlichen Soziallehre. Arbeit ist wichtiger als Besitz. „So ist
also das Prinzip des Primates der Arbeit vor dem Kapital eine Forderung
sozialethischer Natur“ (Laborem exercens).
Die
weltweite Sozialaufgabe ist: Den Zugang zur Arbeit für alle zu öffnen. Arbeit gibt
es genug: Hier wie anderswo. Angesichts des Elends in der Welt zu behaupten,
daß uns die Arbeit ausginge, kann nur dem bornierten Selbstverständnis von
Wohlstandskindern entspringen, die ihren Nabel für den Mittelpunkt der Welt
halten. Wenn die Armen der Erde mehr Arbeit haben und damit mehr Wohlstand, ist
auch der Wohlstand in den entwickelten Ländern sicherer.
Vor
allen Dingen: Die „Satten“ werden sich ihres Wohlstandes nicht erfreuen können,
wenn die Ungerechtigkeit so groß bleibt, wie sie zur Zeit ist.
Gerechtigkeit
und CDU
Gerechtigkeit
ist das Prinzip, an dem sich die Geister scheiden. Die Erinnerung an
Gerechtigkeit kann lästig werden. Deshalb gerät sie immer wieder in Gefahr, verdrängt
oder einfach als veraltet hingestellt zu werden. Angela Merkel wollte Gerechtigkeit
programmatisch zur „Fairneß“ verniedlichen. Fairneß ist jedoch nur eine
Verhaltens- und Verfahrensregel, aber kein Strukturprinzip. Selbst auf „Verläßlichkeit“
sollte die Gerechtigkeit nach dem Willen der CDU reduziert werden.
Verläßlichkeit ist gut, aber nicht immer. Auch die Mafia kann schließlich verläßlich
agieren.
Die
CDU hat diesen modischen Neoliberalismus bitter bezahlen müssen, denn das
Gerechtigkeitsbewußtsein war offenbar bei den Wählern tiefer verwurzelt, als es
bei den Delegierten des Dresdner Parteitages und von den CDUWahlkampfstrategen vermutet
worden war. Kopfpauschalen balbieren alle über den gleichen Kamm. Ungleiches
wird gleich behandelt. Das verstößt elementar gegen die
Verteilungsgerechtigkeit. Der Verstoß wird nicht gemildert, indem den Einkommensschwächeren
ein staatlicher Zuschuß zu ihrem Kopf-Pauschalbeitrag gewährt wird. Eine solche
Regel verstößt gegen das Subsidiaritätsprinzip, weil damit der Staat zu Hilfe
gerufen wird, während das Subsidiaritätsprinzip verlangt, den vorstaatlichen
Regelungen den Vorzug zu geben. Proportionale Beiträge, welche von der
Sozialversicherung festgesetzt werden, schaffen den Sozialausgleich intern und
haben demnach Vorfahrt vor der steuerfinanzierten Transferregelung.
Die
CDU kann sich drehen und wenden wie sie will. Sie kommt aus ihrer neoliberalen sozialpolitischen
Verstrickung nicht heraus, wenn sie nicht in der Krankenversicherung einen
klaren Trennungsstrich von den sozialpolitischen Verwirrungen ihres Dresdener
Parteitags zieht. Der jetzige Vorschlag zur Reform der Krankenversicherung ist
ein bürokratisches Monstrum, das die alte Kopfpauschalenregelung kaschiert,
ohne von ihr loszukommen. Prestigebedürfnisse gemischt mit Rechthabereien
verhindern den Befreiungsschlag ... und so folgt ein „Schrecken ohne Ende“, und
der ist bekanntlich schlechter als ein „Ende mit Schrecken“.
Suchmeldungen
nach Gerechtigkeit umkreisen den Erdball. Sie bedürfen keiner Datenautobahn.
Die Nachfrage nach ihr ist dem Menschen angeboren. Man stutzt verwundert:
Gerechtigkeit, diese uralte Idee, von manchem als museales Erinnerungsstück abgestellt,
erlebt im Zeitalter der Globalisierung eine universale Renaissance.
Globalisierung ist eben doch mehr als eine Finanzmarktkunst, so wie die
europäische Einheit mehr ist als der Euro.
Gerechtigkeit
– ein akademischer Ladenhüter oder gar ein Hayek’scher Phantombegriff? Von
wegen! Gerechtigkeit ist ein Streitzünder. Sie bleibt umstritten, und sie
selbst entfacht Streit. Wer aber glaubt, ohne sie auszukommen oder sie gar zum
rhetorischen Festdekor von Parteitagsreden verkommen lassen zu können, wird es
bitter bereuen und teuer bezahlen müssen.
Die
CDU hat in den Wahlen 2005 schon einmal Lehrgeld bezahlt. Das zweitschlechteste
Wahlergebnis gegen den schwächsten Gegner in ihrer Geschichte, nämlich gegen
eine Regierung, die das Handtuch geworfen hatte, war die Ernte für die
neoliberale Wahlkampfsaat. Wem das nicht zu denken gibt, dem ist nicht mehr zu
helfen.
Man
kann auch aus Erfahrungen klüger werden. Der mißverstandene „Neoliberalismus“ hat
seine beste Zeit schon hinter sich. Es scheint das Schicksal vieler Ideologien
zu sein, sich als Vorreiter zu gerieren, während sie schon längst in der Nachhut
trappeln.
Dr.
Norbert Blüm war von 1982 bis 1998 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung in
der Regierung Kohl.
©: Die Neue Ordnung, Jahrgang 63, Juni 2009
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