Erschienen in Ausgabe: No 74 (4/2012) | Letzte Änderung: 08.02.13 |
von Heike Geilen
Ein Labyrinth aus bedrucktem Papier
"Der Anfang eines Textes ist eine Wurzel, die in die Zukunft
wächst.", stellte Ilija Trojanow in seiner Antrittsvorlesung zur
Heiner-Müller-Gastprofessur in der Berliner Freien Universität fest. Der erste
Satz seines jüngsten Werkes "Stadt der Bücher" lautet: "College
Street ist keine Straße, es ist kein Viertel und keine Hochschule; College
Street ist das Versprechen, jedes Buch zu finden, das man begehrt."
Bibliophilen dürfte diese Aussage einen enormen Adrenalinschub verpassen.
Das "Versprechen, jedes Buch zu finden, das man begehrt." Wo
bitteschön liegt diese College Street? Wie komme ich schnellstmöglich dahin?
Zumal bereits das Cover, das einen bunten Stapel aufgeschichteter Bücher zeigt,
jeden Bibliomanen ins Auge gefallen sein dürfte. Ein kurzes erstes
Durchblättern des kleinformatigen Bandes offenbart weitere farbenfrohe
Bucharrangements. Doch die anfängliche Euphorie weicht einem ungläubigen
Erstaunen, wenn man den Ort dieses literarischen Offenbarungseides erfährt.
Denn diese College Street liegt in... Kalkutta.
Der bulgarische Autor, dessen Roman "Der Weltensammler" 2006 den
Preis der Leipziger Buchmesse gewann und der selbst vier Jahre in Indien lebte,
nimmt mit diesem ungewöhnlichen, einem Essay ähnelnden Text, den Leser in eine
der wohl gegensätzlichsten Städte des tropischen Subkontinents mit. Fragend,
suchend, zweifelnd, prüfend und neugierig herumirrend sinniert Trojanow in
kurzen Sätzen über eine Straße, der scheinbar jegliches Maß fehlt.
"Bescheidenheit oder Beschränkung sind Fremdworte, die in keinem der
örtlichen Dialekte auftauchen. Wer sich hier verirren sollte, wird einer
Überdosis Wissen erliegen.", warnt er.
Auf Grund der detailreichen und farbenprächtigen Fotos von Anja Bohnhof,
die den dortigen allseits präsenten Respekt vor dem gedruckten Buch anschaulich
und liebevoll in Szene setzt,taucht man
Seite für Seite in ein Labyrinth aus bedrucktem Papier ein. Unbeeindruckt von
jeglichen Buchdruckuntergangsszenarien stapeln sich in Kalkuttas
Universitätsviertel, in oft improvisiert anmutenden Verkaufsständen, "von
den Bürgersteigen zu den Durchgängen, von Türen über Treppen bis hinauf zu
vollgestopften Dachgeschossen (...) die Bücher zu Fassaden, Ecken und
Erkern", ergänzt Trojanow, der in seinem Text gleichfalls auf Historie
sowie die politische und soziologische Gegenwart dieser "Stadt inmitten
von Krankheit, Elend und Durcheinander" eingeht und auch persönliche
Kontakte mit Verlegern, Druckern oder aber dem sechzigjährigen Bücherträger und
Straßenkehrer Ramlal, einflicht.
Doch Vorsicht mit vorschnellen Reisebuchungen in das vermeintliche Eldorado
der Buchdruckerkunst. Die etwa fünftausend Verkaufsstände sind für den
gewöhnlichen Literatur-Flanierer und -Stöberer nicht zugänglich. Wie bitte?
Erneutes ungläubiges Stirnrunzeln. Aber wie verkauft der indische Buchhändler
denn seine Ware? Ganz einfach: Man trägt einen konkreten Wunsch an ihn heran
und dann stehen die Chancen verblüffend gut, dass das Buch innerhalb von zehn
Minuten auftaucht, so Ilija Trojanow. Ein Selbsttest des Autors mit Nennung
seines eigenen Autorennamens konnte dies tatsächlich bestätigen.
Der letzte Satz dieses liebevoll gestalteten Büchleins lautet übrigens:
"An der Zukunft wird noch gebaut: An der Ecke der zwei größten Straßen,
neben der Haltestelle der roten Tram, entsteht ein gewaltiges mehrstöckiges
Gebäude, das bald vielen Verlegern und Buchhändlern zur Heimstatt werden soll,
ein Bucheinkaufszentrum wie nur wenige auf der Welt, konzipiert von dem berühmten
Architekten Hafeez Contractor, ein Ort, an dem alle Buchinteressierten
zusammenkommen sollen, wo auf 100.000 Quadratmetern alles zu finden sein wird,
was mit dem Buch zu tun hat." Also doch: Auf nach Kalkutta!
Ilija
Trojanow, Anja Bohnhof
Stadt der Bücher
LangenMüller Verlag, München (April 2012)
128
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
378443293X
ISBN-13:
978-3784432939
Preis:
14,99 EURO
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