Erschienen in Ausgabe: No 78 (8/2012) | Letzte Änderung: 06.02.13 |
von Rainer Westphal
Die
Pressekonferenz am 22. Juli 2011 dürfte wohl in die Analen der Geschichte der
Bundesrepublik eingehen. Nach 18 Monaten Chaos ist die Kanzlerin aller
Deutschen zu der weisen Erkenntnis gekommen, dass offensichtlich der Euro den
Deutschen Wohlstand und Frieden gebracht hat. Darüber hinaus erklärte Sie, dass
Sie nunmehr zu der Auffassung gelangt sei, dass es sich bei Europa und dem Euro
um eine Schicksalsgemeinschaft handeln würde, und alles, was heute investiert
wird, wir um ein Vielfaches zurück bekommen. Außerdem habe sie eine Obsession
für Europa entwickelt.
Welchen
Personenkreis Frau Dr. Merkel im Blick hatte, als sie davon sprach, dass wir
ein Vielfaches davon zurück bekommen würden, was heute investiert wird, bleibt
dahingestellt. Niemand verlangt von der Kanzlerin aller Deutschen, dass sie
eine Obsession für Europa entwickelt (1). Es kann aber erwartet werden, dass
Lösungen für die gravierenden Probleme unter ihrer „Regentschaft“ erarbeitet,
und in die Realität umgesetzt werden.
Dass
18 Monate ins Land gehen mussten, bevor die Kanzlerin aller Deutschen sich
aufgrund der Griechenland-Krise zu Europa bekannte, lässt den berechtigten Verdacht
zu, dass diese sich in der Vergangenheit offensichtlich keinerlei Vorstellungen,
welche die Zukunft und den Sinn einer europäischen Integration beinhaltet,
gemacht hat. Die Vorgehensweise von Frau Dr. Merkel lässt sich u. a. offenbar
mit der verunglückten Aussage vom Altkanzler Helmut Schmidt in Verbindung bringen,
die da lautete:
„ Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen!“
Die
Vorgehensweise von Frau Dr. Merkel ist auch dahingehend zu interpretieren, dass
eine politische Aktivität erst dann von ihr erfolgt, wenn dieses aus Gründen
des Machterhalts opportun ist. Dieses hat mehr oder weniger dazu geführt, dass
die Bankenkrise zu einer Finanzierungskrise der Euro-Staaten geführt hat. Nach
fast 20 Monaten ist man dann in Brüssel offenbar dem Kern des Problems der
Staatsverschuldungen ein weiteres Stück näher gekommen. Es wurde die Planung und
Einführung einer so genannten Fiskalunion, auch Fiskalpakt genannt, in Angriff genommen.
Es
wurde das Finanzierungsinstrument EFSF geschaffen (2), welches durch einen
Finanzierungsfonds ESM ergänzt wird. Am 9. Juli d. J. soll ein neues Institut
in Luxemburg seine Arbeit aufnehmen, welches über ein Volumen von ca. 750
Milliarden Euro zwecks Finanzierung notleidender Staaten geschaffen wurde.
Es
dürfte bekannt sein, dass im Jahre 2004 eine Verfassung für Europa (VVE) unterzeichnet
wurde, dessen Ratifizierung am Referendum in Frankreich und den Niederlanden
scheiterte. Spötter bezeichneten diese Verfassung, nicht ganz zu Unrecht, als
ein von Winkeladvokaten für Aristokraten geschaffenes Papier. Um dieses Papierdennoch in Kraft zu setzen, wurde der so
genannte Lissabon-Vertrag geschaffen. Mit diesem Vertrag wollte man durch „die Hintertür“
auf parlamentarischem Wegedas Konstrukt
auf den Weg bringen. Die Unterzeichnung eines derartigen Vertrages bedeutet
die Verletzung der demokratischen Rechte aller Europäer in den Unterzeichnerstaaten,da dieser völkerrechtlich bindend ist.
Es
ist davon auszugehen, dass den Politikern, welche für die Einführung des Euros
verantwortlich waren, bekannt war, dass das Unterfangen “Euro“ ohne politische
Einigung als riskant einzustufen ist. Man ging davon aus, dass diese Einigung Zug
um Zug nachgeholt werden könne. Leider wurde dieses versäumt, was aufgrund der
Bankenkrise früher als erwartet zu einer Zerreißprobe für Europa und dem Euro
führte (3).
Im
Rahmen dieser Ausführungen ist es notwendig, sich einmal an einige Inhalte des
Lissabon-Vertrages, der, wie bereits erwähnt, völkerrechtlich bindend ist, zu erinnern.
Dieser Vertrag verbietet grundsätzlich die wirtschaftliche und finanzielle
Hilfe der Mitgliedsländer an Länder innerhalb der EU. Darüber hinaus werden
Kapitalverkehrsbeschränkungen verboten, aber militärische Interventionen zwecks
Niederschlagung von Aufständen in den Mitgliedsländern ermöglicht.
Selbstverständlich wurde auch die Möglichkeit geschaffen, die Todesstrafe wieder
einzuführen. Es fehlen jegliche soziale Elemente, welche als einen klaren
Hinweis darauf zu interpretieren sind, dass hinter dem Vertragswerk die
Philosophie des Neoliberalismus steht.
Was
aber als gravierender Fehler angesehen werden kann, ist die Vorstellung, unter
dem Dach einer einheitlichen Währung einen ruinösen Konkurrenzkampf zu
ermöglichen, der u. a. zu einem Wettlauf in der Vernichtung der Sozialsysteme
und den vorhandenen wirtschaftlichen Strukturen führt. Länder mit einer
gewaltigen Produktivität schafften somit Ungleichgewichte in den Handels- und
Zahlungsbilanzen anderer Mitgliedsländer, was im Endeffekt zur Verschärfung der
Schuldenkrise führte. Länder wie Frankreich und die Bundesrepublik sind somit
nicht unschuldig daran, dass andere, schwächere Volkswirtschaften, über eine
höhere Staatsverschuldung die Löcher in den Haushalten stopften, im Glauben,
dass aufgrund deregulierter Finanzmärkte eine Fristentransformation in die
Ewigkeit möglich wäre.
Die
Empörung gewisser Staaten über diese Vorgehensweise ist als scheinheilig anzusehen,
da diese mit gutem Vorbild vorangegangen sind. Es herrscht offensichtlich ein
Wettbewerbsdenken in der Eurozone vor, welches nicht motiviert, sondern
schwächere Länder in den Ruin treibt. Europa wird offensichtlich für ein Fußballturnier
gehalten, bei dem vermeintliche Versager, auch „Schwachperformer“ genannt, die
nur über eine mangelhafte wirtschaftliche Produktivität verfügen, auszuscheiden
haben. Die Ablehnung von Euro-Bonds durch Frau Dr. Merkel mit dem Hinweis
darauf, dass durch diese Instrumente ein notwendiger Zinswettbewerb ausgeschlossen
werde, kann als ungeheuerliche Unbedarftheit oder Ver-ballhornung bezeichnet
werden.
Es hat
offensichtlich die Tatsache, dass Europa in einer globalisierten Welt ein
Bollwerk nach außen darzustellen hat, um seine Identität in kultureller
Hinsicht und wirtschaftlicher Prosperität zu behalten, noch keinen Einzug in
den Köpfen der Politiker gefunden. Gewisse Vorgänge lassen sich nur dadurch erklären,
dass der Virus des Neoliberalismus deren Hirne total vernebelt hat.
Wenn
wir uns nun dem Instrument ESM zwecks Finanzierung von Staatsdefiziten
zuwenden, dann müssen wir feststellen, dass dieses in der bestehenden Situation
notwendig ist, um einen Zeitgewinn für Maßnahmen, welche einer weiteren politischen
Einigung der europäischen Länder dienen, notwendig sind. Selbst der
interessierte Laie wird wissen, dass Geld als Blut der Wirtschaft bezeichnet
werden kann. Vertieftes wirtschaftswissenschaftliches Wissen, was die Erkenntnisse
von Quesnay (1694-1774) und der Physiokraten betrifft, ist wirklich nicht
erforderlich, um sich die verheerenden Folgen eines Kreislaufzusammenbruchs
vorzustellen.
Aus
den vorgenannten Gründen wird die Tatsache deutlich, dass rechtliche Probleme
völkerrechtlicher Verträge, so unsinnig sie auch erscheinen mögen, gewissen
Handlungen im Wege stehen. Deshalb wurden zunächst die Finanzierungsinstrumente
EFSF und ESM geschaffen. Aufgrund der rechtlichen Probleme haben Winkeladvokaten
dann eine so genannte Zweckgesellschaft in Luxemburg erfunden, welche für die
Durchführung zuständig sein wird. Im Zusammenhang mit den rechtlichen Problemen
wird auf das Grundgesetz verwiesen, welches Änderungen nur über eine
Zweidrittelmehrheit ermöglicht. Eine neue Verfassung bedarf einer
Volksabstimmung. Die Schaffung einer Fiskalunion beinhaltet die Aufgabe von
Souveränität der Unterzeichnerstaaten, was die Höhe der Neuverschuldungen
betrifft und erfordert demnach zumindest einer Änderung der Verfassung oder
einer Ergänzung.
Nur
unter dem Gesichtspunkt der Tatsache, dass intensiv eine schnelle Integration
und/oder eine schnelle Harmonisierung in nachstehend aufgeführten Bereichen
erfolgen, sind die so genannten
Rettungsschirme zu akzeptieren. Sollte man in dieser Richtung in Europa wieder politisch
versagen, dann dürfte die Gefahr des Zerfalls
der Euro-Zone latent vorhanden sein.
Einer
dringenden Harmonisierung bedarf es der Fiskal- und Wirtschaftspolitik um einen
Wettbewerb in der Euro-Zone zu gewährleisten bzw., man davon überhaupt sprechen
kann. Es wird u. a. eine einheitliche
Steuer- und Sozialpolitik erforderlich. Als erster Schritt wird hierbei der
Abbau des permanenten Lohndumpings in der Bundesrepublik anzusehen sein. Die
Einführung eines Mindestlohnes wäre ein erster Schritt. Programme zur Förderung
von Investitionen in schwächeren Volkswirtschaften innerhalb der EU sind
außerhalb der Beschränkungen, die durch einenFiskalpakt entstehen, vorzusehen. Wie drastische Sparprogramme die
Fiskalprobleme lösen sollen, bleibt das Geheimnis der vom neoliberalen Virus
befallenen Politiker. Es kann nicht nur darum gehen, das Vertrauen der Märkte
zu erlangen, da diese sich nicht im geringsten für das Wohlergehen der Menschen
interessieren. Wie man Vertrauen der Märkte erlangen kann, bleibt ein Geheimnis
derjenigen, die Derartiges verbreiten. Vertrauen kann man nur bei Menschen erwerben.
Dieses sind in der Regel die an den Märkten handelnden Menschen, welche zumeist
nur an Umsätze interessiert sind, welche hohe Profite garantieren.
Die
Finanzmärkte und das Bankenwesen bedürfen einer dringenden Reform, um die
Handlungsfähigkeit der Politik wieder sicherzustellen. Eine Tobin-Steuer,
neudeutsch: Finanzmarkttransaktionssteuer genannt, ist einzuführen. Diese
generiert nicht nur Erlöse, welche für Zinszahlungen aufgewandt werden können,
sondern bewirken eine Eindämmung der Spekulationen an den Finanzmärkten.
Insbesondere im Hochfrequenzhandel würde diese Steuer entsprechende Wirkungen
zeitigen.
Mittlerweise
dürfte als erwiesen anzusehen sein, dass neoliberale Konzepte Grundlage für das
Regierungshandeln sind, und zu einer unerträglichen Umverteilung von unten nach
oben führen. Der Neoliberalismus spaltet die Gesellschaft in einer nicht mehr
akzeptablen Art und Weise. Die Menschen haben gemerkt, dass Ihnen die Wahrheit
nur in kleinen Paketen zugänglich gemacht wird, in der Hoffnung, dass diese
sich an die für sie negativen Veränderungen gewöhnen, und man dann den nächsten
Schritt einleiten kann. Das endgültige
Ziel wird den Bürgern aus naheliegenden Gründen verheimlicht.
In
der europäischen Frage sind sich die so genannten Wirtschaftswissenschaftler,
auch Ökonomen genannt, uneinig. Man kann diese in vier Gruppen wie folgt
einteilen:
Konservative
Progressive
Exoten
Linke
Die
konservativen Wirtschaftswissenschaftler wenden sich vehement gegen die Aufgabe
von Souveränitätsrechten und sehen darin das Ende Europas. Die Progressiven
befürworten eine schnelle Integration und Abgabe von Souveränitätsrechten,
welche u. a. auch die Einführung von Euro-Bonds und einer Europäischen
Zentralbank, welche berechtigt ist, Schuldverschreibungen zu kaufen und zu
verkaufen. Die Exoten verbreiten haarsträubende
Thesen, welche u. a. darin gipfeln, ein Protektorat für Griechenland zu
errichten. Der interessierte Leser sollte einmal unter Google aufrufen:
Protektorat Böhmen und Mähren (Anm. des Verfassers).
Es
gibt auch so genannte Ökonomen, welche vor einer Hyperinflation warnen. Diese
Gefahr dürfte mittelfristig nicht gegeben sein, da davon auszugehen ist, dass
die Geld- und Kreditschöpfung im Vergleich zur Vergangenheit drastisch eingebrochen,
und somit die „wundersame Vermehrung“ des Buchgeldes stark eingeschränkt ist. Der
interessierte Leser sollte sich mit der Geldmengentheorie und der Verkehrsgleichung
von Irving Fisher (1867-1947) befassen, welche verkürzt wiedergegeben wie folgt
lautet:
Geldmenge X
Umlaufgeschwindigkeit ./. Handelsvolumen = Preisniveau
Die
Vielfalt der Auffassungen lässt den Schluss zu, dass die Unabhängigkeit der
Wissenschaftler wohl als begrenzt anzusehen ist. Diese Unabhängigkeit wird offensichtlich
beeinflusst von den wirtschaftlichen Interessen und von den Theorien, welche
gewisse Personen vertreten. Dem Verfasser fällt hierzu die Aussage von Albert
Einstein ein:
"Es ist die
Theorie, die entscheidet, was wir beobachten."
Die
Linken vertreten die Auffassung, und das keineswegs zu Unrecht, dass das
bestehende marode System als solches nicht mehr zu sanieren ist. Die ständige
Betonung der Konservativen, das Vertrauen der Märkte zurückgewinnen zu wollen,
führt bei den Linken zu der Schlussfolgerung, dass die Märkte die Oberhand über
die Politik und somit die Oberhand über die Demokratie gewonnen haben.
Derartiges führtzu einer unerträglichen
Umverteilung von unten nach oben, was mittel- oder langfristig in einer
Katastrophe endet. Den Beteuerungen der Politiker, insbesondere der SPD, was
den Abbau des Rautierkapitalismus betrifft, wird die Glaubwürdigkeit
abgesprochen. Letztendlich führt die vorhandene Situation nach Auffassung der
Linken immer schneller zum Demokratieabbau und zur Verelendung der Massen.
Abschließend
ist festzustellen, dass offensichtlich das Bundesverfassungsgericht vor einer
sehr schwierigen Aufgabe steht, da die rechtlichen Voraussetzungen im Grunde
für die Schaffung des ESM und einer Fiskalunion nicht vorhanden sind. Europa
krankt im Prinzip daran, dass es bisher nicht gelungen ist, eine europäische
Verfassung zu konzipieren, und deshalb an Verträgen festhält, welche mit der
Realität nicht mehr in Einklang zu bringen sind.
Die
Politiker in Europa stehen demnach vor einer großen Aufgabe, welche dringend zu
bewältigen ist. Sollte dieses nicht gelingen, dann wird Europa von den so
genannten Märkten irgendwann total überrollt. Es ist davon auszugehen, dass die
Zeit für entsprechende Handlungen immer kürzer wird. Darüber hinaus haben die
Menschen ein Recht darauf, über die geplante Zukunft informiert zu werden.
Allerdings
besteht der begründete Verdacht, dass die so genannte Politikerelite über keinerlei
Visionen oder Vorstellungen verfügt, welche die Zukunft Europas betreffen.
(1)http://www.tabularasa-jena.de/artikel/artikel_3556/
(2)http://www.tabularasa-jena.de/artikel/artikel_3700/
(3)http://www.tabularasa-jena.de/artikel/artikel_1950/
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