Erschienen in Ausgabe: No 76 (6/2012) | Letzte Änderung: 31.01.13 |
von Heike Geilen
Wie
fühlt es sich an, "wenn das Hörbare und das Unhörbare, das Ferne und das
Nahe, das Innere und das Äußere, das Tote und das Lebendige gleichzeitig da
wären, keines wäre über dem anderen, und dieser Augenblick, in dem alles
gleichzeitig da wäre, würde ewig dauern." Dann wäre wahrscheinlich
"Aller Tage Abend", so wie es der Titel von Jenny Erpenbecks neuem
Roman verkündet. Die Berliner Autorin hat nach ihrem 2009 für den Preis der Leipziger
Buchmesse nominierten Roman "Heimsuchung" erneut ein literarisches
Achtungszeichen gesetzt. Dieses Mal untersucht sie die unzähligen Möglichkeiten
eines Lebens. Momente und Verzweigungen, in denen es sich in diese oder aber in
eine ganz andere Richtung entwickeln kann. Zufälle bestimmen dabei den Fortgang
der Entwicklung. Am Ende steht jedoch immer der Tod. Oder vielleicht doch
nicht...?
In
fünf Kapiteln, die durch sogenannte Intermezzi getrennt sind und auch in ihrer
literarischen Erzählform völlig eigenständig agieren, verlängert Erpenbeck das
Schicksal eines Mädchens fünf Mal jeweils um einige Jahre. 90 werden es
letztendlich sein, die sie von 1902 bis ins Nachwendejahr 1992 vor dem Leser
aufrollt. So wird aus dem plötzlichen verstorbenen kleinen Mädchen, doch noch
ein hübscher Teenager im kargen Nachkriegs-Wien. Und auch dessen Selbstmord
entspringt nur einer literarischen Fiktion, so dass die junge Frau ihre
politischen Aktivitäten ins bolschewistische Russland verlagern kann. Doch dort
kann schon mal das sibirische Straflager folgen. Aber vielleicht kommt alles
ganz anders und sie zu schriftstellerischen Ehren in der DDR. Oder...
Vielleicht...
"Kehrt
die Zeit, wenn sie den Weg nach vorn verfehlt hat, einfach um und geht wieder
rückwärts?" Oder ist sie tatsächlich "wie ein Dornenstrauch, der sich
in Wolle verfangen hat, den man mit aller Gewalt herausreißt und hinter sich
wirft." Eines wird bei Jenny Erpenbeckjedenfalls klar: "Am Abend eines Tages, an dem gestorben wurde, ist
längst noch nicht aller Tage Abend." Denn ihre Personen "sind zum
Zurückbleiben bestimmt, manche zum Gehen, zum Ankommen die dritten." Die
Autorin spielt erneut faszinierend mit Unsichtbarkeiten und
Grenzüberschreitungen. Zeit ist bei ihr relativ. Lebensgrenzen werden beweglich,
verschieben sich unmerklich. Alles hängt mit allem zusammen. Wie Stege baut sie
dabei die Sitten der Menschen zum Teil ins Unmenschliche hinein. Ihre
Protagonisten brauchen zuweilen nur kurze Zeit um sich ihr Alltagsgewand über-
oder abzustreifen, "um irgendetwas aus einem anderen Leben (...) zu Ende
zu bringen" und hernach bald schon wieder "dahin zurückkehren, woher
sie kamen". Dass sie den abgelebten Alltag mitunter noch einmal einstürzen
sehen, ist unkalkulierbares Risiko.
"Aller
Tage Abend" entpuppt sich als anspruchsvoller Text, der viele Fragen
aufwirft. "Zeugt es von Feigheit, wenn man sein eigenes Leben verlässt,
oder von Charakter, wenn man die Kraft hat, neu zu beginnen?" "Wie
viele (...) Fronten gab es in einem Leben, die einem das Leben kosten
konnten?" Gibt es Momente, in denen man mit sich selbst vergleichbar ist?
"Bildet vielleicht die Summe all dessen, was irgendwann einmal irgendwo
auf der Welt gesagt wurde und wird, ein lebendiges Ganzes, das nur manchmal
nach dieser, manchmal nach der anderen Seite Auswüchse hat, am Ende aber sich
wieder ausgleicht?" Und ist vielleicht mitten unter den Menschen das
Rätsel des Lebens versteckt?
Erpenbecks
"Aufenthaltsraum voll unerzählter Geschichten" erzeugt eine
permanente Sogwirkung, eine starke innere Spannung, der sich zu entziehen kaum
möglich ist. Nur angedeutet und hingetupft, verdichtet sie ihren Stoff zu fast
tiefenpsychologischer Dramatik. Ihre Einzelschicksale stapelt sie neben- und
übereinander, verknüpft, dröselt auf und webt wieder zusammen. So lässt sie
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beinahe gleichzeitig existieren. Nur der
Wechsel der Sprach- und Stilebenen markiert das Vergehen der Zeit. Der Text der
Autorin entspringt als ein Versuch, Grenzen sichtbar zu machen, "an der
Worte aus Luft und Worte aus Tinte sich in etwas Wirkliches verwandeln, ebenso
wirklich werden wie eine Tüte Mehl..." Jenny Erpenbeck lotet Entwicklungen
von Menschen der verschiedensten Art aus. Die erfolgreiche sozialistische
Schriftstellerin, die sie in einem ihrer Kapitel "porträtiert", fasst
den Tenor des Buches treffend in Worte: "Vielleicht gelingt es ihr, sich
mit dem Schreiben eine Rettung zu schreiben, und den Lauf ihres Lebens, durch
ein paar Buchstaben mehr oder weniger, zu verlängern oder wenigstens zu
erleichtern, auf nichts anderes kann sie hoffen, als darauf, sich durchs
Schreiben ins Leben zurückzuschreiben. Aber was sind die richtigen Worte?"
Vielleicht sind es die von Jenny Erpenbeck. Ihr Roman wurde auf die Longlist
des Deutschen Buchpreises 2012 gesetzt.
"Ich
habe geträumt, dass ich geträumt habe.
Und
auf einmal war es kein Traum mehr."
Jenny Erpenbeck
Aller Tage Abend
Knaus-Verlag,
München (2012)
288
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3813503690
ISBN-13:
978- 3813503692
Preis:
19,99 EURO
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