Erschienen in Ausgabe: No 80 (10/2012) | Letzte Änderung: 06.02.13 |
von Karl-Heinz Hense
Wenn es um das Verhältnis von Politik und Literatur
geht, wird der Gemeinplatz vom garstigen politischen Lied gern zitiert. Wir
finden ihn natürlich in Goethes Faust, wo sonst! In Auerbachs Keller sagt
Brander: "Ein garstig Lied! Pfui! Ein politisch Lied!" (Goethe 1808:
Z. 2092) und spricht damit eine zur Goethezeit weit verbreitete Ansicht aus,
die Johann Gottfried Herder 1792 gar "Politisch Lied, ein böses, böses
Lied" nennt. Es geht mir um eine Besichtigung vor allem der
deutschsprachigen literarischen Landschaft und um ihr Verhältnis zur Politik.
Mein erster Eindruck ist: Reagiert die Schöne
Literatur, Belletristik und Poesie, überhaupt auf Politik, so tut sie es
meist, um der Politik am Zeuge zu flicken: Gesellschaftliche Deformationen
werden der Politik und den Politikern kritisch, spöttisch oder gar höhnisch
angelastet; positive gesellschaftliche Zustände hingegen nur äußerst selten
unmittelbar auf das literarische Haben-Konto der Politik gebucht. (Freilich ist
festzuhalten, dass eine der Politik zustimmende Literatur wohl eher
biedermeierlich, betulich und langweilig wirken muß und sich schlecht mit dem
Anspruch vor allem der Theater-Dichtung verträgt, besonders dem Skandalon ihr
Interesse zuzuwenden; oder sie wirkt nach Jahren nur noch peinlich und weckt
das Unverständnis der Nachgeborenen, wie etwa die Stalin preisende Lyrik
Johannes R. Bechers.) Heinrich Manns Roman “Der Untertan” aus dem Jahre 1914
ist für literarische Kritik am Politischen ein Parade-Beispiel. Literatur nimmt
in dieser Form eine Art kritischer Kontrollfunktion gegenüber der Politik wahr,
die gelegentlich zwar überspitzt sein mag, aber gerade deshalb durchaus Wirkung
ausüben kann. Weitere Beispiele sind die Dichter der Charta 77 in der
Tschechoslowakei, unter ihnen Vaclav Havel, aber auch die wirkungsmächtigen
Gulag-Bücher von Alexander Solschenizyn und nicht zuletzt die austriaphoben
Stücke von Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek.
Man findet aber seit alters überdies eine zweite Weise,
sich literarisch mit Politik zu befassen und nicht nur auf Politik zu reagieren:
den gelegentlich auch programmatischen Versuch, politische Prozesse zu
beeinflussen; die erste Weise, die Reaktion auf Politisches, kommt indessen bei
weitem häufiger vor, allerdings sind die Grenzen fließend. Die programmatische
Literatur hat ihre hohe Zeit vor allem, wenn Umbrüche besonderer Art stattfinden,
wenn Volksmeinung und Herrschaftsmeinung besonders weit auseinander klaffen,
wenn es darum geht, sich auch mit der Macht des Wortes gegen Unfreiheit und
Unterdrückung zu wehren. Georg Weerth und Ernst Toller, Manés Sperber und
Hermann Broch wären hier stellvertretend für manche andere zu nennen.
Freilich überwiegt auch in einer solchen Situation
in der Debatte der gebildeten Schichten (mit denen die eingebildeten
gelegentlich hohe Schnittmengen aufweisen) meist der Versuch, die Welt des
Geistigen von der Welt des Politischen sorgfältig zu trennen, um das Erhabene
nicht vom Schmutzigen verunreinigen zu lassen. Denn daß Politik ein
schmutziges Geschäft sei, ist bis heute ein unumstößlicher Gemeinplatz in
deutschsprachigen Landen geblieben, für den, wer wollte es leugnen, ja auch
immer wieder beeindruckende Beweise geliefert werden.
Freilich steht kein anderer Berufsstand so im
Zentrum der Kritik wie der des Politikers; das liegt in der öffentlichen Natur
der Sache. Politik hat ihren Namen, weil sie bei den alten Griechen auf der
Agorá, dem Marktplatz der Polis, der Stadt, verhandelt wurde. Alles weniger
Öffentliche entzieht sich demgegenüber leichter der Kritik. Politik ist indessen
nichts anderes als ein Spiegel der Gesellschaft, manchmal allerdings ihr
Zerrspiegel.
In der fraglosen Ausnahmesituation nach dem zweiten
Weltkrieg, als Heinrich Böll, Paul Celan, Nelly Sachs und andere im Westen
Deutschlands das Desaster der Unmenschlichkeit in Worte zu fassen bemüht waren,
erfand Hans Egon Holthusen den "Unbehausten Menschen". Er versuchte
den Intellektuellen, insbesondere den Dichter, vor der Inanspruchnahme durch
die Politik, ja, durch die banale Lebenswelt, zu retten. In seinem Buch von
1951 heißt es: "Der Intellektuelle scheint heute vor einer schwerwiegenden,
ja verhängnisvollen Alternative zu stehen: entweder den Begriff des
'Notstands' anzuerkennen und in brennender Sorge um das Wohl der Gesellschaft
ein ideologisches Engagement auf sich zu nehmen, oder aber den Ort seiner
geistigen Verantwortung jenseits der heute gültigen ideologischen Fronten zu
suchen: in der Konzentration auf das unverwechselbar eigene Thema. Der Engagierte
läuft Gefahr, zum politischen oder kulturpolitischen 'Aktivisten' zu entarten
[sic!] und mit seinem Wort zu nahe an die aktuellen Propagandaklischees
heranzukommen ..." Und Holthusen kommt zu dem Schluß: "Wer einen
wirklich ursprünglichen und selbständigen Gedanken denkt, der ist zum intellektuellen
'Aktivisten' nicht geeignet." (Holthusen 1951: 189f.)
Man ist an das ebenfalls bis heute virulente Wort
"Politik verdirbt den Charakter" erinnert. Mit diesem Slogan warb
ein Prospekt 1881 für das "Blatt für die Gebildeten aller Stände",
das den Untertitel "Eine Zeitung für Nichtpolitiker" trug. Diese
Auffassung von Kultur und Bildung als Widerpart der Politik setzte sich
jahrzehntelang in Deutschland fort, Thomas Manns "Betrachtungen eines
Unpolitischen" von 1918, deren Wirkung indessen eminent politisch war,
geben vielleicht das beste Beispiel dazu. Dabei hatte es im Deutschland des 19.
Jahrhunderts bis zur Reichsgründung von 1871, aber auch noch darüber hinaus,
vor allem in der Lyrik eine Epoche gegeben, die extrem politisch war - und
deshalb extrem populär. Heinrich Heine, Georg Büchner, Ludwig Uhland,
Ferdinand Freiligrath, Georg Herwegh und viele andere waren in ihren Dichtungen
von zweierlei beseelt: Zum einen von der Sehnsucht nach einer geeinten
deutschen Nation und zum anderen nach der Beseitigung der Fürstenherrschaft.
Von Staats wegen wurden sie darob, wen wundert es, verfolgt und verfemt, die
Karlsbader Beschlüsse von 1819 unterwarfen sie verschärfter Zensur.
Das Wort Freiheit spielte damals eine besondere
Rolle in den Gedichten und Texten, manchmal voller Pathos, Inbrunst und
Sehnsucht verwandt, manchmal aber auch spöttisch ironisiert, mit bitterer
Resignation angesichts der reaktionären Übermacht und der Gleichgültigkeit
vieler Menschen, wie bei Heinrich Heine, wenn er um 1840 schreibt: "Der
Knecht singt gern ein Freiheitslied / des Abends in der Schänke. / Das fördert
die Verdauungskraft / und würzet die Getränke." (Heine 1964: 20) Insgesamt
aber war „Freiheit“ die appellative, dynamische Parole der Dichter, nicht nur
wenn Hoffmann aus Fallersleben "Einigkeit und Recht und Freiheit für das
deutsche Vaterland" forderte, sondern auch wenn die Liberalisierung der bestehenden,
die Untertanen knechtenden Verhältnisse zum lyrischen Anliegen wurde.
Ein frühes Beispiel, den liberalen Freiheitsbegriff
in lyrische Form zu kleiden und literarisch eine freie Gesellschaft zu
begehren, gibt ein Gedicht des Elsässers Gottlieb Konrad Pfeffel, das 1792 im
von Johann Heinrich Voß herausgegebenen "Musenalmanach" erschien. Es
trägt den Titel "Ein freier Mann".
„Wer ist ein freier Mann?
Der, dem nur eigner Wille,
Und keines Zwingherrn Grille
Gesetze geben kann;
Der ist ein freier Mann!
Wer ist ein freier Mann?
Wem seinen hellen Glauben
Kein frecher Spötter rauben,
Kein Priester meistern kann;
Das ist ein freier Mann!
...
Wer ist ein freier Mann?
Der das Gesetz verehret,
Nichts tut, was es
verwehret,
Nichts will, als was er kann;
Das ist ein freier Mann!
...
Wer ist ein freier Mann?
Wem kein gekrönter Würger
Mehr, als der Name Bürger
Ihm wert ist, geben kann;
Der ist ein freier Mann!“
(Grab; Friesel 1980: 20f.)
Dies ist eine Form der politischen Literatur, deren
Programmatik gewissermaßen auf der Hand liegt. Die politischen Forderungen -
Herrschaft des Rechts, Religionsfreiheit, Abschaffung von Standes-Privilegien
etc. - werden beim Namen genannt. Es gibt, und bitte verzeihen Sie den
scheinbar weiten Zeitsprung, der nun folgt, eine andere Form der politischen
Literatur, die ebenfalls programmatisch ist, ebenfalls in einer Situation der
Unterdrückung entstanden, die aber ganz andere Ziele hat, so scheint es wenigstens.
Sie fordert auch die Freiheit ein von der Politik, aber nicht die politische
Freiheit aller Menschen, sondern die Freiheit des künstlerischen Individuums,
die Freiheit der Kunst und des Geistes, und sie begnügt sich nicht mit dieser
Forderung, sondern sie praktiziert sie gewissermaßen in Form des sprachlichen Ausdrucks.
Ich möchte mit diesen vielleicht etwas kryptischen
Worten exemplarisch anspielen auf den verstorbenen Büchner-Preis-Träger
Wolfgang Hilbig, der zunächst, in den siebziger Jahren des letzten
Jahrhunderts, in der DDR nicht publizieren durfte. Sein erster Gedicht-Band,
"abwesenheit", ist häufig politisch interpretiert worden. “Abwesend”
nämlich mit seiner geistigen Produktion von der real existierenden
Wirklichkeit, die der Freiheit Hohn sprach; nicht oppositionell, aber abwesend.
Ich will dahingestellt sein lassen, ob diese Interpretation richtig ist, will
aber vermerken, daß es auch ein Anliegen der politischen Literatur sein kann,
die geistige Freiheit mit den Mitteln der Kunst einzufordern, ohne sich
plakativ politischer Begrifflichkeiten zu bedienen; die Freiheit, deren
Abwesenheit Hilbig in seinem Stasi-Roman „Ich“ in beklemmender Form durch
Lektüre erfahrbar gemacht hat. Roman Bucheli schreibt in der Neuen Zürcher
Zeitung über die Dichtung Hilbigs, sie habe "die Widerstandskraft der Kunst
aufs Entschiedenste gestärkt". Die Widerstandskraft der individuellen
geistigen Freiheit gegen das Diktat der Wirklichkeit, gegen die Fesseln der
realen Verhältnisse. Gegen Fesseln, die systemkonforme Literaten wie Hermann
Kant, Peter Hacks oder Erwin Strittmatter mit Worten zu übertünchen versuchten.
Noch einmal zurück zu den Dichtern des 19.
Jahrhunderts: Es ist befremdlich, in welchem Maße nach der Reichsgründung von
1871 die Literatur der Freiheit von nationaler und ideologischer, vor allem
aber von deutschtümelnder und frömmelnder Schriftstellerei verdrängt wurde. Es
ist nachgerade peinlich, heute Sedan-Gedichte von Max Geißler und ähnlich Nationalistisches
oder den pietistischen Schmalz zum Beispiel von Emil Frommel zu lesen. Das
Biedermeier brachte viele ähnliche Texte hervor, aus denen die tiefe Sehnsucht
des deutschen Michel nach der Abwesenheit von Politik und seine
Obrigkeitsgläubigkeit sprechen, und die eben deshalb hohe Auflagen erzielten.
Freilich sollte man nicht glauben, daß diese Produktionen harmlos gewesen
wären. Im Gegenteil, sie trugen bei, politischen Fortschritt zu verhindern und
die unzeitgemäßen dynastischen Verhältnisse in Deutschland zu stabilisieren.
Schließlich führte diese Geisteshaltung zum Duckmäusertum und zur speichelleckenden
Untertanengesinnung, am Ende in die Barbarei der Nazis.
Eines setzte sich trotz allem fort bis in unsere
Tage: die ideologische Polit-Literatur. Einmal von hoher, dann wieder von eher
mäßiger Qualität, fand sie auf der Linken ihren Höhepunkt mit Bertolt Brecht.
Daß er ein Künstler von hohen Graden ist, steht außer Frage. Aber mich hat eine
Stelle in dem großartigen Buch von Sebastian Haffner "Geschichte eines
Deutschen" nachdenklich gestimmt. Dort heißt es:
"Dann nahmen die
Freunde den Krug
Und beklagten die traurigen
Wege der Welt
Und ihr bitteres Gesetz
Und warfen den Knaben hinab.
Fuß an Fuß standen sie
zusammengedrängt
An dem Rande des Abgrunds
Und warfen ihn hinab mit
geschlossenen Augen
Keiner schuldiger als sein
Nachbar
Und warfen Erdklumpen
Und flache Steine
Hinterher.
Das ist von dem deutschen kommunistischen Dichter
Brecht, und es ist positiv und preisend gemeint. Hierin wie in so vielem sind
Kommunisten und Nazis der gleichen Meinung." (Haffner 2002: 280f.)
Es geht Haffner an dieser Stelle um die Verteidigung
der Individualität gegen die gleichmacherische, verdummende und abstumpfende
Ideologie des Kollektivs, die er in einem Lager der Nazis 1933 am eigenen Leibe
erfahren hat. Dagegen, so Haffner, muß der zivilisierte Mensch aufstehen; was
die Deutschen freilich, und niemand schildert die Gründe dafür anschaulicher
als Haffner, den Nazis gegenüber nicht fertigbrachten. Aus Veranlagung, wie
Haffner meint; womit er hoffentlich unrecht hat.
Immerhin hat die linke Ideologie im
Nachkriegsdeutschland-Ost wie -West ein dickes theoretisches Unterfutter
erhalten; wiederum allzu oft gegen die als bürgerlich und damit reaktionär
denunzierte Freiheit des Individuums gerichtet und einem Literatur-Begriff das
Wort redend, der dienstbar gemacht werden sollte für die
marxistisch-leninistische Sache der Diktatur des Proletariats. Nur ein knapper
Beleg:
Der marxistische Soziologe Urs Jaeggi schrieb 1972
einen Essay mit dem Titel "Literatur und Politik". Darin heißt es mit
Stoßrichtung gegen die sogenannte "popularisierte bürgerliche
Literatur": "Die bisher gelähmten Konsumenten der Massen(un)kultur
hätten sich kennenzulernen als mögliche Produzenten einer möglichen Kultur,
die ihre eigenen Erfahrungen, ihre eigenen Aufgaben und Probleme auszudrücken
vermöchte." (Jaeggi 1972: 140) Im Kontext seines Essays soll das heißen:
Aus verblendeten Konsumenten werden mit dem richtigen Bewußtsein ausgestattete
Produzenten; subjektive Wertungen spielen keine Rolle mehr, an ihre Stelle
tritt die Darstellung objektiver Sachverhalte.
Derzeit liest man so etwas nur noch selten. Dafür
findet sich manches, das kaum weniger befremdlich klingt. Wenn man einen
anderen Ideologen, einen unserer Tage und einen von der diffusen Rechten,
politisch ernst nimmt, Botho Strauß nämlich, so ängstigt man sich, Haffner möge
doch richtig liegen und gegen die völkische, tribalistische Veranlagung der
Deutschen sei wirklich kein Kraut gewachsen. Es schmerzt den Leser, der die
künstlerischen Qualitäten von Strauß ansonsten schätzen mag, um so mehr, den
"Anschwellenden Bocksgesang" und ideologisch ähnlich Ätzendes auch in
seinem letzten Buch „Vom Aufenthalt“ lesen zu müssen. Vielleicht gibt es ja
einen gnädigen Gott, der ihn auf den rechten Weg führt.
Von den literarischen Steigbügelhaltern Hitlers will
ich schweigen; wie allzuviele andere Kopfarbeiter der Weimarer und der
Nazi-Zeit gehören sie zu einer Spezies, für die sich nachfolgende Generationen
schämen müssen. Die Opposition der Schriftsteller fand während der zwölf
dunklen Jahre nahezu ausschließlich von der Emigration aus statt. Und was
geschah nach 1945, als die Alliierten West-Deutschland zur Demokratie drängten?
Wurden die Literaten, wie es beim Nachbarn Frankreich seit der Revolution von
1789 ganz selbstverständlich war, zu citoyen, zu politischen Wesen, oder
blieben sie das, was Thomas Mann in den bereits erwähnten “Betrachtungen” wie
folgt ausdrückte: "Ich will nicht Politik. Ich will Sachlichkeit, Ordnung
und Anstand. Wenn das philisterhaft ist, so will ich ein Philister sein. Wenn
es deutsch ist, so will ich in Gottesnamen ein Deutscher heißen."? (Mann
1956: 253) Lassen wir drei von ihnen zu Wort kommen, zwei aus der alten Bundesrepublik,
einen aus der DDR.
"Jedes Wort, das ich niederschreibe und der Veröffentlichung
übergebe, ist politisch, d.h. es zielt auf einen Kontakt mit größeren
Bevölkerungsgruppen hin, um dort eine bestimmte Wirkung zu erlangen."
Peter Weiss in "10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten
Welt".
"Ich sehe nur - und mich eingeschlossen -
verwirrte, am eigenen Handwerk zweifelnde Schriftsteller und Dichter, welche
die winzigen Möglichkeiten, zwar nicht beratend, aber handelnd auf die uns
anvertraute Gegenwart einzuwirken, wahrnehmen." Günter Grass in "Vom
mangelnden Selbstvertrauen der schreibenden Hofnarren unter Berücksichtigung
nicht vorhandener Höfe".
(Kuttenkeuler 1973: 293, 299)
"Es ist das Vorrecht der Dichter, vernunftlos
zu träumen. Es ist das Vorrecht der Vernünftigen, sie zu verlachen. Aber die
Träume gehen weiter ..." Stephan Hermlin in "In den Kämpfen der
Zeit". (Wagenbach; Stephan; Krüger 1979: 321)
Diese drei Zitate stammen aus den sechziger Jahren
des letzten Jahrhunderts und beleuchten in absteigender Linie die Nähe der
Literaten zur Politik. Viele andere könnte man hinzufügen, von Martin Walser
zum Beispiel, der damals für den Kommunismus Blochscher Prägung plädierte,
wovon er heute nichts mehr wissen will; von Heinrich Böll, der stets besonnen,
aber leidenschaftlich gegen allzuviel unkontrollierte Staats- und Medienmacht
anging; von Hans Magnus Enzensberger, der vor lauter Intelligenz und
Metaphorik am Ende selbst nicht mehr wußte, wo er stand; auch von Ingeborg
Drewitz, die nichts davon hielt, sich allgemein politisch zu outen, der es aber
ganz dezidiert darum ging, sich schreibend in politischen Einzelfragen zu
engagieren, zum Beispiel gegen die Folter.
Die obigen Zitate und Hinweise scheinen mir Zeichen
dafür zu sein, daß das Verhältnis der Literaten zur Politik in den ersten drei
Jahrzehnten nach 1945 ungewiß geblieben ist; gelegentlich mit ideologisch
strammer Haltung, insgesamt aber doch ungewiß und tastend, selbst wenn der
Zeitgeist zum politischen Bekenntnis geradezu nötigte. Etwa seit Ende der Siebziger
scheint sich die Hinwendung zum Politischen in der ehemaligen Bundesrepublik wieder
in Gleichgültigkeit oder gar Abwendung gewandelt zu haben. Mag es auch die
alten Schlachtrösser wie Günter Grass und Martin Walser nach wie vor zur
Politik hinziehen, die Jungen und auch die nicht mehr ganz so Jungen aus dem
Westen scheinen mir eher politisch enthaltsam zu dichten. Ein Beispiel aus dem
Jahr 1999:
Der von manchen Rezensenten als zukunftsweisend
beraunte Thomas Lehr-Schinken "Nabokovs Katze". Psychologisch,
literarisch und vielleicht auch sonst überaus bemerkenswert (so hieß es
jedenfalls), von Politik aber keine Spur. Nirgends. (Ganz am Rande, persönlich
und subjektiv, erlaube ich mir, das Buch außerdem langweilig zu finden.)
Sicher, es gibt auch andere Beispiele, Franz Hohler, Monika Maron und Peter
Henisch etwa oder einen Außenseiter wie Karl Günther Hufnagel, aber
Nachweise für eine wirklich politische Literatur unserer Tage sind sie gewiß
nicht.
Soll Literatur denn nun überhaupt mit Politik zu tun
haben? Darauf kann man nicht kategorisch mit Ja oder Nein antworten. Was ich
allerdings bedaure, ist, daß viele unserer Autoren und Autorinnen für Politik
und für politische Aspirationen der Literatur überhaupt keine Antennen zu haben
scheinen; ja, sie sind ihnen, wie Thomas Lehr, Ulla Hahn, Wilhelm Genazino,
Karin Struck, Judith Herrmann und im Grunde auch Peter Handke, wohl eher
gleichgültig. Darin immerhin sind sie getreue Glieder der Mehrheit ihres
deutschsprachigen Volkes.
In anderen Ländern ist das ganz anders. In
Lateinamerika etwa kann ich mir Literatur ohne Politik kaum vorstellen, auch in
Rußland oder in der Tschechischen Republik nicht. Im deutschen Sprachraum
blicken wir indessen eher wehmütig auf die großen Texte der Vergangenheit, die
ihre Zeit wenigstens politisch beleuchtet und analysiert haben; die häufig
wie in einem Schlangenei die künftige Gestalt der Gesellschaft durchscheinen
ließen: auf die großartige Trilogie "Die Schlafwandler" von Hermann
Broch, auf Karl Kraus, Joseph Roth und Kurt Tucholsky. Auch auf die Roman-Trilogie
von Wolfgang Koeppen über die junge Bundesrepublik, auf die deutsch-deutschen
Bücher von Uwe Johnson und auf Erich Frieds Gedichte. Nicht zu vergessen die
literarischen Produktionen der 68er, auch wenn manches darunter heutiger
Prüfung nicht mehr standhalten mag.
Mir scheint, daß das Grundbedürfnis nach Freiheit
eine wichtige Rolle spielt, wenn es um die literarische Auseinandersetzung mit
politischen Themen geht. Sobald die Freiheit bedroht ist, regt sich auch in der
Literatur politisches Engagement; ist sie gewährleistet, jedenfalls im Großen
und Ganzen, so scheinen sich die Literaten eher auf andere Gebiete zu konzentrieren.
Das zeigte sich auch an den Büchern der ehemaligen
DDR-Literaten: Um die Wendezeit von 1989 und auch vorher schon wurde eine Fülle
politischer Texte verfaßt: Stefan Heym, Erich Loest, Christof Hein, Wolf Biermann
und viele andere veröffentlichten meist im Westen Kritisches zur Situation im
sozialistischen Osten. Knapp zehn Jahre später meldete sich mit Jana Hensel,
Jakob Hein, Thomas Brussig und anderen eine neue Generation zu Wort:
„Spaß-Literaten“, das Politische rückte in den Hintergrund. Inzwischen gibt es
zum Glück auch darauf eine Reaktion. Julia Franck, Uwe Tellkamp, Claudia Rusch und
Eugen Ruge etwa blicken zurück und schildern die politischen Verhältnisse, wie
sie wirklich waren: Die politische Freiheit hatte keine Chance. Aber das sind
Ausnahmen. Insgesamt findet sich derzeit eher wenig Beeindruckendes auf dem
Markt der politischen Literatur. (Hinzuweisen ist allerdings darauf, dass es
inzwischen eine Reihe von Texten gibt, die Politisches als Kulisse wählen, ohne
eigenes politisches Engagement ausdrücken zu wollen. Ein Beispiel dafür ist der
Roman „Teil der Lösung“ von Ulrich Peltzer.)
Dabei hat etwa Günter Grass mit seinem zu Unrecht
meist gescholtenen Roman “Ein weites Feld” bewiesen, daß auch unabhängig von
freiheitsgefährdenden Zeiten politisch brisante Themen einer literarischen
Bearbeitung bedürfen – zum Beispiel damit sie sich auch dort einprägen, wo politologische,
soziologische und andere theoretische Abhandlungen nicht gelesen werden. Wäre
es nicht des Schweißes der Edlen wert, Themen wie Rechtsextremismus und
Fremdenfeindlichkeit, Arbeitslosigkeit, Terrorismus oder Machtgier von Parteien
und Politikern auf dem Pegasus zu Leibe zu rücken? Ich meine ja, bin aber nicht
sicher, daß unsere literarische Elite damit etwas anfangen kann; bin auch nicht
sicher, daß das Feuilleton eine solche Literatur goutieren würde. Und was dort
nicht gepriesen wird, wird auch nicht gekauft – jedenfalls meist nicht. So
scheint der Konsum die Literatur und ihre Themen zu steuern. Aber wer steuert
den Konsum? Vielleicht sind es mancherorts die alten deutschen Vorurteile: daß
Politik ein schmutziges Geschäft sei, mit dem sich die Sachwalter des
Geistigen, zumal die Produzenten großer Literatur, nur im äußersten Notfall
beschäftigen sollten.
Literatur
Bucheli, Roman 2002: Die kurzen Bewegungen
der unteren Gesichtshälfte. Wolfgang Hilbigs Versuche zur Rückgewinnung der
Sprache. In: Neue Zürcher Zeitung vom 26./27. Oktober. Seite 49.
Craig, Gordon
A. 1993:
Die Politik der Unpolitischen. Deutsche Schriftsteller und die Macht 1770 -
1871. München.
Franck, Julia 2003: Lagerfeuer.
Köln.
Frommel, Emil o.J.: In zwei Jahrhunderten.
Stuttgart.
Geißler, Max 1913: Gedichte.
Volksausgabe. Leipzig.
Goethe, Johann
Wolfgang von
1808: Faust. Der Tragödie erster Teil. Tübingen.
Grab, Walter;
Friesel, Uwe
1980: Noch ist Deutschland nicht verloren. Unterdrückte Lyrik von der
Französischen Revolution bis zur Reichsgründung. Texte und Analysen. Berlin.
Grass, Günter 1995: Ein weites Feld.
Roman. Göttingen.
Haffner,
Sebastian 2002:
Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914 - 1933. München.
Heine,
Heinrich
1964: Sämtliche Werke Band IV. Herausgegeben von Hans Kaufmann. München.
Hilbig,
Wolfgang
1979: abwesenheit. gedichte. Frankfurt am Main.
Hilbig,
Wolfgang 1993:
„Ich“. Roman. Frankfurt am Main.
Holthusen,
Hans Egon 1951:
Der unbehauste Mensch. Motive und Probleme der modernen Literatur. München.
Jaeggi, Urs 1972: Literatur und Politik.
Ein Essay. Frankfurt am Main.
Kuttenkeuler,
Wolfgang 1973:
Poesie und Politik. Zur Situation der Literatur in Deutschland. (Hrsg.) Bonn.
Lehr, Thomas 1999: Nabokovs Katze. Roman.
Berlin.
Loest, Erich 1995: Nikolaikirche.
Leipzig.
Mann, Thomas 1956: Betrachtungen eines
Unpolitischen (1918). Frankfurt am Main.
Peltzer,
Ulrich 2007:
Teil der Lösung. Berlin.
Ruge, Eugen 2011: In Zeiten des
abnehmenden Lichts. Reinbek.
Strauß, Botho 1993: Anschwellender Bocksgesang.
In: Der Spiegel vom 8. Februar.
Strauß, Botho 2010: Vom Aufenthalt.
München.
Wagenbach,
Klaus; Stephan, Winfried; Krüger, Michael 1979: Vaterland, Muttersprache. Deutsche
Schriftsteller und ihr Staat seit 1945. Berlin.
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