Erschienen in Ausgabe: No 81 (11/2012) | Letzte Änderung: 13.02.13 |
von Shanto Trdic
Stellen Sie sich einen Moment
lang folgende Situation vor. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts befinden sich, aus
welchen Gründen auch immer, zwischen drei und vier Millionen ´Ungläubige´,
überwiegend Deutsche, als Bürger (mit und ohne Staatszugehörigkeit) in der
unter Führung der AKP wieder zunehmend rechtgläubig geführten, vor Selbst, -
und Sendungsbewusstsein strotzenden Türkei. Was genau die ´Ausländer´ bewog,
nach Anatolien zu gehen, soll hier nicht weiter interessieren, aber wir gehen
davon aus, das es exakt jene Türkei ist, die der Ministerpräsident Erdogan
derzeit - im Hier und Jetzt - als erster Mann im Staate führt. Natürlich passt
das nicht zusammen, aber stellen Sie sich nun weiter vor, eine Handvoll
gelangweilter Jugendlicher, allesamt der stetig wachsenden deutschen Gemeinde
zugehörig, ohne Abschluss und aufgrund rechtswidriger Akte in der Hauptstadt
Ankara polizeilich bestens bekannt, misshandelte einen jungen Mann zu Tode. Zum
Glück kein Türke, nur ein weiterer ´Fremdgänger´, aber die Zahl derer, die als
autochtone Türken vor den aggressiven Teutonen Reißaus nehmen müssen (vor allem
nachts, in U-Bahn-Schächten) nahm in den letzten Jahren rapide zu. Sie stellen
immer unverhohlener immer neue Forderungen und sahen sich neuerdings sogar
genötigt, einen der Stützpfeiler türkischer Rechtssprechung öffentlich in Frage
zu stellen: den, der die Beleidigung des Türkentums unter Strafe stellt.
Wie auch immer: einer der
Totschläger setzte sich umgehend nach Deutschland ab gab in Interviews alles
zu, wobei er gleichzeitig seine Unschuld beteuerte („ Der Typ hat uns zuerst
angemacht!“), die anderen tauchten erst einmal in ihrer Gemeinde unter, bis
ihnen der evangelische Clan-Älteste, in Absprache mit den im Stadtteil
tonangebenden Eliten (Vorsteher der protestantischen Gemeinde und ein dem
fundamentalistischen Luthertum verpflichteter Pfarrer) riet, sich den
türkischen Behörden zu stellen. Gleichzeitig wurde ein Anwaltskartell mit der
Betreuung der ´Tatverdächtigen´ beauftragt. Sie rieten den ´Jungs´, erst einmal
gar nichts zuzugeben („Ihr wart dabei, aber getreten hat jeweils der andere und
ihr wolltet im Grunde nur helfen.“). Das Opfer habe sich ferner als Rassist zu
erkennen gegeben (O-Ton: „Scheiss Deutsche!“), und wurde selbst handgreiflich,
was automatisch die berechtigte Notwehr derer erzwang, die jetzt vor den Kadi
gezogen werden sollen – eine Schande. Einige der berüchtigten ´Bibel-Schüler´
gingen darüber hinaus auf eigene Faust durchs Ghetto und ließen die wenigen
noch ansässigen Türken wissen, das von denen keiner was gehört oder gesehen
habe – „ Sonst hat das für euch Konsequenzen!“
Verlassen wir nun die
´Niederungen´, um in dieser Sache die ´höhere Politik´ mit ins Spiel zu bringen.
Der Zufall brachte es mit sich, dass die amtierende Kanzlerin Deutschlands,
Angela Merkel, just auf Stippvisite in der Türkei war. Wie empfing man die Dame
wohl? Titelte die Hürriyet etwa ´Nazis raus aus der Türkei´? Randalierte ein
aufgebrachter Mob vor deutschen Botschaften? Forderten die türkischen Behörden
die sofortige Auslieferung des flüchtigen Mörders? Und entschuldigte sich Frau
Merkel wenigstens für das Verhalten ihrer ´Landsleute´? Oder setzte sie sich
über diese unerquickliche Situation einfach hinweg und stellte eiskalt
Forderungen – ganz genau so, wie es der türkische Ministerpräsident Erdogan im
Hier und Jetzt, soeben sozusagen, ganz ungeniert tat?
Ich habe heute einiges an
wertvoller Zeit damit vertan, im Netz zu nachzuforschen, was der Herr Erdogan zu
dem Vorfall zu sagen hatte, der sich vor etlichen Tagen zu später Stunde auf
dem Alex abspielte. Fehlanzeige. Gefunden habe ich hierzu gar nichts und wenn der
türkische Ministerpräsident tatsächlich etwas dazu bemerkt hätte, dann hätten
es die deutschen Medien begierig aufgegriffen und im Dutzend weiter gereicht. Aber
nein – der Herr Erdogan schwieg hierzu. Er hat, nebenbei immerhin, dazu
geraten, seine Landsleute mögen ruhig einmal Kant, Hegel und Goethe zu lesen (zuerst
auf türkisch und dann auf deutsch?), aber zuvor, das verschweigen die meisten Gazetten,
empfahl er eine Reihe türkischer Klassiker, darunter einen gewissen Necip
Fazil, der die Idee eines großen türkischen Ostens, natürlich unter türkischer
Führung propagierte (nein, das erinnert uns jetzt überhaupt nicht an die
deutsche Blut und Boden Romantik, der vor über siebzig Jahren hierzulande
gehuldigt wurde). Darüber hinaus thematisierte bzw. rechtfertigte er den etwas
unsanften Umgang mit den separatistischen Kurden, und Frau Merkel kritisierte
er zwischen den Zeilen für eine ihrer Äußerungen im Blick auf die Zypern-Frage.
Ganz unverhohlen. Sie aber schluckte es.
Erdogans Hauptaugenmerk galt
natürlich dem geplanten EU-Beitritt seines Landes, den die Verantwortlichen auf
dem Kontinent nur zu gern auf immer und ewig verschleppen würden. Der türkische
Staatschef drohte denn auch denen, die so taten und noch tun. Wenn die EU die
Türkei heraushalten wolle, weil die Türkei ein islamischer Staat ist,
"wird die EU verlieren. Wir nicht. Wir erstarken von Tag zu Tag." So
las ich es in der WELT. Sowieso stünde die Türkei doch besser da als die EU
selbst: "Ja, wir erfüllen die Maastricht-Kriterien besser als die
Eurozone!" Wenn Sie, lieber Leser, solches schon für den Gipfel
staatsmännischer Entgleisung halten, dann haben Sie ihre Rechnung ohne den
Kalifen Erdogan gemacht. Nicht nur, das die Türkei in mancher Hinsicht
demokratischer sei als die EU (nach Staaten differenziert der Chef-Demokrat
nicht): "Wir sind eine junge, dynamische Nation, und wir wollen so
bleiben. Ich sage unseren Familien immer, ihr müsst mindestens drei Kinder
bekommen, sonst sehen wir in dreißig Jahren aus wie Deutschland heute."
Deutschland schafft sich ab, und Erdogan kann´s auch nicht ändern. Aber nicht
nur Deutschland hat längst fertig: "Viele der neuen Mitglieder der EU sind
eine Last für die Union.“ Auch hier natürlich keine konkreten Bezüge, keine
Namen – kein ordentlicher Exkurs. Warum, so mag nun mancher fragen, will er
überhaupt die Vollmitgliedschaft in einem Verbund, der nach seiner Ansicht
ohnehin weit hinter der Größe, ja dem Glanz seines Imperiums zurück steht? Im Übrigen:
"Wir sind schon drin. Sechs Millionen Türken leben in Europa. Da gibt es
viele EU-Mitgliedsstaaten, die bei weitem nicht so viele Bürger haben." Soll
das den Deutschen etwa eine Warnung sein?
Darüber, das sein Land weiterhin
ganz ungeniert die ´syrische Befreiungsfront´ mit Waffen versorgt und vom
eigenen Territorium aus Einfälle und Angriffe koordinieren lässt, darüber
schweigt sich der große Stratege aus. Syrien ist ja auch kein europäisches Land
und geht folglich, da es zur Einflusszone des Euro-Anwärters Türkei gehört, nur
dieselbe etwas an. Das Schlachtross Nato darf ihr dabei helfen. Im Anschluss an
seinen ´Staatsbesuch´ unterstrich Erdogan folgerichtig, das man als Erbverwalter
des osmanischen Großreiches von den etwas kleineren Staaten in der Region demnächst
ein klein wenig mehr Respekt erwarte:“ „Wir haben drei Bedingungen für die
Normalisierung der Beziehungen mit Israel. Israel muss sich entschuldigen,
Entschädigung zahlen und das Embargo aufheben.“ Na, das ist doch fast gar
nichts, da sind die ´Zionisten´ noch einmal mit einem (verdienten) blauen Auge
davon gekommen. Auch zum (noch kleineren) Moldawien ließ jener sich vernehmen. Geschenkt.
Das ich es nicht vergesse.
Erdogan verlangte von der EU (nunmehr im Anschluss an seinen Besuch), das sie
sein Land im Kampf gegen die PKK unterstütze:“ Wir wollen,“ gab er in einem
Gespräch mit der Hürriyet zu Protokoll,“ von den Europäern Ergebnisse sehen.“
Ohne mich vollends der Lächerlichkeit preis geben zu müssen: nein – zum Mord an
Jonny K. äußerte er sich abermals nicht. Wer ist Jonny K.?
Eine nicht unwesentliche Rolle
spielt natürlich, billig es zu bemerken, das Kapital – das ganz große Geld. Derartige
Äußerung führten jenseits merkantiler Interessen zu ganz empfindlichen
bilateralen Verstimmungen, aber unsere Politiker stehen auch nach dem zigsten
Affront dieses Mannes mehrheitlich in der Hab-Acht-Stellung. Für die ´freie
Wirtschaft´ ist die Türkei eben ein großer, jährlich wachsender Markt, eine
´Boom-Region´ (wer kümmert sich in diesem Land schon um Arbeits-rechtliche
Normen?), und da bestimmt eben die Lobby, wo´s lang geht - und das es läuft.
Und es muss, auch in Sachen Beitritt, weiterlaufen.
Ein Gedanke zum Schluss. Die
Türkei ist, darin Deutschland nicht unähnlich, eine späte, noch recht junge
Nation. Ohne das beherzte Vorgehen Kemal Atatürks, den seine Landsleute noch
heute völlig zu Recht als ´Vater der Türken´ verehren, hätte es diesen Staat
wahrscheinlich nie gegeben. In den Wirren der Nachkriegszeit (im Anschluss an
das Massenmorden der Jahre 1914-1918) drohte der klägliche Rest dessen, was
noch vom osmanischen Reich überlebt hatte, vollends aufgerieben zu werden. Das
Schicksal der Kurden drohte früh auch den Türken selbst, und die Festigung der
eigenen Nation lief, im Anschluss an den bis heute hartnäckig geleugneten
Genozid am armenischen Volk, abermals über Mord und Vertreibung.
Hauptleidtragender war die griechische ´Minderheit´: immerhin eineinhalb
Millionen Menschen, die so Haus und Hof verloren. Keine hundert Jahre sind
seither vergangen. Eine befriedigende Aufarbeitung jener Vorgänge, die der
Geburt der Nation vorangingen, hat bis heute nicht stattgefunden. Auch die
Deutschen taten sich mit ihren ´Sternstunden´ schwer; und mussten mehr als nur
einmal bitter dafür nachzahlen. Das Atatürk die fünf Säulen des Islam durch
sechs eigene politische Grundpfeiler im Zuge seiner rigorosen Reformbemühungen
gezielt konterkarierte, scheint sich nun zu rächen: unter dem Banner der
regierenden AKP wendet sich das Blatt, und die Vorboten einer Re-Islamisierung
zeigen sich weniger in einer besorgniserregenden Beschneidung der
Pressefreiheit als vielmehr im Selbstverständnis jener Person, die ihr zum Sieg
verhelfen möchte: „ Gott sein Dank,“ meinte er,“ sind wir Anhänger der
Scharia.“ Wer glaubt, das sei Sache der Türkei und ihrer Bürger, rufe sich noch
eine andere Bemerkung Erdogans ins Gedächtnis, mit der jener auf einer
Konferenz sein Verständnis von Außenpolitik auf den Punkt brachte:“ Wir müssen
die europäische Kultur mit der türkischen impfen.“
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Warszawski 04.11.2012 10:35
http://paxdiaboli.wordpress.com/2012/11/01/erdogans-eu-ultimatum/