Erschienen in Ausgabe: No 69 (11/11) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Heike Geilen
"Es
geht um Zeit, und wenn's um Zeit geht, geht es um nichts Geringeres als ums
Leben selbst und um das, was die Welt im Innersten zusammenhält. Alle,
ausnahmslos alle sind wir Zwangsabonnenten der Zeit - ein Leben lang.",
beginnt Professor Dr. Karlheinz Geißler, der die amüsanteste Erfindung der
Menschheit zu seinem Lebensthema gemacht und bereits mehrfach darüber
publiziert hat, sein Buch. Auf die Frage, wodurch sich der Mensch in allererster
Linie von allen übrigen Lebewesen unterscheidet, hält er eine ganz klare
Antwort parat: durch seine Leidenschaft zum Zeitsparen. Sogar in seinem
Alltagssprachschatz nimmt das Wort "Zeit" nach "Mama" einen
respektablen zweiten Platz bei den am häufigsten gebrauchten Substantiven ein.
Was allerdings ist eigentlich Zeit? Auf diese Frage kann nicht einmal die
Philosophie eine verallgemeinerbare, überall gültige Antwort geben. Karlheinz
Geißler versucht es trotzdem oder besser: Er hält ein Plädoyer über selbige und
unsere zunehmend gehetzte Gesellschaft.
"Die
beste Definition wird wohl immer die sein, dass Zeit Zeit ist.", so teilte
der Mathematiker Lambert am 13. Oktober 1770 in einem Brief an Immanuel Kant
mit. Die Widersprüche und die Rätselhaftigkeit des Zeitphänomens ließen ihn
resignieren. Geißler versucht sich dem "Problemfeld" anders zu nähern
und hinter das Geheimnis der Zeit zu kommen. Interessant, lehrreich und
zuweilen auch amüsant stellt er sich den Unvereinbarkeiten, den Paradoxien und
den geheimnisvollen Seiten der Zeit und damit den Bewegungen des Lebens selbst.
Sein Buch handelt von der zunehmenden Veruhrzeitlichung des Alltagsgeschehens,
von "Zeitverlusten", "Zeitgewinnen",
"Zeitvertreib" und "Fortschritt". Alles Begriffe mit denen
wir nur allzu gern großzügig um uns werfen. Der Autor spricht das allzeit
gegenwärtige Zeitproblem der Menschen an, das dem Sachverhalt geschuldet ist,
"dass die Uhrzeit nur in sehr ungenügendem Maße mit der jeweils konkreten
Zeitwahrnehmung und Zeiterfahrung der Subjekte in Übereinstimmung gebracht
werden kann". Dies führt dann zwangsläufig zu
"Zeitwidersprüchen", "Zeitparadoxien",
"Zeitkonflikten" und "Zeitkollisionen". Vielleicht weil
Zeit, "das am meisten Unsrige und doch am wenigsten Verfügbare" ist,
so der Philosoph Hans Blumenberg. In verschiedenen Kapiteln startet Geißler
einen Angriff auf Raum und Zeit, untersucht den Drang zum schnellen Geld,
plädiert für eine allgemeine Enthetzung und die Kunst des Abdankens, spricht
eine Gewinnwarnung für ein Leben ohne Zeitsparen aus und offeriert letztendlich
zehn Angebote zum Zeit-leben.
"Könnte
es vielleicht sein, dass den Menschen das Messen der Zeit mehr Spaß macht, als
sie zu leben?", fragt sich Karlheinz Geißler. Wir sprechen davon, dass die
Zeit "rast", "geht", "flieht" oder zuweilen auch
mal "stehen" bleibt. "Mal ist sie eine Einbahnstraße, mal läuft
sie im Kreis. Und haben wir überhaupt noch einen Blick für das, was links und
rechts des Weges passiert und "was unseren Schnelllauf zu den selbst gesetzten
Zielen gefährden könnte?" Vielleicht sollte man einfach mal die Zeit in
einer Schublade verschließen und sich der Welt, die voller Freuden und Genüsse
ist, von denen ein gravierender Anteil die Abwesenheit der Uhr zur
Voraussetzung hat, zuwenden. Denn Zeit zu leben ist stets sinnvoller und
zufriedenstellender als alles Zeitsparen.
"Solange
man für den Aufgang der Sonne nicht zahlen muss, glaub ich nicht, dass Zeit
Geld ist." (Karlheinz Geißler)
Karlheinz A. Geißler
Enthetzt Euch!
Weniger Tempo - mehr Zeit
Hirzel
Verlag (2012)
246
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3777622672
ISBN-13:
978-3777622675
Preis:
19,80 EURO
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