Erschienen in Ausgabe: No 82 (12/12) | Letzte Änderung: 31.01.13 |
von Georg Zetlmeisl
1. Einleitung
Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich
mit der Analyse gesellschaftlicher Ordnung wie sie Ernst Bloch in seinem
Schrift ‚Erbschaft dieser Zeit‘ von 1935 entwickeln hat und sucht diese für die
Anwendung auf einen größeren Kontext zu verallgemeinern. Blochs Perspektive ist
auf die Auseinandersetzung mit dem kulturgeschichtlichen Phänomen des
Faschismus beschränkt. Es handelt sich hierbei um den Zeitzeugenbericht eines
Intellektuellen, der seine Eindrücke der 20er und 30er Jahre in Form einer
Kritik niederlegte. Die Idee einer Generalität der von ihm in diesem
Zusammenhang gemachten Aussagen speist sich aus zwei Quellen, einerseits aus
Hermann Schmitz Phänomenologie der Gefühlsräume (1969) und Gilles Deleuzes
Ausführungen zu den Begriffen der Mikropolitik und Segmentarität (1980). Die folgende
Diskussion wird zwar auf die Detailliertheit und ausführliche Metaphorik von
Blochs Beschreibung verzichten, dafür aber eine höhere Abstraktionsebene zu
erreichen anstreben.
Gesellschaftliche
Ordnung soll auf die mit ihr korrespondierenden kollektiven Stimmungen befragt
werden. Es geht also nicht um eine Abbildung auf ordnende Strukturen ausgehend
von bestimmten Institutionalisierungen oder gesellschaftlichen Diskursen. Das
Augenmerk gilt vielmehr Effekten im Selbstverhältnis von Individuen und in
ihrem Verhältnis zueinander, den Zusammenhängen ihres Befindens und Begehrens. Die
Beschreibungsebene verlagert sich dadurch nachdrücklich. Es wird sich zeigen,
dass die vorgenommene Analyse einer nach unten weisenden Spirale folgt. Was
bedeutet das? Es heißt, dass Ordnung nicht von der Seite ihrer Positivität und
ihren Dispositiven her betrachtet wird, sondern in den Punkten ihrer
Fluchtbewegungen, die als ebenso immanent angenommen werden. Hinter der
Aufmerksamkeit für Prozesse der Auflösungsmomente einer Ordnung verbirgt sich
aber keine Theorie einer negativen Utopie. Dieser für das
sozialwissenschaftliche Verständnis vielleicht ungewöhnliche Ansatz ist
durchaus historisch motiviert, denn geradeso wie Ordnungssysteme entstehen und
sich entwickeln, verfallen sie auch oder überdauern sich, werden mitunter
vergessen. Nicht nur die Identitätsquellen, die eine bestimmte Ordnung
bereitstellt, bedingen gesellschaftliche Prozesse. Die ihr inneren affektiven
Triebkräfte tun dies gleichermaßen, erfordern aber eine andere Weise der
Betrachtung als sozialphilosophische Phänomene.
Ernst
Bloch legte damit für die philosophische Diskussion einen Ansatz vor, der erst
40 Jahre später, d.h. in den Siebzigern von Llyod deMause unter dem Titel
‚Psychohistorie‘ gewissermaßen neuentdeckt wurde. Beiden liegt aber ein
gemeinsames Verständnis zugrunde. Geschichtliche Prozesse werden als
Ausführungen von Gruppenfantasien angesehen. Die Ebene ihrer adäquaten
Beschreibung liegt dabei nicht in der Betrachtung wirtschaftlicher Klassen oder
gesellschaftlicher Milieus, sondern fokussiert etwas, das man Psychoklassen
nennen müsste. Als Psychoklassen bezeichnet man in erster Linie verschiedene
Generationen, vor allem in Hinblick auf ihre wechselseitige Beziehung, das
heißt in Hinsicht auf jene Eindrücke, Bedingungen und Zugriffe, die sie
aufeinander ausüben sowie auf die Art ihrer Konflikte. Die psychogene Realität
ist immer an konkrete kulturelle Gemeinschaften gebunden, in denen sich
Wünsche, seien es auch welche der Abkehr, ausagieren.
Wofür
ist eine Ordnung anfällig, wofür besonders empfänglich? Das fragt nach dem Maß
an Verantwortung, die eine Gesellschaft für die Realität ihrer eigenen Antriebe
aufbringen kann. Damit spannt sich ein weites Untersuchungsfeld auf, in dem die
hier unternommene Diskussion nur einige Akzente setzen kann. Ich werde aber, um
auch einen gewissen Überblick zu leisten, auf Autoren für eine daran
anschließende Lektüre hinweisen.
2. Begriffe
Bei allen drei Autoren begegnet man zunächst
einer klaren dualen Unterscheidung zwischen den Überzeugungen und
Vorstellungen, die in einer Gesellschaft kursieren und dem Begehren, also
etwas, von dem Individuum in ihrer Leiblichkeit erfasst sind. Es wird
angenommen, dass das System der kultureller Kodierungen, das Subjekten
Orientierungen, Identitäten und Handlungsoptionen stiftet, den Agens des
leiblichen Begehrens nur bedingt umschließen und an semiotische Strukturen
binden können. Eine Funktion kultureller Ordnung liegt in der Formgebung von
affektiven Regungen. Sie müssen dem Subjekt zunächst als dieses oder jenes
Gefühl erkenntlich gemacht werden. Die Wahrnehmungsgehalte auf der einen Seite
müssen in einem zweiten Schritt mit bestimmten Urteilen verknüpft werden. Das
ist die Aufgabe gesellschaftlicher Diskurse, insofern sie Gemeinsinn herstellen.
Befindlichkeiten müssen dem Ausdruck zugänglich gemacht werden und das nicht
nur bezogen auf die einzelne Person, sondern auch im Sinne eines sozialen
Austauschs. Es sind die inneren Regungen, die gewissen gesellschaftlichen
Mustern Geltung in der Wirklichkeit verleihen. Man könnte sich hierfür
ebenfalls eines etymologischen Zugangs bedienen. Erinnert sei an eine
Herleitungsform des Begriffes Bewusstseins: ‚conscientia‘ könnte man nämlich
übersetzen als das Mitwissen von sich, als das Spüren des eigenen Betroffenseins
im Bewusstsein von etwas. Das Bewusstsein wäre demnach eine Konstellation, die
nur dann auftritt, wenn sich Wissensformen und affektive Regungen miteinander
verschränken.
Deleuze versucht diese beiden Bereiche in einer
gemeinsamen Denkfigur zu verbinden, indem er von Segmentarität spricht, darin
harte von weichen Segmenten unterscheidend. Urteile wären in dieser
Terminologie harte Segmente, also Organisationsprinzipien, die den Raum einkerben
und für uns durch eine Vergegenständlichung verfügbar machen. Aber auch
Gefühle, Affekte und Stimmungen stellen für ihn Segmente dar, deren
Geschmeidigkeit gerade darin besteht, dass sie nicht nur Trennungen vornehmen,
sondern auch Verbindungen herstellen. Sie bestimmen demnach über das Maß der
Kommunikationsfähigkeit zwischen heterogenen Elementen und respondieren die
Kerbung des Raums durch Glättungen. Ihre gleichzeitige Betrachtung bedeutet
daher, dass Gefühle dem Gegenständlichen einhaften und es gewissermaßen
umschweben. Sie kommunizieren innerhalb desselben Raumes, wenn auch unter
anderen Bedingungen. Daraus folgt, dass Individuen das Gegenständliche immer
nur unter Voraussetzung eines Angemutetseins durch es erleben. Damit gliedert
Deleuze die umfassende semiotische und emotive Interaktion einer Gesellschaft,
die er nach drei Dimensionen aufgefaltet sieht. Erstens: Segmente können binär
zueinander stehen, in einem Verhältnis des gegenseitigen Ausschlusses. Das wäre
der Fall in der Zuweisung von Attributen. Es gibt zweitens ebenso zirkuläre
Beziehungen, d.h. eine hierarchische Anordnung von Signifikationen sowie drittens
die Möglichkeit einer linearen Strukturierung untereinander, wenn gewissen
Prozessen ein Verlauf zukommt, der auf vorgängigen Mustern aufbaut und weitere
evoziert. Der semiotische Raum zeichnet sich durch gewisse Dichten, Weiten oder
Engen und auch durch das Gewicht oder die Häufigkeit gewisser Signifikationen
aus. Damit verknüpfen sich gesellschaftliche Massenbildungsprozesse, die sich
aber nicht zwingend mit dem decken, was man als Milieus oder soziale Schichten
bezeichnet. Das Feld der Stimmungen, die einem semiotischen Raum einwohnen und
damit die Art ihrer Verteilung innerhalb des gesellschaftlichen Raumes gilt es
näher zu untersuchen. Welche Tätigkeiten sind es eigentlich, aufgrund denen
Individuen zu Massen konsolidieren?
Vor
allem aber interessiert hier der spezifische Eingriff, den eine Kultur in
solche Verteilungsmuster unternimmt, beabsichtigt oder nicht. Das bedeutet,
Ordnungen können auch unzeitgemäß werden, wenn Segmente sich in einem verstärkten
Maße durch Prozesse der Homogenisierung und Reproduktion aufeinander einebnen.
Umso mehr sie das Vermögen zur Variation, zur Umstrukturierung ihres
semiotischen Raumes einbüßen und damit ihrer Vermittlungsleistung zu ermangeln
beginnen, desto stärker stellen sich Ordnungsmuster dadurch in Kontrast zu
gewissen affektiven Ansprüchen, denen die verfügbaren Sinnbilder zunehmend
weniger genügen. Und genau an diesem Punkt setzt Blochs Analyse an, die sich
ebenfalls und auch verwandt zu dem eben genannten Aufbau kultureller
Segmentarität in drei Stufen gliedert.
2.1. Die
individuelle Ebene - das Unzeitgemäße und die Leiblichkeit
Seine Betrachtung beginnt zunächst auf einer
individuellen Ebene, auf der das Verhältnis des Einzelnen zu seinem Körper in
dessen Fraglichkeit in eine direkte Beziehung mit der Ordnung stiftenden
Funktion kultureller Kodierungen gebracht wird.
Wenn sich
das Individuum in seiner Angst davor begegnet, das Haben der Geltungen und
Sinnzusammenhänge einer bestehenden Ordnung zu verlieren, werden nach Bloch die
Ansprüche nach Sachlichkeit und Materialisierung gesellschaftlicher
Lebenszusammenhänge laut, verstanden als Weise des Individuums, sich über seine
Unruhe zu ermächtigen. Wenn die Unterkunft der subjektiven Innenwelt bedroht
ist, d.h. wenn das Ansprechen des Individuums als sich selbst erschüttert ist,
reagiert es zumeist mit einer Abschottung seiner Person gegen den unsicher
gewordenen Bezirk der Dinge. Geht die Sorge um sich aber in eine zwanghafte
Selbstbetrachtung über, kommt es zu Dissoziationen, zu Unstimmigkeiten zwischen
den Vorstellungen, die man sich von der Welt macht und den tatsächlich in ihr
niedergelegten Verhältnissen. Dieser Abstand des Einzelnen zu seiner
Eingebundenheit in all jenes, das ihn umgibt, kann sich umso leichter in Form
einer Sachlichkeit kleiden, als diese verspricht, allein von dem Wesen der
Dinge zu handeln. Die Klarheit der Sachlichkeit schottet die intellektuelle
Vergegenwärtigung gegen leibliche Bedürfnisse ab, also gegen den Druck, den diese
dahingehend ausüben, die Angst doch in Form einer zeitgemäßeren Ordnung
aufzuheben. Die Sachlichkeit erscheint dabei wie eine Ummantelung einer
eigentlichen Trauer, von etwas, das auf dem Gemüt lastet, die Gedanken leer
kreisen lässt und den Leib beschwert, als würde sich die Welt in ihrer Sphäre
gegen das Subjekt abschließen und die Stränge emotionaler Bindungen für sich
behalten.
Was
aber bedeutet zeitgemäß? Der Ausdruck „seine eigene Zeit haben“ heißt für Bloch,
mit den Zügen seiner Leiblichkeit vertraut zu sein, diese Kräfte zu bewohnen
und verhaltensklug mit diesen als auch ihnen gegenüber agieren zu können. Im
Gegensatz zu einer persönlichen Haltung, die sich in die Erschütterung, die sie
empfindet, gehen lässt, beschreibt er damit eine psychomentale Verfassung, die
man vermittels der phänomenologischen Klassifikation der Gefühle bei Schmitz ‚Ernst‘
nennen könnte, im Sinne der Stärke beständiger Selbstregulierung, die das Maß
des entsprechenden Abstands der Innerwelt zu den Dingen immer wieder auszutangieren
sucht. Die damit einhergehende Zufriedenheit ist dadurch gewissermaßen geschlossen,
eine Erfülltheit ohne das zwingende Angewiesensein auf den Einfluss
ausgewählter Objekte, die diese stiften würden und ohne die Zuwendung zu
bevorzugten Objekten, die das Subjekt der Last der Gegenwart, die sich zu leben
auffordert, entheben würden. Wir kommen auf eine solche Abhängigkeit des
Subjekts von dem Halt, den die Dinge in ihrem Zusammenhalt für es
bereitstellen, später noch ausführlicher zu sprechen. Seine Zeit hat jemand, wo
er leiblich steht. Das Befinden ist also nicht einfach eine Gegebenheit,
sondern wird prozessual gedacht, Widersprüche (marxistische Terminus) oder
Komplexe (tiefenpsychologische Pendant) beinhaltend, die produktive Momente
einer Weiterentwicklung darstellen. Das Individuum hängt dabei natürlich von
der gesellschaftlichen Position seiner individuellen Lebens- und
Arbeitsgewohnheiten ab. Man hat also seine Zeit, im Sinne einer Erkenntnis über
die eigene Gegenwart und zwar in Hinsicht auf drei Dimensionen: erstens als
Zeit – das Individuum als Teil einer kulturellen Semiotik, die auch die
Möglichkeit seiner Selbstausdeutung prägt; zweitens als Raum – da jeder sich
innerhalb verschiedener institutioneller Rahmen aufhält, sodass diese Anordnung
von bestimmten Orten sich in die Gestalt des Aufenthalts des Individuums
einschreibt; und drittens als Leib – seinerseits als Raum darin waltender
Wünsche und emotionaler Reaktionen. Alle drei Bestimmungen umgreifen das
Subjekt und verleihen ihm ein spezifisches Gestimmtsein, um mit Martin
Heidegger zu sprechen. Das Dasein, das alltäglich und augenblickliche Sein wird
anerkannt als derjenige Moment, in dem es dem individuellen Bewusstsein
überhaupt möglich ist, charakteristische Züge, die aus der Vergangenheit in die
Gegenwart reichen und die auf eine bestimmte Zukunft hinweisen, nicht nur zu
erkennen, sondern auch handelnd aufzugreifen. Nur von hier aus ist es dem
Einzelnen möglich, auf sich zu beharren. Die Leiblichkeit befürwortet sich als
Realität der maßgeblichen Kontaktfläche zwischen den individuellen körperlichen
Kräften, den Interaktionen des Individuums mit einer Umwelt, und dem
Wechselspiel der Wirkungen seiner Eindrücke sowie seines Ausdrucks, über die
das Individuum in Austausch oder in Beziehung zu gewissen Dingen tritt.
Vieles
liegt darin unerledigt, ungleichzeitig ist der Ausdruck Blochs und knüpft damit
eng an Sigmund Freuds Bemühung der Erschütterung der Selbstsicherheit des
Bewusstseins gegenüber sich selbst an. Er verweist damit auf die oftmalige
Unbestimmtheit desjenigen Bewusstseins, das Individuen von sich selber haben
und die, so können wir fortführend schließen, im Wesentlichen den Umfang der
Sphäre der individuellen Selbstbezeichnung betrifft, anstatt sich allein auf
die Ebene des Wissens zu beziehen. Das eine Ordnung aber zum Selbstzweck wird,
bedeutet, dass sie ihrer Aufgabe, Begehren und Bewusstsein bindend einander zu
vermitteln, d.h. Subjektivierungsformen herzustellen, nicht mehr nachkommt,
wodurch der affektive Raum gewissermaßen unbeachtet freischwebt und das Subjekt
in eine Anfälligkeit setzt. Die ungebundenen Mikrogestalten der Affekte und
Emotionen wuchern in einem Raum, auf den man sich nicht besinnt. Wie kann man
das fassen, unsere innere Bereitschaft zur Ungeduld, die diversen Momente des
Unbehagens oder beispielsweise die Augenblicke fehlender Durchlässigkeit?
Reformulieren wir hierfür das Konzept der Ungleichzeitigkeit in der
Ausdrucksweise von deMause. Kollektiv geteilte Phantasmen resultieren für ihn
aus der Interaktion unterschiedlichen Psychoklassen, eben bestimmt nach einem
ihnen angehörenden zeitlichen, räumlichen und leiblichen Zustandesein in Bezug
aufeinander, sowie in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit was die Prozesse der
Psychogenese anbelangt. Eine Psychoklasse, die nur noch erschwerten Zugang zu
anderen Psychoklassen findet, ist ungleichzeitig und wenn die von ihr
forcierten Verhaltensmodelle ihre Funktion nicht mehr erfüllen, unzeitgemäß zu
nennen. Die Präsenz als Teil einer Gruppe stellt offenbar andere Anforderungen
an das Individuum als zwischenmenschliche Beziehungen. Ihre Dynamiken
unterscheiden sich voneinander, weil Konflikte im Paar und in der Gruppe anders
abgespaltet werden. Innerpsychische Abwehrmechanismen sind innerhalb von
Gruppen weniger wirksam, sodass die Akte der Projektion, Introjektion und
Übertragung verstärkt zutage treten. Die dadurch freigesetzten phantasmatischen
Gehalte gehen die Gruppe wie einen äußeren Druck an, dem diese ein Objekt
zuweisen muss, um ihn auszuagieren. Dafür sind mehrere Möglichkeiten denkbar.
Der Druck einer kollektiven Stimmung kann bewusst durchlebt und über die
Vermittlung von Objekten umgearbeitet werden. Vielleicht bemüht man sich ihn zu
substituieren und zu verlagern, um sein Andrängen hinauszuzögern. Ihm kann aber
auch in Form einer nach außen gerichteten Destruktion bei einer gleichzeitigen
nach innen greifenden Erschöpfung begegnet werden. Diese letzte, in ihrer
Fatalität unabweisbaren Situation, wird Bloch in seiner Untersuchung weiter
nachgehen.
2.2.Die
kollektive Ebene – gesellschaftliche Aneignung und wirtschaftliche Organisation
Die Betrachtung wechselt damit auf eine andere
Ebene, auf die des Kollektivs. Ihr Augenmerk gilt ab sofort der Massenbildung
im Rahmen gesellschaftlicher Aneignungsprozeduren sowie ihre Eingliederung in
Strukturen wirtschaftlicher Organisation.
Wenn
die Unruhe, die das Individuum umfängt, sich nicht löst, muss es sich in anderen
Ausdrucksformen kompensieren. Die Veräußerungsformen des inneren Unbehagens
nehmen nach Bloch Anteil an jeder Form der Kolportage, sei es in der Rede oder
auch schon nur im Phantasma, also immer dann wenn ein Inhalt aus seinem
ursprünglichen Sinnzusammenhang herausgelöst wird, um eine andersartige
Situation zu inszenieren. Die Zerstreuung stellt nicht nur eine Abwendung des alltäglichen
oder momentanen auf-sich-selbst-gestoßen-Seins dar, sondern nimmt ihren
Übergang auf eine gesellschaftliche Ebene, insofern die Zerstreuung im Akt der
Konsumtion reproduziert und organisiert wird. Individuen bilden als Konsumenten
ein erstes kollektives Milieu aus, das die Haltlosigkeit als Unfähigkeit des
Individuums, seine eigene Leiblichkeit zu umfassen, voraussetzt. Man kann die
Reihe der Konsumenten dann als Masse denken, wenn man unterstellt, dass sie
durch einen ihnen gemeinsamen Umgang mit den Dingen sowie mit sich selbst
charakterisiert werden. Mit den Phänomenen der Bildung von Massen verschiedener
Typen und den Bedingungen ihrer Zusammensetzung sowie Ausrichtung untereinander
hat sich, darauf möchte ich hier gern noch hinweisen, Elias Canetti in seinem
wissenschaftlichen Werk auseinandergesetzt. Nach ihm vermag allein die Masse
für den Einzelnen eine Situation herzustellen, wo dieser seiner Angst davor,
berührt zu werden, und d.h. strikt als er selbst bedeutet zu werden, entkommt.
Solcher Furcht erlaubt die Masse, sich umzukehren. Mit Canettis Worten
gesprochen: „Es ist die dichte Masse, die man dazu braucht, in der Körper an
Körper drängt, dicht auch in ihrer seelischen Verfassung, nämlich so, dass man
nicht darauf achtet, wer es ist, der einen bedrängt. Sobald man sich der Masse
einmal überlassen hat, fürchtet man ihre Berührung nicht.“ Und diese Masse kann
durchaus auch von abstrakterem Wesen sein, in ihrer Ansammlung nicht eindeutig
lokalisierbar. Das Individuum, das in einer Masse aufgeht, nimmt über die
Gleichstimmung der Leiber die Anregungen der anderen sofort auf. Aufgrund
dieser Verdichtung empfindet man sich im Kollektiv über die individuellen
Unterschiede hinweg als eins und ist in besonderer Weise, gewissermaßen
hintergründig empathisch füreinander. Diese Weise der Abwendung von dem
Gewahrsein für das eigene Eigenleben, bildet aber nicht nur ein Vakuum, das
gesellschaftlich besetzt und ausgerichtet werden kann, sondern führt nach Bloch
zu einer Abstumpfung der Sinne überhaupt für die Wahrnehmung der Gestalt des eigenen
Daseins. Die Reduktion des individuellen Selbstverhältnisses auf seine mit
anderen solidarisierte Beziehung zu äußerlichen Gegebenheiten leitet eine
Homogenisierung ein, insofern eine kollektive Ausrichtung des Begehrens in
Gestalt einer organsierten Konsumtion erst dadurch möglich wird. Ich möchte an
dieser Stelle zusätzlich auf die Untersuchungen von Herbert Marcuse zur
gesellschaftlichen Regulierung von Bedürfnissen verweisen, denn er gibt zu
beachten, dass natürlich erst im technokratischen Zeitalter der Gesellschaft
die entsprechenden Mittel zu Verfügung stehen, um Stimmungen direkt und
massenhaft in einer materiellen Produktion umzusetzen, sodass die soziale
Durchschlagkraft solcher Tendenzen sich seitdem exponentiell und nur
geringfügig einschätzbar entfaltet.
Anhand
des angenommenen Bruchs zwischen der körperlichen Realität des Handelns in der
Zerstreuung und dem innerem Drängen des Individuums wird deutlich, dass Bloch
ebenso wie Marcuse das Sehnen immer als auf den eigentlichen Zustand seiner
Erfüllung hin gerichtet sieht, die und das ist zu betonen, nur in einer
gesellschaftlichen Wiederspiegelung dauerhaft gegeben sein kann. Die
Sachlichkeit der wissenschaftlichen Perspektive ebenso wie die Inszenierungen
der Kulturindustrie bergen hingegen die Gefahr, dass der Einzeln nun sucht, in
der Begeisterung an ihren Vor- und Darstellungen den Blick von sich selbst zu
nehmen. Dadurch stellt sich die Frage nach der Akzeptabilität und Kompatibilität
von Vorstellungen und Urteilskategorien in Bezug auf die Konkretion der
Erlebnisse für die Erfahrung. Das Phantasma beruht demzufolge selber auf einem
Bruch zwischen Innen und Außen, der in Form einer gesellschaftlich
organisierten Imagologie nutzbar gemacht wird. Eine solche Kultur dekoriert
zwar die Alltäglichkeit, versteht sich aber umso weniger auf die Fähigkeiten im
Umgang mit den Momenten ihres alltäglichen Daseins.
Das
Beispiel Blochs: Eine ärgerliche, weil für den Einzelnen unlösbare Sorge
verbindet verschiedene Individuen in einer gemeinsamen kollektiven Stimmung,
ohne dass sie davon Kenntnis nehmen müssten. Dass die Sorge sie aber zusammen
zu einer Masse verdichtet, wird ab da gesellschaftlich produktiv, wenn für
diese Masse Verankerungspunkte bereitgestellt werden, an denen man sich aber
nicht wirklich entladen können darf, soll diese Produktion auch weiterhin der
Ausschöpfung zugänglich sein. Die Verankerungspunkte müssen demnach ständig
verschoben werden und lassen die Sorge nach innen dadurch aber gerade in einen
Ärger nach außen übergehen, dem es eben nicht gelingt, seine Quelle in seiner
fixen Auseinandersetzung mit Äußerlichem wirklich aufzuheben.
Mediale
Eindrücke deuten Inbegriffe des Seinwollens aus. Wenn diese Bilder einer Ferne
aber nicht an den leiblichen Ort ihrer Verwirklichung rückangebunden werden –
was eine nicht zu unterschätzende Funktion kultureller Ordnung ist – führt dies
gerade zu einem Vergessen derartiger Aktionsräume und bewirkt damit eine
Reduktion der Fähigkeit des Individuums gegenüber sich selbst. Für Bloch kommt
der kulturellen Ordnung die wichtige Funktion zu, Hoffnungsbilder für
gesellschaftliche Interventionen tragfähig zu machen. Die Zerstreuung hingegen
ist eine Form der Aneignung von Bildern zum Sinne ihres Verbrauchs und der
Entleerung ihres eigentlichen Potenzials, an Fragwürdiges im derzeitigen Leben
zu gemahnen. Ohne Hoffnungsbilder, die auf etwas anderes hindeuten als das
Bestehende, kommt eine wegdrängende Bewegung nicht umhin, sich schließlich
gegen sich selbst richten. Man könnte hierfür an den psychischen Mechanismus
der Verneinung, wie Freud ihn beschreibt, anschließen. Das Phänomen der
Verneinung liegt für ihn auf halbem Wege zwischen der Verdrängung eines Inhalts
und seiner Bewusstmachung. Vermittels der Verneinung wird ein für die Psyche
brisanter Inhalt zwar angesprochen, aber gleichsam in einer Abwendung von ihm
auf Distanz gehalten. Gewissermaßen geschieht genau das mit den
Hoffnungsbildern. Sie kursieren zwar in einer Überfülle durch den sozialen
Raum, gelangen aber nur selten in die Position einer ernsthaften Bejahung. Der
Widerspruch zwischen der Unruhe und der Müdigkeit an einer fehlenden
kulturellen Sättigung aber bleibt.
2.3. Ungleichzeitigkeit
– Berauschung und Betäubung
Auf einer dritten Ebene beschreibt Bloch die
anschließende Überschreitung eines Kulminationspunkts der bisher betrachteten
Bewegung, dem nachfolgend Kollektiv und Individuum sich aneinander zu verzehren
beginnen, d.h. wenn das Individuelle an der Präsenz des Kollektiven seine
Berauschung anfacht und das Kollektive seinerseits das Individuelle zu betäuben
anfängt.
Die Ungleichzeitigkeit
zwischen Entwurf und Praxis führt nach Bloch zu einer durchdringenden
körperlichen wie geistigen Entkräftung, einerseits in Form einer Verklärung des
Woher und Wohin der eigenen Orientierungen, als auch in Gestalt einer
Entleerung der innerlichen Belebung. Gedanklichen Gebäuden ist eine eigene Form
von Sinnlichkeit zu eigen, die den Schein oder die Erwartung einer in die Realität
umsetzbaren Kraft trägt. Kommt es zu Kompensationen einer sich selbst
zweckdienlichen Ordnung kann diese an der bloßen Begeisterung ihre Lust und
ihren Sinn finden, und betäubt damit die Sinne für das eigene Befinden. Vielleicht
muss man an dieser Stelle betonen, dass obwohl die Lust eine Regung ist, sie sich
sehr wohl auch auf die Ruhigstellung beziehen kann, wenn es sich folglich um
eine katastematische Lust handelt, um das bald unwissentliche Erleiden eines
bestimmten Pathos. Damit geht eine spezifische psychomentale Form einher: nämlich
die Notwendigkeit der Weise, sich von etwas abstoßen zu müssen, um zu
behaupten, wer man sei. Um die eigene Identität zu sichern, ordnet man sich
leichter dem unter, das nicht jenes zu sein verspricht, von dem man sich
abstoßen will. Die Abstoßung aber ist ein Mittel zur Verhärtung von Ordnungen,
um ihren Bestand zu wahren. Damit verschärft sie jedoch ihr Ungenügen und muss
sich schließlich gegen dasjenige ausagieren, was sie andrängt, folglich das
Befinden, das nur in seiner Abstumpfung ihr als taugliches erscheint. Das
Gewaltvolle dieser Umdeutung aber ist eine rege Aktivität, die eine eigentlich
nötige Umarbeitung zu ersetzen, vorgeben kann. Es ist nicht schwer, das eigene
Gehetztsein als selbstbestimmte Aktivität umzudeuten. Diesem Phänomen, dass
Gewaltformen sich oft unter dem Zeichen der Verwirklichung positiver Werte
legitimieren, hat übrigens Gil Bailie eine ausführliche Studie gewidmet und für
unsere Kultur als kennzeichnendes Paradox ausgewiesen.
Warum
aber tritt die Verschleierung dem Bewusstsein nicht als solche nahe? Weil die
Abtrennung inneren Bedingungen zu äußeren Ursachen auf ihrer Kehrseite
Solidarität unter denjenigen stiftet, die auf diese Weise versuchen, den Blick
von sich selber zu nehmen. Dieser letztere Anreiz scheint offenbar von größerem
Umfang. Wir müssen uns hierfür nur nach den Inhalten unserer Gespräche
befragen, nämlich inwieweit diese von unseren Wunschphantasien oder von den
Geschichten anderer handeln. Man lässt sich also gehen in Erlebnisse, deren
Erfahrungswert nur selten gehoben wird. Die Bezüglichkeiten der Vorstellungen
werden oftmals nur virtuell nahe gebracht, d.h. allein der Kraft nach, ohne
dass sie sich als Aktanten im leiblichen Befinden konkret lokalisieren ließen.
Nach dieser Richtung geht die Zerstreuung letztlich in Berauschung über, wenn
das Begehren innerhalb eines sich fortsetzenden materiellen Prozesses zunehmend
angeeignet und verausgabt wird. Die ursprüngliche Flucht vor etwas wird in eine
Flucht gegen etwas umgelenkt. Im Angesicht dieses neuen, materiell hoch
produktiven Zustandes erkennt sich das Bewusstsein damit selbst nicht mehr als
das primäre Objekt notwendiger Umarbeitungen. Mit der Macht, die das Subjekt
umschließt, wird für gewöhnlich der Gedanke einer Einengung verbunden. In
Hinsicht auf gesellschaftliche Prozesse der Ausrichtung eines kollektiven
Begehrens und der Zentrierung desselben auf ein bestimmtes Ziel,
charakterisiert diese Form des machtvollen Zugriffs auf das Subjekt an dieser
Stelle zuerst vielmehr das Vorhandensein einer unerträglichen Weite, an der das
Individuum zu verzweifeln droht. Eine zunächst persönliche Ergriffenheit wird
in ein gesellschaftliches Feld verlagert, wenn die kulturelle Ordnung keine
Modelle bereit hat, um dieser zu begegnen. Damit aber leitet sie einen
Zersetzungsprozess an sich selber ein.
Die
Konzentration gesellschaftlicher Mechanismen auf sich selbst bewirkt das Zusammentreffen
einer Ausschließung der Aufmerksamkeit des Subjekts aus seinen körperlichen
Regungen mit einer Einschließung dieser Aufmerksamkeit in Objekten des
Konsumtionsapparats. Es gibt in positiver Weise eine Lust an Ordnung, an der
Kraft ihrer Strukturierungsleistung. Ein Symptom zunehmend erstarrender
Ordnungen ist nun das Auftreten dieser Lust als Verausgabung. Sie antwortet
dabei eben nicht auf eine Unlust an der Regulierung, sondern gestaltet sich als
eine von einer um sich greifenden Einmündigkeit, Nüchternheit und
Rationalisierung ablenkenden Kraft, die ihren Boden in einer Erschwernis des
Individuums an sich selbst hat. Eine starre Ordnung verbirgt sich dadurch, sie
wird gewissermaßen stumm, macht sich unzugänglich und verwehrt sich dem
Eingriff in ihre Zusammenhänge. Insbesondere im Feld des kommunikativen
Verhaltens: Welcher Härtegrad kommt bestimmten Diskursen zu? Wie stark ist die
Norm zur Herstellung einhelliger Urteile. Inwieweit hängen wir von der
vorgeblichen Eindeutigkeit gewisser Aussagen ab? Das Bedürfnis einer Ordnung zu
verstummen, indem sie von ihr Wegdeutendes zum Sprechen bringt, bewirkt
innerhalb der Kommunikationssituationen eine Umverteilung von
Ausschließungsprozeduren, also eine Umverteilung dessen, worüber man nicht zu
sprechen in der Lage ist, sowie eine Umverteilung von Erwartungsreihen, jenes
was innerhalb von Gruppenzugehörigkeiten vorausgesetzt wird im Sinne eines
common ground.
Der
semiotische Raum einer Gesellschaft beinhaltet Resonanz- und Dissonanzbereiche
der Reden untereinander. Reden greifen sich gegenseitig auf, befürworten und
setzen sich fort oder suchen sich voneinander zu unterscheiden. Ebenso weist
solch ein Raum Zonen niedriger Frequenzen oder von größeren Häufigkeit auf.
Deleuze betont, dass die Beziehung zwischen Aussage und Handlung eine
innerliche ist. Das bedeutet, dass Aussagen stets mit gesellschaftlichen
Verpflichtungen verbunden sind, die Handlungen implizieren. Als Raum eines
möglichen Handelns kann dies aber auch schon das Selbstverhältnis von
Individuen betreffen. Aussagen schließen sich an gewisse Bedingungen unseres
Denkens an und legen nahe, was man darin festhalten und erwarten muss. Sprechen
heißt Eingreifen, den Leib in dem, worin er von etwas Betroffen ist, zu
transformieren. Die Erfassung der Kommunikation durch eine sterile Ordnung
bedeutet demnach die Verdichtung dieses Raumes auf eingeschränkte
Resonanzzentren, wobei die Dissonanzbereiche ausgelagert und als
Demarkationslinie umgestaltet werden. In diesem Sinne kann man die Rede von
einer Verhärtung der Organisationsstruktur einer Ordnung verstehen. Dem entspricht
ein Begriff der Macht als Deutungshoheit wie ihn Friedrich Nitzsche formulierte.
Die
letzte Stufe der beschriebenen, sich immer weiter fortsetzenden Bewegung geht
von einem Drift des Raumes des Befindens und des Netzes einer Ordnung
voneinander weg aus. Sie kehren sich in sich selber ein, wodurch das Drängen
der Empfindungen gegen das Refugium des Subjekts zur Gewalt wird und die
Ordnung sich in Kontrolle verkehrt. Das geschieht, wenn also selbst das
Mögliche gerastert und innerhalb der Rede eingefroren wird. Dass die Dinge eine
Ordnung haben, verweist auf eine zuunterst liegende Aktivität. Die Formgebung
von Affekten und Regungen bedeutet, dass differierende Affekte gegeneinander
abgegrenzt werden, sodass sie ein kulturelles System ausbilden können. Der Raum
des Erlebens wird semiologisch gegliedert. Demgemäß lässt sich nun unter der
Berauschung ein Zusammenhang verstehen, wenn verschiedene Begehren aufgrund
eines Mangels an Ausdrucksformen ineinander übergehen und dadurch eine
Intensität zu entfalten beginnen, die weder vom Individuum noch von
gesellschaftlichen Regulationen eingefangen werden kann. Eine Kultur wird für
den Einzelnen dann zu einer Gefahr, wenn sie in ein Selbstverständnis eintritt,
das ihre Natur als den Genuss an sich selbst auszeichnet. Legitimiert sich die
Ruhelosigkeit zu einer normierten Form der Identität mit sich selbst, wird das Individuum
zunehmend von der Pflicht zur Veräußerung umgrenzt. Roland Barthes würde dem
hinzufügen: Die Macht ist gerade etwas, das uns zum Sprechen zwingt. Die
zwanghafte Selbstbetrachtung über die Rede bedeutet die persönliche Lust als
ihr erstes Motiv, verdeckt darin aber eben gerade jenen Zusammenhang, dass die
Verteilung von Lust als auch von Unlustempfindungen in ein Verhältnis zur Macht
gesellschaftlicher Diskurse eingelassen ist. So erscheint die Introversion des
Subjekts als eine bald rückhaltlose Hingabe an gesellschaftliche Mechanismen.
Die
Berauschung findet ihr volles Objekt an der eigenen Leere. Leere bedeutet hier
aber nicht bloße Abwesenheit von möglichen Inhalten. Wir begegnen ja in der
Diskussion Blochs eher dem Zeugnis einer Überfülle dessen, das da seinen Sprung
tun möchte. Das Subjekt fühlt sich bedrängt, sodass Leere hier vielmehr die
Unfähigkeit bedeutet, diese Elemente aufnehmen zu können. Eine derartige Abstumpfung
kann aber auch mithilfe populärer Beschreibungsmodelle formuliert werden.
Joseph Chilton Pearce beispielsweise spricht von einer neurologisch bedingten,
neuen Gleichgültigkeit. Jedes Nervensystem arbeitet ausgehend von einem
Aktivationslevel, das mit einem bestimmten Maß an äußeren Reizen
korrespondiert. Die aufkommende Flut an Reizen durch die Verdichtung der
Verkehrs- und Kommunikationsnetze in den modernen Gesellschaften bewirkt eine
Erhöhung der Reizschwelle des Gehirns. Erhöhte Erregungsstimuli sind also
erforderlich, damit etwas bewusst zur Kenntnis genommen wird, sei es zum
Beispiel das Empfinden des Individuums gegenüber sich selbst. Dadurch lässt
sich vermuten, dass ein Individuum für seine kognitiven Leistungen des Lernens,
Erinnerns und Aufmerkens eine Umgebung zu erschaffen suchen wird, deren Reize
nochmals verdichtet sind und prägnanter hervortreten. Wenn das eigene Befinden
von den gesellschaftlichen Diskursen nun aber einer Ausblendung anheimgegeben
wird und dass heißt für das Subjekt nur schwach frequent besetzt ist, kann es
auch für höherstufige Informationsverarbeitungsprozesse ignoriert werden. Die
Trübsal könnte man dadurch auch als eine sensorische Isolation beschreiben,
eben im Wortsinn als eine Abdichtung gegenüber der Umwelt und die damit
einhergehende Angst als bezogen auf den Verlust von Objekten, welche die
Aufmerksamkeit des Individuums noch binden könnten.
Die
abendländische Kultur hat aber nicht erst seit der Neuzeit eine besondere
Aufmerksamkeit für die Gefahr der Leere in Form ihrer Erscheinungen als
Entfremdungserleben, als Depersonalisierung oder Derealisation entwickelt. Acedia ist der treffende Begriff für die
Leere im christlichen Mönchswesen durch das gesamte Mittelalter hindurch. Leere
bedeutet hier aber nicht nur Schwunglosigkeit, sondern vereint in sich einen
Fächer von ambivalenten Regungen. Acedia beschreibt einerseits das Subjekt als
durch seinen Leib Betroffenes. Es fühlt sich schwer, schläfrig und in seinen
Bewegungen gehemmt. Neigt zu Faulheit und Unbeharrlichkeit. Lauheit des
Verstandes und Ekel vor der Anregung des Herzens. Andererseits umfasst dieser
Begriff ebenfalls die Reaktionen der Abstoßung davon. Das Subjekt befindet sich
von einer unruhigen Betriebsamkeit angesteckt, schweift in seiner Unruhe von
Ort zu Ort. Erlebt sich in seinem Begehren als bald wahllos und hat den
unbestimmten Drang, wegzukommen. An die Acedia, an den Überdruss des Menschen,
worin er sich selbst zur Last wird, lehnt sich allerdings noch ein zweiter
Begriff an: murmuratio – das von
Überdruss geplagte Individuum entwickelt den Drang, sich durch Reden
abzulenken, sich im leichtfertigen Reden von sich abzusetzen. Sachlichkeit und
Zerstreuung sind ihrerseits verschiedene Ausdrucksformen dieser Flucht nach
vorne.
3. Zusammenfassung
– die harte Linie
Fassen wir das Besprochene kurz zusammen. Das
Individuum ist affiziert, ein von Affekten betroffenes Subjekt. Wir haben
gesehen, wie Furcht, Klarheit, Macht und die Lust am Vernichten in eine
gemeinsame Anordnung eintreten können, sodass sie für einen anfänglichen Druck
wie Relais wirken, der sie, sich dabei beschleunigend, nacheinander durchläuft.
Betraf die Furcht noch die Angst, die Sicherheit eines der Orientierung
dienenden Inventars zu verlieren, weil die für einen verbindliche Ordnung sich
nicht mehr als zeitgemäße erwies, verschärft die Klarheit die Erosion. Die
Ordnung des Ausdrucksfeldes, das ein Außen gliedert und auch den Mitmenschen
mit in Bezug nimmt, ergreift nun auch das Empfinden und sucht es, zum Zwecke
einer neuerlichen Stabilität zu verhärten. Die angestrebte Kontrolle des
Wunsches und d.h. die Hinauszögerung seines Hereinbrechens kann allerdings nur
in Gestalt eines sich fortsetzenden materiellen Vorgangs verwirklicht werden.
Macht findet ihren Bereich in der Organisation von Zerstreuungsweisen. Die
Klarheit tritt dabei als ihr Gewährsmann auf, da sie zwar auf bestehende
Leerräume innerhalb einer Ordnung deutet, dabei jedoch ausschließlich die
Notwendigkeit einer Abstoßung von diesen evoziert. Sie kompensiert eine wirkliche
Umarbeitung in der bloßen Relativierung dieser Lücken. Die eigentliche
Fixierung, die sie damit aufrechterhält, behebt aber gerade nicht das Problem
der Aushöhlung der Semiotik. Der Leib als Raum des Empfindens wird schließlich
ebenso wie die Vorstellungen von der Zerstreuung erfasst. Dieses
Zusammenfallen, dieser Sog leitet für Ernst Bloch Berauschungsformen ein, wie
beispielsweise das um sich Greifen einer Lust an der Reglementierung oder die
Zwanghaftigkeit, auf bestimmte Glaubenssätze bestehen zu müssen. Hier nun
verfällt der Mensch in ein Wesen einer negativen Ökonomie, das seinen eigenen
Nährboden anzugreifen beginnt.
4.
Schlussfolgerung – der Gefühlsraum
Im Angesicht des besprochenen
Problemzusammenhangs kann man Hermann Schmitz‘ Aufforderung zu einer erhöhten
Sensibilität für die Betrachtung von Stimmungen nur unterstützen. Die Probleme
der philosophischen Analyse von Gefühlen, Wahrnehmungen oder Bewertungen binden
sich immer an die Frage nach der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt an. Es
ist bekannt, dass das Bewusstsein immer von etwas handelt. Ungeklärt bleibt
aber die eigentliche Reichweite von Objekten, wenn man ihnen eine psychische
Funktion zuspricht. Treten sie wirklich als Affizienten auf, könnten sie nicht
länger schlechterdings einem Subjekt gegenübergestellt werden, dass einen
separaten Innerraum, dem bestimmte Gefühle zu eigen sind, für sich beansprucht.
Im Gegensatz zu einer philosophischen Tradition von Spinoza über Kant, von
Hegel, bis zu Husserl, die das Bewusstsein über eine diskrete Innerwelt
definiert, das Seinssphäre, Bezugsfeld und Agens zugleich ist und den Reichtum
leiblichen Regungen in Bezug auf Gefühle auf eine Lust- Unlustrelation
reduziert, spricht sich der hier eine Stimme verschaffende Ansatz für eine
rigorose Problematisierung der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt aus, vor
allem in Richtung der enormen Bindungsstärke, die sie wechselseitig aufeinander
ausüben. Das Subjekt ist Teil einer schieren Mannigfaltigkeit von Dingen, die
aber vor allem eine Ordnung aufweisen. Es ist anzunehmen, dass die Verwobenheit
von Dingen und Subjekten im alltäglichen Handeln Einfluss auf die Form der Subjektivierung
von Individuen hat. Am deutlichsten drückt sich das wahrscheinlich in der
Beachtung dessen aus, dass wir einen Körper haben, der einen Raum bewohnt.
Wohnungen stellen zumeist eine konzentrierte Anordnung von Dingen dar, die in
der Spezifizität ihres Gefüges als eine Festung des individuellen Bewusstseins
wirken. Das heißt, sie bezeichnen ein ausgewähltes Subjekt, insofern sie in
ihrer Zusammenstellung nicht nur Räume des individuellen Wohlempfindens
organisieren, sondern außerdem als Speichermedien für die persönliche
Geschichte des Subjekts dienen, dessen Identität sie ihm ununterbrochen
widerspiegeln. Mag sein, dass es sich einmal nicht länger darin erkennt. Inwieweit
sind wir uns jedoch der oft strikten Beziehung zu den Dingen bewusst und
erleben die damit verknüpft Betroffenheit als eine Sphäre möglicher
Bewusstheit?
Stimmungen
oder auch singuläre Affekte sind daher auch nicht auf ein Subjekt oder ein
Objekt, den sie anhaften, reduzierbar. Sie umgreifen diese vielmehr als Raum,
der sich in ihr konkretes Verhältnis ergießt und dadurch auf sie eine oft
zwingende Kraft ausübt. Auf dieses Weise lässt sich die Möglichkeit denken,
dass allein schon die Gestalt einer gewissen Umgebung – ein Environment – spezifische
Stimmungen über sich darin aufhaltende Individuen ausbreiten kann. In der
Literatur anerkennt man hauptsächlich dem Stadtraum mit seinen
Verkehrsschneisen und Industrieanlagen eine solche Wirkkraft zu, wenn er allein
schon durch seine Präsenz beispielsweise beklemmt oder ermüdet. Was davon
festgehalten werden soll, ist die Einsicht, dass eine Gesellschaft bereits in
der Ausgestaltung ihres Lebens- und Arbeitsraums psychisch-leibliche
Situationen wie Rausch oder Zerstreuung vermittels ihrer Ordnung der Dinge
verteilt und organisiert. Das ist möglich, weil Lust- und Unlustempfindungen an
sich freischwebend sind. Das bedeutet, sie müssen erst diskursiv gebunden, in
einer bestimmten Form des Umgangs mit ihnen fixiert werden. So folgt z.B. dem
Schmerz nicht automatisch das Leiden oder angestrengtes Ertragen, sondern
dieser kann ebenso leicht geduldet oder auch genossen werden. Ähnlich ist die
Wonne nicht schlichtes Indiz für die Erfülltheit eines Einzelnen.
Unterschiedlichen Zuständen kann sie angehaftet werden, darunter die Wonne an
der Bewegungslosigkeit oder dem geistigen Dämmern. Die Lebenswelt ist eine
Wiederspiegelung von Diskursen und strahlt insofern eine psychomentale Ordnung
auf das Subjekt zurück. Die Verbindung zwischen Gefühl, leiblicher Regung und
Gebärde ist immer schon eine kollektiv geprägte. Affektiven Mustern kommt
jeweils ein bestimmter Stellenwelt im Feld des sozialen Verhaltens zu, neigen
je nachdem mehr dazu, dem Taktgefühl zu entsprechen oder Anstoß zu erregen. Auf
jeden Fall zurren Kommunikationssituationen die Identität zwischen Gefühl und
Subjekt fest. Die Identifizierung eines Individuums mit seinen emotionalen
Zuständen geschieht bereits unter der Bedingung einer Abspaltung, die das
Subjekt zwar als Absicherung gegenüber sich selbst erlebt, im Endeffekt aber
die Durchdringungsmacht gesellschaftlicher Mechanismen verschleiert, die im
extremsten Fall randlos sein kann.
Eine gesellschaftliche Ordnung der Dinge
wiederholt sich in jeder Erfahrung, behauptet ihren Anspruch auf Wahrheit mit
jedem stimmigen Erleben und begründet für den Einzelnen sowohl die Kontaktfläche
seines Behagens als sie auch Züge einer Dezentrierung des Subjekt in das Individuum
einschreibt. Subjekte und Objekte sind daher weniger die Quellen von Gefühlen
oder Stimmungen als vielmehr selber Effekte einer Zentrierung oder Verdichtung
von Sphären, zu denen der Körper eine Resonanz aufbaut und die er verstetigt.
Die Stimmung, das Raumgefühl und das Gefühl für den eigenen Körper bilden ein
synästhetisches Feld. Auf diese Weise kann man von einer tatsächlichen
Verlängerung von Objekten in die Räume der Erinnerung, Erwartung und
Einbildungskraft von Individuen sprechen. Was über die Bindungs- und
Wirkungskraft einzelner Objekte entscheidet, ergibt sich aus der spezifischen
Position innerhalb des Gefüges, in das sie eingeordnet sind. Stimmungen haften
daher eher an der Art ihres Zusammenseins. Die Umgebung bildet ein
ganzheitliches morphogenetisches Feld. Es ist plausibel anzunehmen, dass
Veränderungen in der Gestalt der Umgebung sofortige Folgen für die Art der
Ergriffenheit von Subjekten haben, sowohl wie für den psychischen Status
bestimmter, von einer Gruppe fokussierter Dinge. Möglicherweise finden innerhalb
solcher Zusammenhänge die eigentlichen Prozesse kulturellen Wandels statt.
Literatur:
Bailie, G. (1997): Violence Unveiled. Crossroad, New York.
Bloch,
E. (1977): Erbschaft dieser Zeit.
Suhrkamp, Frankfurt a.M..
Canetti,
E. (1980): Masse und Macht. Suhrkamp,
Frankfurt a.M..
Deleuze,
G. & Guattari, F. (2002): Tausend
Plateaus. Merve Verlag, München.
DeMause,
L. (2005): Was ist Psychohistorie?
Psychosozialverlag, Gießen.
Marcuse,
H. (2004): Der eindimensionale Mensch.
Dtv, München.
Nietzsche,
F. (1983): Genealogie der Moral.
Goldmann, München.
Pearce,
J. C. (2004): Biologie der Transzendenz.
Arbor Verlag, Freiamt.
Schmitz,
H. (2005): Der Gefühlsraum. Bouvier
Verlag, Bonn.
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