Erschienen in Ausgabe: No 83 (1/2013) | Letzte Änderung: 31.01.13 |
„Katholische Scharia“ oder Ausdruck der Natur des Menschen? Ein Gespräch mit dem Philosophen Armin Schwibach
von Guido Horst
Vor über einem Jahr hat Papst Benedikt im Deutschen Bundestag
das Naturrecht thematisiert. Kritiker sagten damals, der Papst wolle
eine Art „katholischer Scharia“ wieder einführen. Ist das Naturrecht
eine katholische Angelegenheit?
Nein, das Naturrecht hat
nichts mit der katholischen Kirche und die zitierte Scharia hat nichts
mit Naturrecht zu tun. Sie ist im Endeffekt sogar dessen Verleugnung.
Das Naturrecht ist, wie Benedikt XVI. dies auch früher schon sagte, „die
Quelle, aus der zusammen mit Grundrechten auch sittliche Gebote
entspringen, deren Einhaltung verpflichtend ist“. Der Gedanke des
Naturrechtes geht also von einem Gesetz aus, das in die Natur des
Menschen eingeschrieben ist und aus dem heraus sich die positiven
Gesetze der Gesetzgebungen ergeben müssen. Er geht zurück auf die Zeit
der Griechen und wurde vor allem von der Philosophenschule der Stoa
ausgearbeitet.
Was heißt das denn: „...in die Natur des Menschen eingeschrieben“?
Die
Natur des Menschen – sein Sein – ist so geordnet, dass sich durch die
Vernunft im Sein selbst ein Gesetz erfassen lässt, wenn wir das für das
Handeln des Menschen Maßgebliche erkennen wollen. Dieses „Gesetz der
Natur“ – die lex naturalis oder das ungeschriebene Gesetz – bringt die
Natur des Menschen zum Ausdruck. Es ist also nichts Nachträgliches. Es
ist auch keine Erfindung. Es gehört zu seinem Wesen.
Nochmals
zu den Griechen, weil wir ja nicht mehr so klassisch gebildet sind. Wie
haben die Griechen erkannt und ausgearbeitet, dass es gleichsam
natürliche Gesetze gibt, Gesetze also, die der Natur schon
eingeschrieben wurden und dadurch von der Vernunft zu erkennen sind?
Denken
Sie zum Beispiel an Sophokles’ Tragödie „Antigone“, die die Menschen
seit über 2400 Jahren immer wieder neu beschäftigt. Antigone widersetzt
sich – einem scharfen Konfrontationskurs folgend – dem Willen des
Tyrannen von Theben, Kreon, da sie ein von ihm erlassenes Gesetz im
Widerspruch zu den „ungeschriebenen und gültigen Bräuchen (Normen,
Regeln) der Götter“ sieht. Der Tyrann hatte verboten, ihren Bruder
Polyneikes zu bestatten, weil der gegen seinen Bruder Eteokles und seine
Heimatstadt gekämpft hatte. Damit aber verwehrte Kreon seinem Neffen
die Möglichkeit, in den Hades einzugehen und so die Totenruhe zu finden.
Dieses willkürlich erlassene – oder „positive“ – Gesetz des Kreon steht
für Antigone im Widerspruch zu der von den Göttern gegebenen
universalen Regel, dem Maß allen Tuns, das von absoluter Gültigkeit ist.
Es entspricht der Natur des Menschen und bestimmt sie. Somit stellt
Antigone die göttliche Norm – die kein Gebot ist – über das Gesetz des
Staates. Dafür setzt sie sogar ihr Leben ein. In diesem Sinn vollzog
sich seit Bestehen des Gesetzesbegriffs im griechischen Denken eine
intensive Auseinandersetzung mit dem Problem der Rechtmäßigkeit der
Gesetze – sowie der Grundlegung der endlichen Gesetze in den von den
Göttern gegebenen Gesetzen des Seins.
Wollte der Papst im Deutschen Bundestag eine Rückkehr zu den alten Griechen?
Der
Papst hat uns mit seiner Frage „Was ist Recht?“ aufgefordert und daran
erinnert, dass man darüber nachdenken muss, was die Grundlagen der
Rechtsprechung sind. Worin das Wesen der Gesetze besteht. Und dass
Gesetz und Vernunft nicht auseinanderdividiert werden können. Damit hat
er uns auch daran erinnert, dass es somit unmöglich ist, „Gesetze“
allein als ein selbst gesetztes Regelwerk positiver, regulierender
Gesetze zu erfassen.
Gesetze werden dennoch von
Menschen gemacht. Aber Sie sagen, es gibt Gesetze, die sind dem Menschen
angeblich vorgegeben und der Natur, das heißt den „Herzen
eingeschrieben“?
Ein Gesetz ist ein Maßstab. Das heißt, es
ist eine Richtschnur für menschliches Handeln. Diese Richtschnur kann,
was etwa Gesetzbücher betrifft, von Menschen geschaffen werden. Dies
sollte allerdings nur auf der Grundlage von etwas geschehen, was diese
Richtschnur auch als Richtschnur vernünftig erkennbar werden lässt. Das
Gesetz ist immer grundlegend auf die Vernunft verwiesen. Man könnte
schlagwortartig sagen, dass das Gesetz von der Vernunft erkannt und
freigelegt wird. Geschaffen wird es also, insofern die Vernunft für
ihren Schöpferakt von einem vorgegebenen schon existierenden Gesetz ihre
Richtung erhält.
Das Gesetz also wird von der Vernunft geschaffen. Dann ist es also doch nicht „in das Herz eingeschrieben“?
Dass
es von der Vernunft geschaffen wird, heißt: Die Vernunft ist das Maß
des Handelns. Die Norm des Handelns besteht in der vernunftmäßigen
Wesensstruktur des menschlichen Seins. Gesetz und Vernunft sind somit
aufeinander verwiesen. Bildhaft gesprochen: Wenn die Vernunft sich auf
etwas zubewegt, ist sie in der Lage, die Struktur des Gegenstandes
wahrzunehmen und zu erkennen, auf wen sie sich zubewegt. Wenn wir also
vom Gesetz sprechen, haben wir es auf der einen Seite mit einem von der
Vernunft „geschaffenen“ Gesetz zu tun. Dieses Gesetz aber kristallisiert
sich heraus, indem sich die Vernunft auf das Sein zubewegt, in dem sie
das eingeschriebene Gesetz als wahrnehmbar und erkennbar vorfindet.
Von
dem Naturrechtler Hugo Grothius (1583-1645) stammt der Satz: „Etiamsi
daremus non esse Deum“, also gewisse Prinzipien des Naturrechts gelten
auch dann, wenn Gott nicht existieren würde. Wie geht das denn? Wie kann
man aus der Natur Prinzipien ableiten?
Man muss zunächst
erklären, was mit Natur gemeint ist. Dabei geht es nicht um jene Natur,
die Gegenstand der naturwissenschaftlichen Untersuchung ist. Wenn man
von Natur und Naturgesetzen spricht, haben wir es in der
Rechtsphilosophie nicht mit Naturgesetzen zu tun, so wie sie von den
positiven Wissenschaften wie Physik oder Chemie als Modelle der
Interpretation der Wirklichkeit herausgearbeitet werden. Natur im
Bereich des Naturrechtsdenkens ist die Gesamtheit des gegebenen Seins,
innerhalb dessen die Vernunft Gesetze ausmachen kann, die einen für das
menschliche Handeln absoluten und nicht von ihm hervorgebrachten
Charakter haben.
Und was wollte Grothius mit seinem Diktum nun sagen?
Grothius
wollte darauf hinweisen, dass es nicht notwendig ist, aus einer
religiösen Dimension heraus den Naturrechtsgedanken zu formulieren,
sondern dass es in der Natur des Menschen und in der den Menschen
umgebenden Welt selbst Gesetze gibt, die für den Menschen zunächst
Verpflichtungen darstellen und auf der anderen Seite Rechte
gewährleisten.
Ziehen wir ein erstes Fazit: Was also ist Recht und wie kann
der Mensch Recht oder Rechte definieren, um dann im Konflikt-Fall Recht
zu sprechen?
Recht beziehungsweise das Gesamt der
verschiedenen Rechte ergibt sich dadurch, dass die Vernunft die sie
umgebende Wirklichkeit durchdringt und innerhalb dieser Wirklichkeit
vernünftig erkennbare Maßstäbe und Richtlinien findet, die in das Sein
selbst eingelassen sind. Das Recht ist also etwas, was die Vernunft des
Menschen zu erkennen vermag – und zwar aufgrund ihrer eigenen Aktivität
und andererseits aufgrund dessen, was sie in der erkennbaren, realen
Welt vorfindet.
Könnten Sie dafür ein Beispiel nennen? Welches Recht kann man aus der Natur ableiten?
Ein
konkretes Recht ist das Recht auf Leben und verbunden damit, dass
anderes Leben nicht ausgelöscht werden darf, weil damit das Recht der
Natur des Menschen verletzt würde und dies dann Konsequenzen für die
Selbstbestimmung desjenigen hat, der eine derartige Tat begeht.
Sie sprachen eben vom Sein. Sind wir da bei der Metaphysik? Was ist Metaphysik?
Ist
die Frage ernst gemeint? Wie viele Bände an Antwort wollen Sie haben?
Aber Scherz beiseite: Das gesamte abendländische Denken vollzieht sich
in einem Horizont, der nach Aristoteles „metaphysisch“ genannt werden
kann. Es geht um das Sein, darum, „Was“ und „Wie“ etwas ist oder da
ist, und um das ihm Zukommende, was es strukturiert, wie dies
geschieht, welchen Sinn von Sein die Vernunft erarbeiten kann, was
daraus an Verbindlichem für die Stellung des Menschen in der Welt „sub
specie aeternitatis“ folgt. Das Christentum ist eine gelebte Metaphysik
und kann die auf die Praxis bezogene „theoretische“ Dimension sehr schön
veranschaulichen. Zum Beispiel kann man den ersten Satz des
Glaubensbekenntnisses „Credo in unum Deum“ nicht einfach nur sprechen
oder konventionell wiederholen oder in seiner Grammatik analysieren. Die
Tatsache, dass Gott in die Geschichte der Menschheit eingetreten ist,
drängt den Gläubigen dazu, sich selbst, die Gemeinschaft, zu der er
gehört, und die Welt hinsichtlich dessen zu hinterfragen, was aus der
Anwesenheit Gottes folgt, um dann danach handeln und in der Welt sein zu
können.
Was ist der Unterschied zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre?
Der
Unterschied besteht in der Grundlage der Rechtsfindung und des daraus
folgenden Normensystems. Für die Naturrechtslehre besteht die Grundlage
der Rechtsfindung in einer Ordnung, die im Sein selbst verankert ist,
das die menschliche Vernunft erkennen kann und das durch die Vernunft
anschließend so ausgefaltet wird, dass positive Gesetze, die gerecht
sind, nachfolgen können. Wohingegen bei einer rechtspositivistischen
Konzeption der wesentliche Akzent auf der Kodifizierung liegt, die sich
auf unterschiedliche gesellschaftliche Situationen bezieht. Der
Rechtspositivismus fragt bei dieser Kodifizierung nicht danach, was ein
Recht ist, sondern ob etwas funktioniert und wie die verschiedenen
Funktionsweisen aufeinander bezogen werden können.
Was ist die Folge des Rechtspositivismus?
Der
Rechtspositivismus begleitet eine relativistisch organisierte Form der
Gesellschaft und eine relativistische Interpretation der
gesellschaftlichen Bezüge und versucht, diese so zu regulieren, dass es
innerhalb einer Gesellschaft zu keinen Diskriminierungen von einzelnen
Gruppen kommt. Der Anspruch des Gesetzes ergibt sich dabei allein aus
dem Willen des Souveräns, der keiner weiteren (ontologischen)
Grundlegung bedarf und sich auf nichts über ihn Hinausgehendes bezieht.
Oder – wie dies Papst Benedikt XVI. einmal ausdrückte: „Die Folge ist,
dass die Gesetzgebung häufig lediglich zu einem Kompromiss zwischen
verschiedenen Interessen wird: Man versucht, private Interessen oder
Wüsche, die den aus der sozialen Verantwortung erwachsenden
Verpflichtungen zuwiderlaufen, in Rechte umzuwandeln.“ Somit ist es
nicht übertrieben, gravierenden Machtmissbrauch bis hin zum
Totalitarismus als schwerste Folge des Rechtspositivismus zu sehen.
Armin Schwibach lehrt Neuzeitliche Philosophie, Metaphysik und
andere philosophische Disziplinen an der Päpstlichen Hochschule „Regina
Apostolorum“ in Rom.
C-Vermerk: VATICAN-magazin 11/2012
http://www.vatican-magazin.de/index.php/magazin/aktuelle-ausgabe/inhalt/13-magazin/aktuell/titelthema/137-titelthema-112012
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