Erschienen in Ausgabe: No 84 (2/2013) | Letzte Änderung: 31.01.13 |
von Stefan Groß
Kaum ein Denker prägte seine Zeit nachhaltiger als Christoph
Martin Wieland, kaum einer entrückte unverdientermaßen so schnell wieder in die
Vergessenheit wie der einstmalige Dichter des Rokoko, der Libretto-,
Operndichter, der am 20 Januar 1813 in Weimar verstarb. Der am 5. September
1733 in Biberach geborene Pfarrerssohn war mehr als ein Literat; er formte das
unter der Regentschaft Anna Amalias mit ihm aufblühende Weimar – das kleine
Herzogtum an der Ilm, und eine der damals bekanntesten Zeitschriften, „Der
Teutsche Merkur“ feierte durch seinen Herausgeber große Erfolge.
Während Goethe die Vielzahl junger, nach Weimar pilgernder Literaten, darunter
Kleist und Lenz, großzügig ablehnte und der literarischen Welt als nicht
gebührend empfand, blieb Wieland der liebende Vater, der Erdenbürger, der sich
auch um literarische Debütanten immer wieder kümmerte, das Genie, das – obwohl
Prinzenerzieher von Herzog Carl August – nicht der höfischen Etikette frönte,
sondern im Bewusstsein der englischen Whigs-Aristokratie dem damaligen Trend
aus der Urbanität in die ländliche Idylle folgte. Und diese Idylle war es, die
ihn Zeit seines Lebens prägen wird, sie schönsten Jahre wird er auf seinem
Landgut in Oßmannstedt nahe Weimar verbringen, nahe an Goethe, der in der Nähe von
Apolda ein kleines Landgut erworben hatte. Die Euphorie zu seinem Landgut, zu
seinem Tusculum bekundet Wieland: „ich muß aufs Land. Hier in Weimar wird mir
der Geist durch den Hof, mein Körper durch das fatale Klima gemordet. Wollt ihr
also mein längeres Leben, so misgönnt mir diese ländliche Ruhe nicht. Ich habe
mir übrigens alle Nachtheile gedacht, welche diese Isolierung für mich haben
kann. Allein Der ist glücklich, sagt Epiktet, der, was die Nothwendigkeit
gebietet, gern thut. Mit dieser Lebensphilosophie bin ich immer ausgekommen.“[1] Wie wichtig
ihm die Natur gewesen ist, die Naturfrömmigkeit und das Eingeschlossensein in diese, unterstreicht die „Geschichte des Agathon“, wo die Handlung in
den Garten verlegt wird. Auch die Alterswerke, der „Agathodämon“ und der
„Aristipp“ bezeugen, dass sich Wieland wie Agathodämon, der sich als
neupythagoreischer Philosoph in die elysische Landschaft Kretas zurückzog,
einen abgeschiedenen Landsitz auserwählte. Mit dem Sokratesschüler Aristipp
verband Wieland die Utopie eines glücklichen Lebens unter vernünftigen Menschen
auf dem Lande.
Das Verhältnis zu Goethe war seinerzeit nicht ungetrübt, doch der Biberacher
sah im Weimarer Olympier keineswegs den Karrieristen, sondern einen
Herzensmenschen, wie dies eine Briefstelle an seinen Freund Friedrich Heinrich
Jacobi bezeugt: „Wie ganz der Mensch bei’m ersten Anblick nach meinem Herzen
war! Wie verliebt ich in ihn wurde, da ich am nämlichen Tage an der Seite des
herrlichen Jünglings saß! [...] Seit dem heutigen Morgen ist meine Seele so
voll von Goethe, wie ein Tautropfen in der Morgensonne.“ Trotz Goethes Kritik,
der er in seiner Schrift „Götter, Helden und Wieland“ Ausdruck verlieh, kam es
immer wieder zu Begegnungen zwischen beiden. Ressentiments waren Wielands Sache
nicht.
Bereits frühzeitig genialisch, in den alten Sprachen versiert, hatte Wieland
mit siebzehn Jahren sein Heldengedicht in fünf Gesängen„Hermann“ geschrieben.
Nun war er in der literarischen Welt angekommen, genoss Johann Jakob Bodmers
Anerkennung. Literarische Erfolge bescherten ihm darüber hinaus der satirische
Roman „Die Abderiten, Eine sehr wahrscheinliche Geschichte von Herrn Hofrath
Wieland“, der zweibändige Roman„Geschichte des Agathon“ und „Aristipp und
einige seiner Zeitgenossen“ – immer noch eine philosophische Herausforderung.
Mit der damaligen Naturpoesie und Naturphilosophie von Rousseau und Shaftesbury
war Wieland seit den frühen Biberacher Jahren, in Zürich bei Bodmer und während
seiner Erfurter Zeit als Philosophieprofessor vertraut. Mit Rousseau kritisiert
er den Zustand der Gesellschaft, teilt dessen Naturalismuskonzept; allein
Rousseaus „Zurück zur Natur“ und den Gedanken vom „état naturel“ vermag er
nichts abzugewinnen. Dass ihn Rousseaus pädagogische Erziehungsschrift, der „Émile“
begeistert und angeregt hat, lässt sich in seinen Schriften „Republick des
Diogenes“, in den „Beyträge(n)“ zur Geheimen Geschichte des menschlichen
Verstandes und Herzens“ und in den Essays „Über J.J. Rousseaus ursprünglichen
Zustand des Menschen“ ablesen. Als Shakespeareübersetzer kannte er eingehend
die englische Aufklärung und die von der Insel ausgehende Gartenrevolution. Ihm
waren der „Spectator“ und sein Herausgeber Joseph Addisons wirkungsästhetische
Beurteilung der Natur nicht entgangen.
Wielands eigene Erziehungsschriften, sein Bildungsroman, die „Geschichte des
Agathon“ von 1766, der seinerseits wiederum die Vorlage für Gottfried Kellers
„Grünen Heinrich“ wurde, waren tief vom englischen Philosophieren geprägt, denn
es waren nicht die autonome Vernunft, der gesetzgebende Verstand und die
Deontologie, die zum beliebten Steckenpferd Wielands wurden, sondern – ganz im
Sinne Shaftesburys – suchte er – im Anschluss an John Locke – nach einer
neuartigen Verknüpfung von Vernunft und Affekten. Diese neue Beziehung zwischen
dem Leib und dem Geist herzustellen, unter Einbeziehung eines universalen
Harmoniebegriffs, in dem sich Gutheit und Schönheit wechselseitig befruchten,
verweist auch darauf, wie sehr Wieland die antike Literatur und Philosophie
schätzte, wie viel ihm als Dichter und als Aufklärer an dieser gelegen war. Die
Synthese zwischen Geist und Leib, ihr wechselseitiges Beziehungsgeflecht,
ermögliche es dem Subjekt, sich in die universale und panharmonische Ordnung
des Universums einzufügen.
Bereits in seiner frühen Schrift „Die Natur der Dinge“ hatte Wieland
kosmologische und anthropologische Fragen in den Mittelpunkt gerückt und so
unmittelbar an Lukrez’ Lehrgedicht „De rerum natura“ angeknüpft. Wieland wurde
nicht müde, gerade in dieser frühen Schrift, den Monismus und Pantheismus
Spinozas zu kritisieren; ihm ging es nicht um die Unendlichkeit Gottes, um Gott
als Substanz, sondern um die Schöpfungstheologie, die die Natur im Sinne der
Gottesebenbildlichkeit begreift und nicht auf einen blind-funktionierenden
Mechanismus verkürzt. Statt dem Okkasionalismus Malebranches, der „harmonia
praestabilitia“ und den „influxus physicus“ Leibniz’ wird er an der "Kette
der Wesen" festhalten, einer Art Stufenleiter, die vom höchsten bis zum
niedrigsten Wesen herabreicht.
Hofleben einerseits, kritische Aufklärung andererseits – zwischen diesen beiden
Antipoden schwankt Wieland Zeit seines Lebens. Indem er sich für die Natur und
damit für Shaftesburys ideale Vorstellung von einem Leben gemäß und in der
Natur entscheidet, kommt er dem Ideal seiner antiken Vorbilder näher; allein
ein Leben in der Ungezwungenheit der Natur vermag das Subjekt dahin führen,
sich als autonomes zu entfalten. Und diese freiheitliche Autonomie ist es, die
Wieland über alles stellt. So verwundert es kaum, dass die Antike jener
Sehnsuchtort bleibt, der allein ein Leben in seliger Ruhe und edler
Gelassenheit ermöglicht. In Oßmannstedt entgegnete er der aufgeweichten
Moralität des 18. Jahrhunderts und stellte dieser die heilige Sehnsucht nach dem
„Goldenen Zeitalter“ gegenüber. Kein Zurück zur Natur, aber ein Zurück nach
Arkadien sehr wohl; denn allein ein moralischer Glaube, das Subjekt als Prinzip
der Sittlichkeit und der Schriftsteller als Erzieher in moralischen
Angelegenheiten konnten die von Wieland erwünschte Veränderung der Sittlichkeit
ermöglichen.
Stoisches Denken, die Selbstverwirklichung des moralischen Ich als autonomen
und autarken Wesen, das sich allen Widrigkeiten des Lebens fügt, dies wird zur
lebenspraktischen Maxime Wielands. Nur ein moralisches Ich kann die Welt
erlösen und in der „Die Natur der Dinge“ heißt es dann: „Wer jetzt im Dunklen
tappt, wird dann im Lichtmeer schwimmen [...].“ Es ist also nicht das
Schicksal, das bestimmt, es ist der stoische Geist, der über dieses gebietet
und richtet, es annimmt und in Produktivität verwandelt. So verwundert es kaum,
das auch der Tod Wieland nicht schrecken konnte, zu sehr war ihm die Nähe
zwischen Tod und elysischer Vorstellung gewiss – das Resultat ist dann keine
Todesverachtung mehr, sondern die bewusste Annahme dieser die Endlichkeit
überschreitenden Gewissheit, die nicht nur die Zeitlichkeit vor Augen führt,
sondern den wachen Geist beflügelt, ganz im Sinne von Senecas „Carpe diem“ –
die Tage intensiv zu erleben, eine Maxime, die sich auf dem Obelisk des
Wielandgrabes wiederfindet: „Liebe und Freundschaft umschlang die verwandten
Seelen im Leben. Und ihr Sterbliches deckt dieser gemeinsame Stein.“
Die Einübung in das Schicksal, das Ideal eines asketischen Lebens – all diese
Gedanken teilte er mit dem römischen Gelehrten Cicero. Keineswegs war der alte
Wieland ein „poetischer Landjunker“, sondern jener in aller Bescheidenheit
agierende Weltweise. Wie der Philosoph Danischmend, den er zur Hauptfigur
seines gleichnamigen Romans auserwählte, suchte er nach einer Natur- und
Gemeinschaftsidylle, „deren Wertezentrum die Familie ist. Diese Lebensform
setzt auf interaktionsnahe Sozialität, in deren Rahmen sich Konflikte in
zwischenmenschlicher Verständigung auf der Ebene von Familien und Nachbarschaftsbeziehungen
abwickeln lassen [...].“[2]
Nicht nur die Harmonisierung mit der Natur, ein Gedanke, der heute in der
Ökologiebewegung wieder im Vordergrund steht, sondern auch ein naturgemäßes
Leben, das naturökonomische als auch -ökologische Aspekte mit einschließt,
ermöglichen letztendlich das, auf was der Mensch allein hinausstrebt – auf die
eigne und soziale Glückseligkeit. Und auf Distanz zu manchen Frivolitäten
früherer Stücke im Glanze des Rokoko plädiert Wieland nun verstärkt auf die
Ordo des Verstandes, lehnt ein rein affekt- und triebgesteuertes Leben ab, ohne
den Empirismus aufzugeben, fokussiert die Vernunft als Prinzip der
Sittlichkeit. Ihm werden – wie Cicero und Seneca –die Seelenruhe und die
Apathia zum philosophischen und damit lebensweltlichen Heilsgeschick. Und mit
dieser Suche nach dem, was in der Natur des Menschen Kontinuität bezeugt,
verpflichtet er sich auf ein Leben gemäß der antiken Tugendlehre. Und auch dann
schließt sich Wieland der griechischen und römischen Geisteshaltung an, wenn er
das Elysium als heitere Idylle versteht, wo Todessehnsucht, heitere
Gelassenheit und „stille Größe“ eine Verbindung eingehen. Ihm ist die
Vorstellung von einem sagenumwobenen Land am Westrand der Erde, mit dem man das
Land der Seligen und den ewigen Frühling identifizierte, nicht fremd, diese, in
der die verdienten Helden in ewiger Seligkeit lebten, hat ihn von früher Jugend
an begleitet und war immer wieder Teil seiner literarischen Produktionen.
Die Erziehung des Menschen durch einen weisen Herrscher oder Regenten – dies
bleibt Wielands Ideal von einer gerechteren Welt, und dies sein Vermächtnis an
die heutige Zeit. Gute Politiker, die sich dem Wohle der Bürger annehmen, diese
Idee ist für den Aufklärer und Liebhaber klassischer Tugenden derart zentral,
das er es bereits für notwendig erachtete, einen „Goldenen Spiegel“, eine Art
Fürstenspiegel zu schreiben, als Anleitung für richtiges und falsches Regieren,
als Ratgeber an den weisen Regenten, wie er das maximale Glück seiner ihm
anvertrauten Bürger zu befördern weiß – eine Lektüre, derer sich auch moderne
Politiker gern annehmen sollten. Bemessen würden sie nach Wieland allein an
ihrem bildungspolitischen und sozialen Engagement, an ihren guten Werken.
[1] Am 1. April 1797 schreibt
er an Herzogin Anna Amalia: „Meine Villa verhält sich zu jener, welche Ew.
Durchlaucht in dem hiermit zurückgehenden schönen Briefe so reitzend
dargestellt und charakterisiert haben, ungefähr wie die Stadt Weimar zur Stadt
Rom, oder wie das ehemalige Tiburtium [...] zu dem Sabino eines Horaz sich mag
verhalten haben. Von letztem habe ich schon lange die Kunst, mit wenigem
vergnügt zu seyn abzulernen gesucht, und auch ich kann, wie er, sagen: die
Götter haben mehr für mich gethan, als ich einst nur zu wünschen gewagt. Ich
hoffe im Schoß der Natur und der Ruhe, mit den Meinigen und den Musen, die
ihren alten Priester nie ganz verlassen werden, den Rest meiner Tage so
glücklich zu verleben, als meine Freunde mir nur wünschen können: aber niemals!
Niemals! Werde ich der wohltätigen Hand vergessen, durch welche das Schicksal
mir ein so liebliches Looß zu Theil werden ließ! Immer werde ich, Gnädigste
Herzogin, in Ew. Durchlaucht und in dem Durchl. Herzog, Ihrem würdigsten Sohn
und Erben Ihre Liebe zu allem was Schön und Groß in Natur und Kunst ist, die
gütigen Schöpfer meines Glückes mit dankvollen Herzen verehren, und in diesem
Gefühl bis ans Ende meines Lebens beharren.“ Und als Wieland sein Landgut 1803
verkauft, schreibt ihm die Herzogin in einem Brief vom 14. Februar 1803:
„Lieber bester alter Freund unendlich habe ich mich gefreut, daß Sie so
vorteilhaft Ihr Oßmannstedt verkauft haben, ein Wunsch den ich lange insgeheim
gefühlt habe. Aber dafür will ich so viel es in mein Vermögen stehet
(versuchen) Ihnen die Stadt so angenehm zu machen, daß Sie das Landleben
darüber vergessen und bey uns wieder jung werden.“ Während seiner Zeit in
Oßmannstedt verstarb Sophie Brentano (1800) und seine Frau (1801) – der Rückzug
in die Idylle blieb ihm auf Dauer versagt.
[2] Wieland, Epoche - Werk - Wirkung, hg. v. S.-A. Jørgensen, H. Jaumann, J.
McCarthy und H. Thomé, München 1994, S. 90.
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