Erschienen in Ausgabe: Ohne Ausgabe | Letzte Änderung: 31.01.13 |
von Karim Akerma
Die Behauptung, „Der Knigge“ sei veraltet, ist schon so
lange modern, dass sie selbst veraltet ist. Immer wieder heißt es, man müsse
diese oder jene Benimm- und Anstandsregel nicht mehr beachten. In Wahrheit
hätte Knigges 1788 erschienenes gesellschaftsethisches Buch Über den Umgang
mit Menschen auch heute noch Milliarden etwas zu sagen.Und zwar dort, wo er sich zum Umgang mit
Tieren äußert.
Obwohl Knigge (1752–1796) so gut wie nichts
(Un-)Menschliches fremd war, „zitiert“ man ihn vor allem als Autorität für
Benimmregeln bei Tisch. Man hört dann etwa Folgendes:
„Der
Mann, der zum erstenmal mit dem Messer aß..., müsste noch einmal geboren und
dann mit den schwersten Freiheits- und Todesstrafen belegt werden. Das Messer
dient dazu, das Fleisch (nie den Fisch, nie die Kartoffel, nie das Brot)
entzwei zu schneiden, es ist aber nicht erfunden, um damit zu essen.“
Dieses
fleischlastige Zitat stammt nun nicht von Knigge, der sich zu Kartoffeln
überhaupt nicht äußerte, sondern von einem späteren Benimm-König: Spemanns
goldenem Buch der Sitte von 1901 (1).
Um der Frage nachzugehen, ob Fleisch überhaupt geschnitten
werden soll, begeben wir uns mit Adolph Freiherr von Knigge zu Tisch. Als
Tischgenossen wählen wir keinen Geringeren als Mahatma Gandhi (1869–1948) und
betrachten seinen Umgang mit Menschen und Fleisch in seiner Zeit als Anwalt in
Südafrika. In Pretoria lud ihn eine wohlhabende Familie sonntags regelmäßig zum
Essen ein. Schon bald hatte Gandhi sich mit dem fünfjährigen Sohn der Familie
angefreundet. Bei einer Mahlzeit macht er eine geringschätzige Bemerkung über
das Stück Fleisch auf dem Teller des Jungen und preist den auf seinem eigenen
Teller liegenden Apfel. Als Gandhi am nächsten Sonntag zum Essen kommt,
eröffnet ihm die Dame des Hauses, der Umgang mit ihm tue ihrem Sohn nicht gut.
Er mache Theater, wenn er Fleisch essen soll und wolle nur noch Obst haben,
wobei er sich auf Herrn Gandhi berufe. Dies gehe zu weit. Ihr Sprössling drohe
schwächlich und am Ende noch krank zu werden. Von daher möge Gandhi ab sofort
bitte nur noch mit den Erwachsenen über derlei Themen reden. Gandhi
entschuldigt sich. Ganz Diplomat erklärt er, dieser misslichen Situation
dadurch ein Ende zu bereiten, dass er die Familie künftig nicht mehr zum Essen
besuchen werde. Denn was er esse oder nicht esse, mache auf den Knaben einen
sehr viel größeren Eindruck als das, was er rede.
Was hat Gandhis Fleischdiplomatie mit Knigges Buch Über
den Umgang mit Menschen zu tun? Höchstwahrscheinlich hätte Knigge sowohl
Gandhis Fleischverzicht wie auch seine Aufhebung der kulinarischen Beziehung
zur Sonntagsfamilie gutgeheißen. Knigge war nämlich durchaus nicht nur eine
Instanz für den Umgang mit Menschen. Ein bemerkenswertes Kapitel seines Buches
wirft die Frage auf, ob nicht schon Knigge ein Mahatma war, wie Gandhi später
genannt wurde: eine große Seele. Das Kapitel heißt „Über die Art mit Tieren
umzugehn“. In diesem Kapitel ist „von dem grausamsten aller Raubtiere, von dem
Menschen“ die Rede. Diesem grausamsten aller Raubtiere sucht Knigge nun bewusst
zu machen, „dass ein Tier ebenso schmerzhaft Misshandlung, barbarischen
Missbrauch größerer Stärke und Wehe fühlt, wie wir, und vielleicht noch
lebhafter...“ Und er breitet seinen Spott über all jene aus, die zwar liebend
gern Tiere essen, denen aber ganz schlecht wird, wenn sie sich mit den
Vorgängen konfrontiert sehen, ohne die das Fleisch niemals auf den Teller
gelangt wäre: „Es gibt so zarte Männlein und Weiblein, die gar kein Blut sehen
können, die zwar mit großem Appetit ihr Rebhühnchen verzehren, aber ohnmächtig
werden würden, wenn sie eine Taube abschlachten sehn müssten!“
War Knigge also ein früher Vegetarier? Leider nicht! So sagt
er, nicht alle Jäger seien grausame Menschen und spielt auf ihre unverzichtbare
Rolle für den gedeckten Tisch an: „Es muss ja dergleichen Leute geben, so wie
wir, wenn keine Schlachter in der Welt wären, bloß von Speisen aus dem
Pflanzenreich leben müssten...“ Was aber würde bei rein pflanzlicher Kost mit
uns passieren? Offenbar wollte Knigge diesen Punkt nicht zu Ende denken,
sondern klammerte sich an die Auffassung, Tiere seien zu unserer Nahrung auf
der Erde. Aber nicht, so schränkte er ein, um von uns gepeinigt zu werden. Auch
wenn sein Mitleid ihn nicht dahin brachte, zu schreiben, dass Fleisch bei Tisch
nichts zu suchen hat, so wusste er doch immerhin, dass Grausamkeit gegen Tiere
zur Grausamkeit und Härte gegen Menschen führt. – Ein Gedanke, den Immanuel
Kant später in seiner Metaphysik der Sitten von 1797 wiederholte.
Eine Antwort auf die von Knigge nahegelegte Frage nach den
Konsequenzen fleischloser Ernährung finden wir in Gandhis Jugend. Nirgendwo in
ganz Indien herrschte eine so große Abneigung gegen den Fleischverzehr, wie in
Gujarat, wo Gandhi aufwuchs. Eines Tages erklärt ihm ein Schulfreund, er selbst
wie auch andere respektierte Personen äßen heimlich Fleisch. Warum? Weil die
englischen Kolonialherren angeblich nur deshalb in der Lage seien, über die
schwachen Inder zu herrschen, da sie Fleisch essen. Außerdem bekämen Fleischesser
keine Geschwüre und Furunkel. Obwohl er aus einer streng vegetarischen Familie
stammt, zeigt sich der junge Gandhi beeindruckt und beginnt heimlich Fleisch zu
verzehren. Als das schlechte Gewissen an ihm zu nagen beginnt, sagt er sich, er
könne die alte Familientradition nicht hintergehen und entschließt sich,
zumindest so lange kein Fleisch mehr zu konsumieren, wie seine Eltern leben.
Als Gandhi fern von den Eltern in England lebt, um Jura zu studieren, fängt er
nicht etwa wieder an Fleisch zu essen, sondern wird vom religiös verpflichteten
zum überzeugten Vegetarier und Mitglied der Vegetarian Society.
Ausschlaggebend dafür war die Lektüre von Henry Salts Buch Lob der Pflanzenkost in einem vegetarischen Restaurant Londons. Als
überzeugter und missionierender Vegetarier also kommt Gandhi in Südafrika an.
Und wir dürfen davon ausgehen, dass Knigge Vegetarier geworden wäre, hätte er
mit Gandhi gespeist. Eine vielzitierte Benimm- und Anstandsregel hätte dann
lauten können: Fleisch gehört bei einer zivilisierten Mahlzeit nicht auf den
Tisch!
Literatur:
(1)
Baudissin, Wolf Graf und Eva Gräfin: Spemanns goldenes Buch der Sitte. Eine
Hauskunde für Jedermann. Berlin, Stuttgart: W. Spemann, 1901, Artikel 361
Adolph Freiherr Knigge
Über den Umgang mit Menschen
Fischer Taschenbuch Verlag, Ff/M 2008
Mahatma Gandhi
Mein Leben
Suhrkamp Taschenbuch, Ff/M 1983
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