Erschienen in Ausgabe: No 85 (03/2013) | Letzte Änderung: 20.02.13 |
Peter Pragals bemerkenswertes Buch über eine ostdeutsche Provinz
von Jörg Bernhard Bilke
Peter Pragal, der sich selbst als linken Journalisten
betrachtet, hat ein Buch über Schlesien
geschrieben, das jeder Diskussion wert ist! Anders als in seinem ersten Buch
„Der geduldete Klassenfeind“ (2008), das seinen Ostberliner Jahren als
DDR-Korrespondent für die „Süddeutsche Zeitung“ in München 1974/79 und für die Hamburger Illustrierte „Stern“
1984/90 gewidmet war, geht er in seinem zweiten Buch autobiografisch noch
einige Jahre zurück und versucht, nach einem langen, erfahrungsreichen
Berufsleben als Journalist, sein Verhältnis zu seiner Geburtsstadt Breslau, zur
Heimatprovinz Schlesien und zu den 1945 verlorenen Ostgebieten Deutschlands
überhaupt zu klären.
In der schlesischen Hauptstadt Breslau wurde er als Sohn
eines Arztes am 8. Juni 1939 geboren, mit Mutter, Großmutter und zwei jüngeren
Brüdern, der Vater stand an der Front, ging er schon im Dezember 1944 auf die
Flucht, zunächst nach Hartenberg ins Riesengebirge, von dort im März 1945, als
die Front näher rückte, nach Böhmen, wo eine Irrfahrt begann, die am 22. Mai
1945 vorerst in Görlitz endete. Der Breslauer Arztfamilie Pragal ist es damals
nicht anders ergangen als Hunderttausenden von Schlesiern, die aus der Heimat
geflohen waren, aber westlich von Oder und Lausitzer Neiße voller Hoffnung
ausharrten, um nach Kriegsende zurückkehren zu können. Die Pragals erhielten am
25. Mai ihren Passierschein nach Hirschberg , kamen dort aber nie an, sondern
blieben unterwegs im Städtchen Liebenthal/Kreis Löwenberg hängen, wo sie von Juni
1945 bis Juli 1946 lebten, bis sie endgültig vertrieben wurden und schließlich
über das Notaufnahmelager Uelzen-Bohldamm ins Siegerland kamen.
Dort, wo sein 1949 aus russischer Kriegsgefangenschaft
entlassener Vater eine Arztpraxis übernommen hatte, dort, wo er das Gymnasium
besuchte und das Abitur ablegte, dort, wo er Freunde fand und erste
Liebschaften, wuchs ihm das Heimatgefühl zu, das er für Schlesien damals nicht
empfinden konnte. Noch im September 1980, als er eine Delegation westdeutscher
Bischöfe begleitete und im Mietwagen von Trebnitz nach Breslau fuhr, empfand er
Fremdheit, als er das Ortsschild „Wroclaw“ las, womit seine Geburtsstadt
Breslau gemeint war: „Das Bild, das ich von ihr im Kopf hatte, war eine Idylle,
zusammengesetzt aus den Erzählungen meiner Eltern, aus Büchern mit Fotos aus
der Vorkriegszeit und aus einigen Kindheitserinnerungen…Ich war nicht in
Breslau, ich war in der Realität angekommen…“.
Hier wird in klaren Worten die Erfahrung jener Generation
umschrieben, die während der bitteren Jahre von Flucht und Vertreibung 1945/48
noch Kinder waren und heute Rentner sind. Obwohl ihnen die alte Heimat aus
Kinderjahren noch vertraut war, zeigten sie wenig Verständnis für Eltern und
Großeltern, die unter diesem Verlust fast zerbrachen. Sie wollten, was durchaus
verständlich ist, ihr Leben im verkleinerten Nachkriegsdeutschland nicht immer
nur am verlorenen Schlesien ausrichten, das ihnen, je weiter die Zeit voranschritt,
von ihren Eltern in den leuchtendsten Farben geschildert wurde. Sie fügten sich
vielmehr widerspruchslos ein in die neue Umgebung, sie nahmen Gebräuche und
Mundart an, ihre Freunde und Ehepartner waren Einheimische, sie waren angepasst
und als Schlesier fast nicht mehr erkennbar. Heute, 68 Jahre nach Kriegsende,
weiß kaum noch jemand in Deutschland, dass 1945/46 rund 900 000 Flüchtlinge aus
Hinterpommern und Ostpreußen nach Schleswig-Holstein gekommen sind, was damals
fast die Hälfte der Bevölkerung ausmachte. Heute kann man nur noch an manchen
Nachnamen erkennen, dass ihre Träger ostpreußischer Abstammung sind.
Nicht anders verhielt sich Peter, der älteste der drei Söhne
der Breslauer Arztfamilie Pragal. Auch er konnte das ständige Reden seines
Vaters von Schlesien nicht mehr hören und vermied politische Gespräche, wenn er
seine Eltern besuchte; auch er heiratete eine einheimische Siegerländerin. Erst
1980, als er nach Schlesien reiste, merkte er an seiner Reaktion auf die
Ausführungen einer polnischen Museumsführerin in Breslau, dass noch in Rest von
Heimat, wenn auch vom Verstand geleugnet, in ihm schwelte: „Ich hörte ihr
höflich zu, aber innerlich war ich empört über ihre Geschichtsklitterung und
die verzerrte Darstellung der Stadtgeschichte...Irgendwann konnte ich nicht
mehr an mich halten und widersprach der Museumsführerin. Was folgte, war ein
heftiger Wortwechsel. Wir schieden im Streit.“
Im Sommer 1945 waren die aus Liebenthal ausgewiesenen
Schlesier fast zwei Wochen in Güterzügen unterwegs bis sie am 15. Juli im
niedersächsischen Uelzen eintrafen und von dort in die spätere Kreisstadt
Siegen in Westfalen überführt wurden, später wurde die Familie ins Sauerland
eingewiesen, wo sie, um zu überleben, Reisig im Wald sammelte und auf den
Feldern Ähren, wo sie Kaninchen züchtete und die Söhne dankbar waren für die
aus amerikanischen Heeresbeständen zubereitete „Schulspeisung“ und wo sie sich
vonden einheimischen Bauern als
„Polacken“ beschimpfen lassen mussten, nur weil sie Schlesier waren. Dann wurde
der Vater Dr. Heinz Pragal (1910-2000) aus russischer Kriegsgefangenschaft
entlassen und begann, seine drei Söhne seiner autoritären Erziehung zu
unterwerfen, wie es damals üblich war. Im Januar 1950 verzog die Familie nach
Krombach im Siegerland, Sohn Peter besuchte jetzt als Fahrschüler das 1886 gegründete
Fürst-Johann-Moritz-Gymnasium in Weidenau bei Siegen.
Während des Studiums der Zeitungswissenschaft, Geschichte
und Politologie in München, das er in Münster fortsetzte, entfernte er sich
innerlich immer weiter von Schlesien, seine Eltern im Siegerland hingegen
verharrten in ihrer Heimatverbundenheit, pflegten schlesische Traditionen und
besuchten die jährlichen Schlesiertreffen. Was an der Oberstufe des Gymnasiums
der aus Ostpreußen stammende Geschichtslehrer Dr. Hugo Novak gewesen war, ein
„leidenschaftlicher Patriot“ und „überzeugter Demokrat“, das wurde für ihn an
der 1959 gegründeten „Deutschen Journalisten-schule“ in München Immanuel
Birnbaum (1894-1982), Redakteur für Außenpolitik bei der „Süddeutschen
Zeitung“. Er entstammte dem ostpreußischen Judentum, war in Königsberg/Preußen
geboren, hatte in Schweden im Exil gelebt und galt als Altmeister linker
Publizistik. Nach neun Jahren als Redakteur ging Peter Pragal als Korrespondent
nach Ostberlin, weil niemand sonst sich für diesen Posten beworben hatte.
Beim Schreiben seines neuen Buches hat es sich der Autor
nicht leicht gemacht! Er schöpfte nicht nur aus der Erinnerung, sondern
besuchte Archive, wertete alte Zeitungen aus, befragte Zeitzeugen und schrieb
an Behörden. Und er hat Familienbriefe einbezogen, die sonst unbekannt
geblieben wären. Beim Abschied aus dem Elternhaus 1961 vertrat er folgende
Position: „Meine Haltung zu den organisierten Vertriebenen war in dieser Zeit
zwiespältig. Ich verstand, dass sie mit ihrem Schicksal haderten. Vertreibung
war auch in meinen Augen ein Unrecht…Andererseits stieß mich die Militanz ab,
mit der die Verbandssprecher ihre Forderungen öffentlich vortrugen. Auf Kritik
reagierten sie mit Unverständnis und Polemik.“
Als Rentner in Berlin, der nach dem Mauerfall noch bis 2004
für die „Berliner Zeitung“ gearbeitet hatte, begann er, diesen Standpunkt zu
differenzieren. Er besuchte eine Reihe ostdeutscher Verbände und Kultureinrichtungen,
wie die Zeitschrift „Deutscher Ostdienst“ und ihren Redakteur Walter Stratmann,
die er mit dem kritischen Blick eines „linken Revanchisten“ (so Sohn Markus
über seinen Vater) beurteilt, wie in zwei Porträts von Herbert Hupka und Erika
Steinbach ausgeführt. Einfühlsam schilderte er die vergeblichen Bemühungen der
SED-Politiker, das 1945 untergegangene Ostdeutschland zum geschichtslosen
Niemandsland zu erklären. In Görlitz, wo heute noch Schlesisch gesprochen wird,
lebte er sichtlich auf, dort führte er auch ein Gespräch mit dem in Liegnitz
geborenen Bischof Hans-Joachim Fränkel (1909-1996).
Das ganze Buch durchzieht eine allmählich wachsende
Zuneigung zur Geburtsheimat Schlesien, die bewusst anders ist als die seiner
inzwischen verstorbenen Eltern, weil er die heute in Schlesien lebenden Polen
und ihre Aufbauleistungen in seine Betrachtungen einbezieht. Besonders deutlich
wird das bei seiner Wanderung 2005 mit
dem damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse durch Breslau, der 1943
auch dort geboren wurde. Das Buch ist voller Anregungen und Denkanreize, auch da,
wo es zum Widerspruch herausfordert, was beispielsweise die „Charta der
deutschen Heimatvertrieben“ (1950) und das 1999 gegründete „Zentrum gegen
Vertreibungen“ betrifft. Dass er das „Haus Schlesien“ im Siebengebirge bei Bonn
besucht hat und das „Schlesische Museum“ im Görlitzer „Schönhof“, hätte ihn
ermuntern sollen, auch bei der Stiftung „Ostdeutscher Kulturrat“ in der Bonner
Kaiserstraße vorzusprechen.
Was er nicht erwähnt, ist: Es gab auch in Schlesien und
Ostpreußen eine Arbeiterbewegung, also linke Politik von unten, was heute fast
vergessen ist. Ungeklärt bleiben zwei Fragen: Waren die Schlesier tiefer in den
Nationalsozialismus verstrickt als die Bayern oder die Hessen, sodass sie mit
dem Verlust ihrer Heimat bezahlen mussten? Haben die Polen die deutschen
Ostgebiete 1945 tastsächlich gebraucht, um anderthalb Millionen Landsleute unterzubringen, die in Gebieten lebten, die
erst 1920 von Marschall Jozef Pilsudski (1867-1935) erobert worden waren?
Peter Pragal „Wir sehen uns wieder, mein Schlesierland. Auf
der Suche nach Heimat“, Piper-Verlag, München 2012, 400 Seiten, 22. 99 Euro
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