Erschienen in Ausgabe: No. 31 (1/2008) | Letzte Änderung: 23.02.09 |
von Karl Kardinal Lehmann
Media vita in morte sumus – Mitten im Leben sind wir vom Tod
umfangen. Der Tod ist sicheres Los aller Lebenden und allgegenwärtig: In den
Nachrichten weltweit, auch in unserem persönlichen Umfeld, wenn nahe Menschen
sterben.
Wir dürfen froh und dankbar sein für die medizinischen Möglichkeiten, mit denen
Leben heute gerettet und Leid gelindert werden kann. Aber manche Fälle haben
uns doch auch schockierend vor Augen geführt, welche Gefahren damit
zusammenhängen. Allzu leicht können Ärzte, Pfleger, Angehörige oder Richter zu
Herren über Leben und Tod werden. Bei der Begleitung eines sterbenskranken
Menschen geht es immer darum, Hilfe im Sterben zu leisten, aber nicht Hilfe zum
Sterben, wenn damit eine direkte Herbeiführung des Todes gemeint ist.
I.
Der medizinische Fortschritt hat in den letzten Jahrzehnten zu einer
schwierigen Situation geführt. Auf der einen Seite können durch moderne
medizinische Möglichkeiten Krankheiten geheilt oder wenigstens aufgehalten
werden, die noch vor wenigen Jahren als unheilbar gegolten haben. Auf der
anderen Seite kann der Einsatz aller medizinisch-technischen Mittel heutiger
Intensivmedizin dazu führen, das Leiden und Sterben von Menschen wesentlich zu
verlängern. Alles muss darauf hinzielen, bis zuletzt ein Leben und Sterben in
Würde zu ermöglichen. Dafür kann es notwendig sein, die intensive Medizin voll
anzuwenden oder aber auf sie zu verzichten. Die letzte Entscheidung sollte aus
der konkreten Situation des sterbenden Menschen heraus getroffen werden, wobei
seine Wünsche und Bedürfnisse im Vordergrund stehen. Auf die „Patientenverfügung“
und ihre Problematik, die ich hier nur nenne, werde ich später etwas eingehen.
Die Chancen auch und gerade der Medizin kennen wir alle. Aber Grenzen? Wer
Wissenschaft als Beruf ausübt, mag vielleicht sogar zuerst über einen solchen
Begriff erschrecken. Die Wissenschaft scheint gerade dadurch Wissenschaft zu
sein und zu bleiben, dass ihr niemand einfach von außen Grenzen setzt. Ihre
Leistungsfähigkeit besteht gerade darin, dass sie bisherige Grenzen immer
wieder neu in Frage stellt und überschreitet. Davon lebt der Anspruch auf eine
zweckfreie Theorie, die diesen Namen verdient, und auf die Autonomie. Freilich
wissen wir alle, dass es solche Grenzen gibt. Für den neuzeitlichen Menschen
ist dieser Gedanke nicht einfach. Denn die Wissenschaft ist über Jahrhunderte
fast ununterbrochen vorangeschritten. Jede neue Entdeckung hat zu neuen
Fragestellungen und neuen Lösungsmethoden geführt. Immer wieder hat die
Wissenschaft neue Explorationsfelder geschaffen und immer wieder Neuland
betreten. Heute stoßen wir eher an die Grenzen, die mit unserer Endlichkeit
zusammenhängen, auch im Blick auf die Ressourcen. Wir haben auch Grenzen durch
Irrtumsmöglichkeiten: der wissenschaftliche Verstand verrennt sich in seine
eigenen Unzulänglichkeiten. Es gibt auch harte ökonomische Grenzen, weil hier
und dort der wissenschaftliche Fortschritt unbezahlbar wird. Dies sind
mindestens praktische Grenzen. Aber lässt sich heute in den modernen
Wissenschaften Theorie und Praxis so leicht trennen?
Wissen ist Macht. Dies ist eine alte Aussage. Immer schon hat die Wissenschaft
die Welt tiefgreifend geprägt, indem sie sie fortlaufend verändert hat. Während
früher jedoch die wachsende Fülle von Ergebnissen der Wissenschaft dem Leben
diente und die Zivilisation förderte, ist hier - wenigstens in unserem
Bewusstsein - ein Wandel eingetreten. Zwar erkannte man auch schon früher
nachteilige Folgen, aber sie erschienen doch eher als geringfügig. In den
letzten Jahrzehnten hat die wissenschaftlich-technische Entwicklung in
zunehmendem Maß ein Problembewusstsein hervorgerufen: Neben den unbestreitbaren
Segnungen für den Fortbestand und die Weiterentwicklung der menschlichen Kultur
ist nicht zu übersehen, dass die Fortschritte auch dazu führen können, dass
unsere Welt unumkehrbar geschädigt und dass alles menschliche Leben auf ihr
zutiefst gefährdet wird.
Die Intensivmedizin verhilft Menschen in erstaunlicher Weise zum Überleben und
stellt zugleich die schwierige Frage, ob Ärzte verpflichtet sind, alle
therapeutischen Maßnahmen zu ergreifen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit
besteht, dass nur vegetatives Fortleben erhalten wird. Darf man Leben, das
hoffnungslos leidet, „künstlich“ beenden? Darf man überhaupt Hilfe zur
Verlängerung des Lebens versagen? Schließlich denke man an Transplantationen
aller Arten. Eine Grundschwierigkeit des Problems besteht darin, dass die
Spannung zwischen dem technisch Machbaren und dem sittlich Verantwortbaren in
unserer Gesellschaft meist überhaupt nicht wahrgenommen wird. Es mangelt auf
weite Strecken an Sensibilität für die sittlichen Implikationen neuzeitlicher
Naturbeherrschung. Sie erscheint nicht selten schon durch sich selbst
gerechtfertigt: durch ihre Erfolge, durch ihre immer mehr um sich greifende
Tendenz, durch ihre Veränderungsmöglichkeiten, durch ihr allgemeines
Akzeptiertsein. Die Dominanz eines neoliberalen Denkens steigert diese
Einstellung. Es gibt dadurch eine fast unangreifbare Immunität wichtiger
technischer Prozesse gegenüber ethischen Anfragen. Wo sind diese mangelnden
Sensibilitäten nun genauer begründet und wie lassen sie sich überhaupt
aufspüren?
Zunächst ist die Eigendynamik der technischen Machbarkeit zu nennen. Vieles von
dem, was hergestellt werden konnte, verfahrensmäßig technologisch erreichbar
war, hat bis in unsere Zeit hinein eine derartige Suggestivkraft gewonnen, dass
es beinahe normative Kraft annahm. Je höher der Entwicklungsstand der Technik
in einzelnen Bereichen ist, desto radikaler scheint sich die Weiterentwicklung
zu beschleunigen. Die Anstöße zum „Fortschritt“ geschehen fast automatisch. Es
ist nicht zufällig, dass in diesem Zusammenhang oft die Bilder eines
abgefahrenen, sich immer mehr beschleunigenden Zuges, der nicht mehr gebremst
werden kann, und einer Lawine, die ihre unwiderstehliche Kraft und Bewegung
mitbringt, Verwendung finden. Im Zug der neuzeitlichen Naturbeherrschung wird
die Veränderung von vornherein legitimiert und erscheint so immer wieder als
notwendige „Optimierung“.
Ein weiterer Grund für das Zurücktreten des Bewusstseins um die sittliche
Verantwortung technologischer Prozesse liegt nicht selten in der Anonymität des
Geschehens. Dies hängt nicht nur mit der Eigendynamik dieses Prozesses und der
Arbeitsteilung bzw. Teamarbeit der daran Beteiligten zusammen, sondern viele
Prozesse laufen in ihrer Zwangsläufigkeit geradezu ohne eindeutig erkennbares
und Verantwortung tragendes Subjekt ab. Niemand hat mehr eine individuelle
Steuerungsmöglichkeit für das Ganze, auch wenn jeder zu seinem Teil zum
„Funktionieren“ eines Systems beiträgt. So kann auch nicht immer leicht das
beliebte „Verursacherprinzip“ angerufen werden, da sich in vielen Bereichen
konvergierende Effekte, die sich unterschwellig ergänzen, anhäufen, sich so zur
Schädlichkeit aufsummieren und einen erträglichen Schwellenwert überschreiten.
Diese Strukturen verstärken die relative Unkontrollierbarkeit und vermindern so
auch die sittliche Verantwortungsfähigkeit. Wir erleben dies besonders auch bei
Fragen der Biomedizin am Lebensbeginn und ihren ethischen Implikationen. Wir
spüren das Gewicht dieser Fragen gerade wieder sehr deutlich, z.B. beim
Klimaschutz.
Eine gewisse Chance besteht darin, dass sich eine neue ethische Betrachtung des
technisch Machbaren trotz dieser Tendenzen beinahe wie von selbst auferlegt.
„Der endgültig entfesselte Prometheus, dem die Wissenschaft nie gekannte Kräfte
und die Wirtschaft den rastlosen Antrieb gibt, ruft nach einer Ethik, die durch
freiwillige Zügel seine Macht davor zurückhält, dem Menschen zum Unheil zu
werden.“ (H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt 1985, 7)
II.
Grundlage für unsere Diskussion ist die anthropologische Herangehensweise. Wir
können medizinisch über das Leben des Menschen, seinen Beginn und sein
irdisches Ende diskutieren, wir können juristische Details klären oder
gesetzgeberische Handlungen einfordern. Entscheidend ist bei allen diesen
Perspektiven aber, von welchem Menschenbild wir ausgehen. Um so dringlicher
wird die Frage, wie man die Menschenwürde besonders als „absoluten Wert“
begründet. Manche fragen sich, wie in unserem durch und durch säkularen
Zeitalter mit abnehmender Religiosität die Menschenwürde begründet werden kann.
Im theologischen Bereich, aber auch darüber hinaus, ist man rasch bei der
Gottebenbildlichkeit des Menschen im Sinne der ersten Schöpfungsgeschichte auf
der ersten Seite der Bibel (Gen 1,26 f.). Aber man darf es sich hier nicht zu
einfach machen. Es gibt noch viele Quellen für diese Menschenwürde von der
Antike bis in die Aufklärung. Man hat sich auch im Bereich unserer Kirchen
manchmal schwer getan, allen Menschen diese Würde mit ihren Rechten
einzuräumen. Man denke z.B. an die Sklaven. Die unantastbare Menschenwürde
präzisiert sich in unverlierbaren Menschenrechten. Es geht um eine fundamentale
Rechtsgleichheit.
Aber die Frage bleibt: Wie soll diese allgemeine Menschenwürde begründet
werden? Dafür ist die Berufung auf die erste Seite der Bibel durchaus
angemessen: „Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns
ähnlich...Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf
er ihn.“ (Einheitsübersetzung), oder: „ ... ein Bild das uns gleich sei...Und
Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn.“
(Revidierte Luther-Übersetzung) oder: „Machen wir den Menschen in unserem Bild
nach unserem Gleichnis... Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, im Bilde
Gottes schuf er ihn“ (Buber-Rosenzweig).
Man muss dieses Wort sorgfältig bedenken. Der Mensch wird dabei als
Repräsentant Gottes für das Lebendige neben ihm bestimmt. Ganz deutlich werden
auch die Unterwerfung der Erde und die Herrschaft über die Tiere als
Grundaufgaben herausgestellt. Heute wissen wir, dass der Ausdruck „Bild Gottes“
in Königsaussagen verwurzelt ist und dem Menschen wirklich eine
hoheitlich-herscherliche, zentrale Stellung im Ganzen der Schöpfungswelt
zuspricht. Man darf die Worte nicht entschärfen, denn es ist wirklich ganz
konkret vom „Unterwerfen“ und „Niedertreten“ die Rede. Aber wir dürfen auch
nicht stillschweigend einen neuzeitlichen Herrschaftsbegriff benutzen, der mit
Ausbeutung identisch wäre. Denn zum Sinn des damaligen „Herrschen“ gehört nicht
minder die Fürsorge, damit die Kreaturen schöpfungsgemäß zusammenleben. Also
gehört auch Hegen und Pflegen zu diesem Dienst. Nur so ist der Mensch
Statthalter und Repräsentant Gottes, er ist nicht unumschränkter Herr. Er hat
diesen Herrschaftsbereich der Erde zu Lehen, als Auftrag, als Mitgift, die er
erhalten und bewahren soll. Dies gilt für die gesamte anvertraute Erde: für
alle Geschöpfe, ja, letztlich auch für den Mitmenschen, der in seinen schwächsten
Momenten der Fürsorge bedarf.
Der Mensch ist dadurch ausgezeichnet, dass er diese Fähigkeit zur Herrschaft
und Sorge besitzt. Sie setzt voraus, dass sich der Mensch einen Überblick über
den ihm anvertrauten Bereich und seine Möglichkeiten verschafft, die Situation
erkennt und seinen Willen durchsetzen kann. Also besteht diese Auszeichnung des
Menschen in der Vernunft, in der Urteilskraft und im Willen. Die Tradition hat
immer wieder Gottebenbildlichkeit so gedeutet, etwa Thomas von Aquin: „Der Mensch
überragt alle anderen Lebewesen durch seinen Verstand und seine Vernunft. Also
ist er Ebenbild Gottes nach seiner Vernunft und seinem Verstand.“ (S.th I,
qu.3, art. l)
Dabei ist nicht zu übersehen, dass der Text eine doppelte Bedeutung anspricht.
Der Mensch hat diese Auszeichnung des königlichen Statthalters Gottes auf
Erden. Es gehört zu seiner Ausstattung von der Schöpfung her, also zu seinem
Menschsein. Es ist aber auch ein Auftrag, der erst noch erfüllt werden muss. Er
ist also eine ethische Aufgabe, die Achtung gerade in der Wahrnehmung dieses
Schöpfungsauftrages voraussetzt. Der Mensch kann nicht auf der Erde wüten und
sie verbrauchen, wie er will. Es ist seine erste Pflicht, für die Sicherung des
Lebens der ihm unterworfenen Welt und damit für den inneren und äußeren Frieden
zu sorgen. Und dieser Auftrag gehört von Gott her zum inneren Bestand der
Schöpfung. Man muss das Wort „Würde“ beachten. Sie eignet den Menschen von der
Schöpfung her. Nicht wir verleihen sie ihm. Darum darf sie auch nicht angetastet
werden. Sonst verliert auch derjenige, der dies tut, seine eigene Würde.
Diese Einsichten beschränken sich nicht auf die Bibel und die Theologie. Sie
haben auch das Denken in anderen Bereichen angestoßen. Ich möchte in diesem
Rahmen nur auf zwei kurze Beispiele verweisen. So auf Kant, der sagt: „Was
einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes ... gesetzt werden,
was dagegen über allen Preis erhaben ist ..., das hat eine Würde. Der Mensch
und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht
bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen.“
(Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 2. Abschnitt) Über alle Wertungen und
jeden Preis erhaben, darf der Mensch niemals bloß als „Mittel“ gebraucht werden.
Nichts anderes meint Hegel, wenn er davon spricht, dass dieser Gedanke der
Person „von unendlicher Wichtigkeit“ ist (Grundlinien der Philosophie des
Rechts, § 209). Es ist also nicht so, dass die Menschenwürde nur ein
unverdauter biblischer Rest wäre, auf den man letztlich verzichten kann. Dann
sollten wir aber auch das ganze Sinnpotenzial nützen, das in der Bibel steht.
Dies ist auch der Grund, warum diese letzte Tiefe der Menschenwürde und damit
auch der Menschenrechte gegen alle Versuchungen der Menschen, sich in falscher
Weise zum Herrn des Lebens aufzuspielen, von Gott kommt, in ihm Schutz findet,
dass er aber auch Achtung verlangt. Nicht zuletzt darum beginnt auch die
Präambel unseres Grundgesetzes: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott
und den Menschen ...“
Nur so haben wir auch den rechten Geist, um angesichts der Größe des Menschen
keinem Allmachtswahn zu verfallen, sondern beides zu bewahren: das Staunen vor
seiner Größe und die Demut des Herrschens. Dies können wir nur vor Gott, denn
dieser lässt uns unverkürzt die Größe des Menschen, gewährt uns aber auch immer
wieder Vergebung, wenn wir in unserer Hybris straucheln. Erinnern wir uns an
die Worte von PS 8: „Herr unser Herrscher, wie gewaltig ist dein Name auf der
ganzen Erde; über den Himmel breitest du deine Hoheit aus. Was ist der Mensch,
dass du an ihn denkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast
ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre
gekrönt. Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände, hast
ihm alles zu Füßen gelegt.“ Dies gilt besonders für das überaus kostbare
Geschenk des Lebens in allen seinen Phasen – vom ersten Beginn bis zu seinem
natürlichen Ende. Was aber, wenn der Mensch selbst abhängig wird von anderen
Menschen; wenn die Macht des einen es ermöglicht, sich über den anderen zu
erheben, scheinbar sogar Richter über sein Leben und Sterben zu werden?
III.
Während der Dienst der Begleitung und Hilfe im Sterbeprozess über Jahrhunderte
häufig selbstverständlich von Einzelnen, von der Familie, von Nachbarn und von
der engeren Gemeinschaft geleistet wurde, ist die Bereitschaft und die
Möglichkeit dazu in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zurückgegangen. Seit
einigen Jahren wollen sich aber viele Menschen mit der Tabuisierung und
Anonymisierung von Sterben, Tod und Trauer nicht mehr abfinden. Sie bemühen
sich je an ihrem Ort um eine intensive Begleitung aller Betroffenen: in der
Familie, im Alten- und Pflegeheim, im Krankenhaus oder in der Gemeinde. Viele
von ihnen haben dabei Anregungen von der rasch wachsenden „Hospizbewegung“
erhalten. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche
Bischofskonferenz haben seit 1989 diese Bemühungen aufgegriffen, fortgesetzt
und unterstützt.
Nicht zu übersehen ist die zunehmende Zahl von Menschen, die ohne Angehörige
oder mittellos sterben. Die Zahl von allein lebenden Menschen in allen
Altersstufen steigt. Ihr Lebensweg, der auch das Sterben einschließt, gestaltet
sich außerdem anders als das gemeinsame Leben in Partnerschaft, Ehe und
Familie. Das durchschnittliche Todesalter hat sich immer mehr nach oben
verschoben. Das Sterben zu Hause im Kreis der Familie und der Angehörigen sowie
der Nachbarn ist eher selten geworden. Die Bestattungskultur bietet einen
Spiegel der verschiedenen Einstellungsänderungen zum Tod. Die Gestaltung des
Lebens bestimmt auch den Umgang mit dem Sterben. Immer wieder wird die
Forderung nach aktiver Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen) laut. In unserer
Gesellschaft werden Wohlstand, steigender Lebensstandard und Vitalität bis ins
hohe Alter hinein als programmatische Ziele verkündigt. Viele Menschen können
sich für das eigene Leben kaum mehr Entbehrungen und Grenzsituationen
vorstellen. Die eindrucksvollen Erfolge der Medizin führten zu einer zuweilen
ins Unermessliche gehenden Hoffnung auf Wiederherstellung der Gesundheit, auf
Schmerzbeseitigung oder auf ein Leben mit einem „neuen Organ“. Heute sehen
viele in einem langen und erfüllten Leben das Ziel. Manche erwarten auch von
einer Reinkarnation den Ausgleich für die erfahrenen Entbehrungen und die nicht
erfüllten Hoffnungen. Der Glaube an ein Leben nach dem Tode im Sinne einer
einmaligen personalen Vollendung (ewiges Leben) tritt eher zurück.
Gerade weil die private und soziale Tabuisierung sich als schädlich für unser
Leben erwiesen hat, werden Sterben, Tod und Trauer wieder auf neue Weise auch
in der Öffentlichkeit gesellschafts- und gesprächsfähige Themen. Dazu hat
sicher auch in gewisser Weise das öffentliche Leiden und auch Sterben von Papst
Johannes Paul II. beigetragen, das trotz des medialen Interesses doch die
Intimität und die Würde am letzten Ende bewahrt hat.
In aller Kürze möchte ich aus der Sicht des katholischen Glaubens, der hier
auch weitgehend die christlichen Kirchen im Konsens sieht, die folgenden
Grundsätze ansprechen. Sie ergeben sich aus dem bisher Gesagten und führen dies
weiter zum Konkreten.
1. Jeder Mensch möchte leben und sich im Leben voll entfalten. Wer krank ist,
stößt an Grenzen, die sich besonders in Hinfälligkeit und Hilflosigkeit, Not
und Leid, Schmerz und Elend bezeugen. Wer so krank ist, sucht Hilfe. Dieses
Angewiesensein auf Hilfe ist elementar. Die Hoffnung bezieht sich zuerst auf
die Nächsten, besonders aber auf den Arzt.
2. Die unvermeidbare natürliche Grenze des weiterhin grundsätzlich endlichen
Lebens konnte immer wieder und weiter ausgedehnt werden. Dies erzeugt eine
eigentümliche Ambivalenz in der Grenzerfahrung: Einerseits hält man –
wenigstens in der Tendenz – den medizinisch-technischen Fortschritt für fast
unbegrenzt, sodass der Tod immer stärker in die Ferne rückt oder als ein Tabu
erscheint; anderseits wird gerade angesichts der Übermacht des ausnahmslos
jeden ergreifenden Todes auch die ganze Ohnmacht des Menschen offenkundig wie
sonst kaum irgendwo.
3. Die Erfahrung der Grenze in der Krankheit und erst recht im Tod ist ein
reales Zeichen, das auf die Endlichkeit und Beschränktheit des Menschseins
hinweist. Dies kann dazu führen, dass man den Menschen als absurdes Wesen oder als
Fehlkonstruktion einschätzt. Es gibt sehr verschiedene Reaktionen darauf:
geradezu titanisches Sichaufbäumen, aber auch selbstvergessene Ergebung in das
„Schicksal“. Das Rätsel des Todes verschwindet aber auch da nicht, wo man
glaubt, alle Ansprüche des Unbedingten hinter sich lassen zu können. Darum
bleibt die Stellung zum Tod der Prüfstein jedes Menschenbildes und für jede
Anschauung vom Leben. Die Erfahrung der Grenze lässt sich nicht verleugnen,
aber auch nicht überspielen. Der menschheitsalte Kampf gegen den Tod hat in
unserer Zeit ungeahnte Möglichkeiten entwickelt und faszinierende Erfolge
erzielt. Zuletzt erweist es sich doch, dass der Tod mächtiger ist. Dies ist für
den Menschen, besonders für den Menschen von heute, schwer zu ertragen. Zugleich
wächst die Versuchung, den Vorgang des Sterbens von Außen maßgeblich zu
beeinflussen. „Wir regeln den Eintritt ins Leben, es wird Zeit, dass wir auch
den Austritt regeln.“ (Max Frisch, Tagebuch 1966-1971)
4. Der biblische Glaube versteht Endlichkeit und Grenze im Sinne der
Kreatürlichkeit. Das Geschöpf weiß, dass es nicht sein muss, aber doch ist. Die
Kreatur grenzt an das Nichts, ohne einfach nichtig zu sein. Schon durch seine
Existenz und sein Wirken hat das Geschöpf eine eigene Wirklichkeit. Aber diese
ist ihm immer schon geliehen. Das Geschöpf verkapselt sich nicht in sich
selbst. Obwohl das Geschöpf in sich selbst etwas Positives ist, ist es nicht
einfach selbstgenügsam. Es gelangt mehr zu seiner Vollkommenheit, wenn es seine
„Armut“ annimmt, alles von einem Anderen zu empfangen und sich in ihm zu
vollenden. Bezogensein auf Gott ist kein Defekt, sondern die höchste
Möglichkeit. In dem Augenblick, in dem die Kreatur diese seinsmäßige Demut
verkennt und sich absolut auf sich selbst stellt, wird sie anmaßend, weil sie
das ihr zugedachte Maß nicht annimmt. In dieser Verweigerung der Annahme
kreatürlicher Armut liegt so etwas wie die Wurzel dessen, was man Urverfehlung
und Ursünde nennt.
Dabei ist der Mensch freilich nicht in der Schicksalhaftigkeit seiner
individuellen oder kollektiven Naturausstattung gefangengesetzt, sondern er
soll auch die Vernunft gebrauchen. Darin zeichnet sich ja seine Menschenwürde
besonders aus. Er tut dies, um nicht bloß die Defekte der faktischen
menschlichen Natur zu heilen, sondern um die unvermeidbare Grenze des Lebens
erträglich zu machen. Aber diese Versuche der Überwindung der „Grenze“ dürfen
nicht insgeheim von einer Erwartung ausgehen, die aufgezeigte Kreatürlichkeit
des Menschseins könnte grundsätzlich aufgehoben werden. Es gibt hier gewiss von
der schlichten Verdrängung des Todes bis hin zu Träumen von einem Leben ohne
Altern und Sterben viele solche und ähnliche Grundeinstellungen.
5. Die Erfahrung dieser Kreatürlichkeit berührt auch das Verständnis der
„Selbstbestimmung“. Sie sollte u.a. auch das Verhältnis zwischen Arzt und
Patient, zwischen dem Kranken und dem Pflegepersonal bestimmen. Alle Partner
sind durch die Annahme des gemeinsamen Menschseins und die Erfahrung seiner
Grenzen miteinander verbunden. Dies schafft eine elementare geschwisterliche
Solidarität, die ein Stück weit unabhängig ist von der konkreten Situation des
Einzelnen, der gesund oder krank ist. So kann die Not und Hilfsbedürftigkeit
des Kranken besser Rücksicht finden, aber auch die menschliche Würde des Lebens
und Sterbens hat ein gemeinsamen Fundament, das verhindern sollte, dass der
Kranke einfach zum „Objekt“ wird, oder dass der Patient nur Leistungen fordert.
Dies sollte auch die Qualität des Vertrauens zwischen Arzt und Patient
erleichtern.
IV.
Das ganze Thema wird immer mehr vom Begriff der Autonomie bzw. der
Selbstbestimmung geleitet. Dies ist ein Signalwort für die Kennzeichnung der
Neuzeit und des modernen Denkens. Sittliches Handeln soll nicht von beliebigen
Antrieben oder externen Autoritäten, sondern von der menschlichen Freiheit und
Vernunft bestimmt sein. Kein Anspruch soll als sittlich verbindlich betrachtet
werden, der nicht von der Vernunft als solcher erkannt und anerkannt worden
ist. Der Gedanke, dass es die Einsehbarkeit durch die Vernunft ist, über die
sich alle Verbindlichkeit vermitteln muss, und dass allein diese Vermittlung
eine Norm der subjektiven Willkür und Beliebigkeit entzieht, ist der Kern des
Begriffs der Autonomie. Es ist verständlich, dass man gerade in der medizinischen
Ethik das Prinzip der Selbstbestimmung herbeiruft, um nämlich bei der
Mächtigkeit heutiger medizinischer Möglichkeiten eben die Freiheit und die
Personwürde des Menschen zu retten. Es besteht die Gefahr, die eigene
Verantwortlichkeit gegenüber dieser Übermacht einzubüßen. Das Prinzip der
Selbstbestimmung muss gerade auch von dieser Absicht her verstanden und
begriffen werden.
Es geht also darum, dass das menschliche Subjekt in Situationen des
Angewiesenseins auf die Hilfe anderer die Spielräume von eigener Entscheidung
und persönlicher Gestaltung den Trägern beruflicher Rollen, z.B. den Ärzten
oder dem Pflegepersonal, aber auch anderen Instanzen, nicht preisgibt. Durch
die hohe Vernetzungsdichte und die Komplexität eines Großteils des menschlichen
Handelns hat Selbstbestimmung heute einen hohen Stellenwert und gilt als ein
vordringliches Ziel ethischer Erziehung.
Es ist aber nicht zu übersehen, dass in diesem Begriff der Autonomie sich
einzelne Elemente miteinander verbinden, die zunächst einmal überhaupt erkannt
und sorgfältig beurteilt werden müssen. Autonomie heißt ja zunächst nicht, dass
die menschliche Vernunft und Freiheit allein die Quelle für die Maßstäbe des
Handelns ist. Autonomie und Selbstbestimmung dürfen auch nicht eine vollkommene
Autarkie vortäuschen, wie sie im Grunde nur Gott selbst zu eigen ist. Leicht
schleicht sich in diese Kategorie eine Allmachtsvorstellung des menschlichen
Subjekts ein, die auch anthropologisch unangemessen ist. Der Mensch ist z.B.
nicht ein autonomes Wesen, das in vollkommener Selbstständigkeit lebt. Bei
aller Freiheit und Selbstbestimmung ist es, gewiss verschieden in den einzelnen
Lebensphasen, auf andere verwiesen, sodass Angewiesensein auf Hilfe und
Fürsorge anderer nicht von vornherein Fremdbestimmungen sind. Auch lässt sich
die Endlichkeit eines autonomen Wesens nicht übersehen. Der Mensch besitzt sich
nicht völlig selbst. Darum ist er auch nicht einfach der Herr seines Lebens.
Dies ist ein entscheidender Grund, warum es auch keine aktive Sterbehilfe geben
kann und soll. Dies wird besonders evident, wenn man daran denkt, dass der
endliche Mensch nicht nur sterblich ist, sondern auch noch leben kann, wenn er
die aktuelle Entscheidungsmöglichkeit und auch das erkennbare Bewusstsein
verloren hat. Es ist aber kein Zweifel, dass er dabei die menschliche Würde
nicht verliert, ja darauf in besonderer Weise auch einen Anspruch hat.
Autonomie kommt also nicht nur dem gesunden, starken, entscheidungsfähigen
Menschen zu, sondern auch dem kranken, schwachen und entscheidungsunfähigen
Patienten. Aber zweifellos wird hier ein überzogenes Autonomie-Konzept auch
unfähig, auf die Situation des Patienten wirklich einzugehen. Im Grunde bietet
ein rigoroses Autonomie-Konzept für den wirklich Schwachen keinen Schutz. Es
ist dann zwar zunächst logisch folgerichtig, aber eben in einer differenzierten
Sicht doch falsch, wenn man die „Ethik der Autonomie“ ganz einer „Ethik der
Fürsorge“ unterordnet. Auch dies ist nicht unproblematisch, denn zwischen Arzt
und Patient liegt keine einseitige Asymmetrie vor, denn gerade auch der Patient
hat immer noch gewisse Rechte. So muss der Arzt beauftragt werden. Ärztliche
Fürsorge ist eine Antwort auf das Hilfsbegehren des Patienten, der sich,
solange er entscheiden kann, dem Arzt anvertraut.
In dieser Situation entstehen Wünsche und Tendenzen nach einer so genannten
Patientenverfügung. Seit Ende der 70er Jahre hat dies auch in Deutschland mehr
Aufmerksamkeit gefunden. Eine Patientenverfügung dokumentiert den Willen eines
Menschen für den Fall, dass er sich nicht mehr äußern und sein
Selbstbestimmungsrecht in Gesundheitsangelegenheiten nicht mehr wirksam ausüben
kann. Näher betrachtet ist eine Patientenverfügung ein Oberbegriff, der
sämtliche Willensbekundungen eines entscheidungsfähigen Menschen im Vorfeld
einer Erkrankung oder des Sterbens umfasst, der für den Fall
Rechtsverbindlichkeit erlangen soll, dass er aufgrund seiner Erkrankung oder
Verletzung außer Stande ist, seinen aktuellen Willen verbindlich zu
artikulieren. Man müsste also generell mehr unterscheiden zwischen einem
Patiententestament, einer Betreuungsverfügung und einer Vorsorgevollmacht.
Darauf ist später noch zurückzukommen.
V.
Hinter der Forderung nach einer aktiven Sterbehilfe steht sehr oft die
verständliche, urmenschliche Angst vor einem leidbelasteten, aussichtslos in
die Länge gezogenen oder gar medizinisch-technisch gestreckten Sterbens. Dies
muss aber nicht so sein. Es ist gewiss nicht so, dass dem Schwerkranken nur die
sinnlose Quälerei und die Auslieferung an die medizinischen Apparate im Namen
einer Lebenserhaltung um jeden Preis übrig bleiben. Die Überzeugung, dass kein
Kranker direkt und gewollt getötet werden darf, heißt ja nicht, dass der Kranke
oder der Arzt sittlich verpflichtet sind, jedwedes irgendwie erreichbares Mittel
zur Lebensverlängerung eines Sterbenden anzuwenden. Es gibt also durchaus eine
Grenze der Verpflichtung, Leben um jeden Preis zu verlängern. Die Verwendung
von schmerzstillenden Mitteln – die Medizin spricht hier von den guten
Erfahrungen einer palliativen Sedierung am Lebensende – ist darum qualitativ
etwas anderes als die Verabreichung von Mitteln, die in ihrer Wirkung die
Zielsetzung haben, das Leben zu beenden. Der qualitative ethische Unterschied
zwischen Töten oder Sterben lassen darf nicht eingeebnet werden. Entscheidend
ist der Verzicht auf eine eigenmächtige, definitive und totale Verfügung über
menschliches Leben, die z.B. über den Sinn bzw. Wert menschlichen Lebens und
über Art und Zeitpunkt des Sterbens entscheidet. Jede vorzeitige, direkte und
gewollte Beendigung des Lebens ist ein Sichvergreifen am unantastbaren Recht
des Menschen auf sein Dasein. Daran ändert auch die Forderung nichts, ein
solcher Eingriff dürfe nur mit Wissen und Willen des Schwerkranken erfolgen.
Eine unerlaubte Manipulation ist aber auch die mit allen Mitteln medikamentöser
oder technischer Art erzwungene, menschlich aber sinnlos gewordene
Lebensverlängerung. Der technisch verzögerte Tod darf nicht den Sieg über das
menschliche Sterben davontragen. Hier bewegen wir uns in einem hoch-brisanten
Raum von ethischem Anspruch und menschlichem Ermessen. Wir sehen das
Spannungsfeld zwischen der Selbstbestimmung des Patienten, dem Lebensschutz und
der Menschenwürde. Hier kommen auch die anderen Akteure ins Spiel: Die
Angehörigen, Freunde – und nicht zuletzt das pflegende Personal und die Ärzte.
Oft wird als Motiv für die aktive Sterbehilfe das Mitleid des Menschen mit dem
„sinnlos Leidenden“ angegeben. Das Mitleid, das nicht bereit ist, den Weg mit
dem Sterbenden zu gehen, kann sich freilich auch als wenig human erweisen.
Dahinter steht ein fragwürdiges Menschenbild, das möglicherweise nur vom
Fortschritt und der Vorstellung heiler Ganzheit bestimmt ist. Die
Leidensfähigkeit gehört zum Menschen. Die Palliativmedizin kann nach eigenen
Angaben nur in circa 1 Prozent der Sterbesituationen keine wirkliche Linderung
der Schmerzen erreichen. (Prof. Dr. G. L. N. Radbruch, Aachen). Die Bekämpfung
dieser Schmerzen ist heute freilich die Voraussetzung für eine menschliche
Bewältigung des Leidens. Die Nähe des Todes gibt dem Menschen – nicht
zwangsläufig und nicht in jedem Fall – eine letzte Chance: Sie stellt ihm die
Ganzheit seines Leben vor Augen und fragt ihn, ob er die Möglichkeit seines
Leben ausgelotet und auf ihre Tragfähigkeit überprüft habe. Mancher Sterbende
hat sich in dieser Stunde, die ja dank der Palliativmedizin nicht Einsicht und
Verstehen auslöscht, mit seinen Familienangehörigen ausgesöhnt, manches
Zerwürfnis abgetragen und ein neues versöhntes Verhältnis zu seiner Mitwelt gefunden.
Wahres Mit-leid geht einen solchen Weg geschwisterlich mit, trägt einen solchen
Prozess des Sterbens mit und leidet die Reinigung eines menschlichen Lebens mit
aus. Es wäre unmenschlich, diese menschliche Möglichkeit ganz zu verhindern.
Diese Überlegungen setzen natürlich menschlich eine gründliche Besinnung über
den Schmerz und das Leiden in seiner Bedeutung für den Menschen voraus. Das ist
bei den bisher angesprochenen Fällen nur bei der Fähigkeit des Patienten zur
aktuellen Willensäußerung möglich. Problematisch wird es allerdings im Fall
eines Bewusstseinsverlustes, etwa im Fall des Wachkomas, bei Patienten mit
einer fortschreitenden Demenzerkrankung oder auch bei wiederholten
Schlaganfällen mit der Folge der Unfähigkeit zur Artikulation des eigenen
Willens.
VI.
So ist es, insgesamt und zusammenfassend betrachtet, sinnvoll und verständlich,
warum Patientenverfügungen angesichts eines im Wandel begriffenen
Arzt-Patient-Verhältnisses sinnvoll sind. Manche sprechen geradezu von einem
Erfordernis. Der Patient will verstanden werden, er will die kommunikative
Verbindung zu einem Arzt, gerade auch seinem Arzt, auch dann erhalten wissen,
wenn er sich ihm aktuell nicht mehr mitteilen kann. Ein Weg, um dieses Ziel im
Falle krankheits- und/oder altersbedingter Entscheidungsfähigkeit im Sinne des
Patienten zu sichern, liegt in der so genannten Patientenverfügung.
Nun gibt es im Laufe der Zeit sehr viele Entwürfe und Formulare für
Patientenverfügungen, die sich in Form, Inhalt und Ausführlichkeit erheblich
unterscheiden. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur auf die „Christliche
Patientenverfügung“ der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der
Evangelischen Kirche in Deutschland in Verbindung mit den übrigen Mitglieds-
und Gastkirchen der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland
eingehen, die 1999 in erster Auflage und 2003 in einer überarbeiteten Fassung
vorliegt.
Im Wesentlichen geht es dabei um folgende Orientierungen, die sich auf die
Sterbesituation beziehen. Ich zitiere: „Für den Fall, dass ich meinen Willen
nicht mehr bilden oder äußern kann, verfüge ich: an mir sollen keine
lebensverlängernden Maßnahmen vorgenommen werden, wenn nach bestem ärztlichen
Wissen und Gewissen festgestellt wird, dass jede lebenserhaltende Maßnahme ohne
Aussicht auf Besserung ist und mein Sterben nur verlängern würde.“ Diese
Verfügung kommt also nicht zum Tragen, wenn der Tod nicht unmittelbar
bevorsteht, z.B. bei anhaltendem Koma oder bei fortgeschrittener
Demenzerkrankung. Die Kirchen wollten nicht das Leben von Koma-Patienten oder
anderweitig eingeschränkten Menschen generell als lebensunwert darstellen. Es
sollte das Missverständnis abgewehrt werden, als gäbe es pauschal zu benennende
Situationen vor dem Sterbeprozess, in denen etwa ein Menschenleben aus der
Perspektive Dritter und generell als nicht mehr erhaltenswert erklärt werden
könnte.
In der zweiten Auflage ist Platz für eigene Formulierungen geschaffen, um Raum
zu geben, damit Menschen für solche Krankheiten, die als solche nicht
unmittelbar zum Tode führen, ihren Willen zur medizinischen Behandlung erklären
können. Damit sind vor allem Patienten gemeint, die sich noch nicht in der
Sterbephase befinden, bei denen aber ein „irreversibles tödliches Grundleiden“
besteht. Dieses führt trotz einer medizinischen Behandlung unumkehrbar zu einem
unbestimmten Zeitpunkt zum Tode. Dafür gibt es eigens Erläuterungen, auf die
ich verweisen muss.
Dies ist freilich ein Problem. Wir bewegen uns hier immer noch in einer
gewissen Rechtsunsicherheit, in einem nicht juristisch und gesetzlich
abschließend geregelten Raum: Die Bundesjustizministerin Brigitte Zypries hat
am 10. Juni 2004 Ergebnisse einer Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am
Lebensende“ vorgestellt, die von ihr im September des vorangegangenen Jahres eingesetzt
worden war. Die Arbeitsgruppe hatte die Aufgabe, die Verbindlichkeit und
Reichweite von Patientenverfügungen zu überprüfen, wichtige Bausteine für die
Erstellung von Patientenverfügungen zu benennen und Vorschläge zu machen, in
welchem Umfang gesetzliche Regelungen die Patientenautonomie befördern könnten.
Im Herbst 2004 hatte das Bundesjustizministerium einen Referentenentwurf zum 3.
Betreuungsrechtsänderungsgesetz vorgelegt, zu dem bis 31. Januar 2005
Stellungnahmen abgegeben werden konnten. Die Deutsche Bischofskonferenz und die
EKD haben ausführliche Stellungnahmen erarbeitet. Nach der Bildung der
Koalition hat die Bundesregierung in vielen Bemühungen an einem neuen Entwurf
weitergearbeitet, der wohl auch jetzt unter den Regierungsparteien abgestimmt
ist und der wohl bald in die parlamentarische Diskussion eingebracht werden
wird.
Gerade in letzter Zeit häufen sich die Äußerungen wichtiger Gremien. So hat der
Nationale Ethikrat eine umfangreichere Erklärung „Selbstbestimmung und Fürsorge
am Lebensende“ am 13. Juli 2006 veröffentlicht (vgl. unsere Stellungnahme vom
13. Juli 2006). Nun kommen die Beschlüsse des Deutschen Juristentags der
vergangenen Woche hinzu. Diese Äußerungen werden insgesamt gewiss, zusammen mit
der Position der Bundesärztekammer, stark auf die Diskussion der unmittelbaren
Zukunft einwirken. Auf einige Aspekte komme ich am Ende zurück.
Patientenverfügungen können eine große Hilfe für die Angehörigen, für
Betreuende sowie die Ärztinnen und Ärzte sein. Dabei ist auch eine weitere
Aufklärung über die Möglichkeiten menschlicher und medizinischer Hilfe sowie
über die Formen von ethisch und rechtlich erlaubter ärztlicher Sterbebegleitung
sinnvoll und geboten. Nicht jeder einmal – selbst schriftlich – geäußerte Wille
zur Behandlung im Krankheitsfall ermisst die volle Tragweite der Entscheidung.
Der Wille, der niedergeschrieben ist, muss nicht identisch sein mit einem
tatsächlichen Willen beim Eintreten des Ernstfalles, der zudem bisweilen Jahre
später erst konkret werden kann. Problematisch wird es auch hier bei der
angesprochenen Phase, in der sich der Patient nicht mehr selbst äußern kann.
Was ist der mutmaßliche Wille? Wir brauchen rechtliche Klarheit – nicht zuletzt
mit Blick auf die verantwortlichen Ärzte und das Pflegepersonal. Wir müssen uns
aber davor hüten, das menschliche Leben weiter zu bürokratisieren und gerade in
der letzten Phase seines Lebens die üblichen und vernünftigen Herangehensweisen
durch eine unangemessene Juridizierung zu ersetzen.
Ich möchte daher an einige Grundsätze erinnern, von denen sich die Kirchen bei
der Frage der Sterbebegleitung leiten lassen. Mit den Ärzten und Ärztinnen in
Deutschland wissen sich die Kirchen einig in der Sorge um eine menschenwürdige
Sterbebegleitung. Die erst vor kurzem überarbeiteten und im Mai 2004
veröffentlichten Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen
Sterbebegleitung sprechen sich für Leidminderung, Zuwendung und Fürsorge aus
und erteilen jeder Form von so genannter aktiver Sterbehilfe, die ja Tötung
ist, eine klare Absage. Dies ist gleichzeitig eine deutliche Ablehnung jeder
Form von Annäherung an Euthanasie-Regelungen, die in manchen unserer
Nachbarländer als geltendes Recht eingeführt wurden. Das Tötungsverbot, also
die Unantastbarkeit des Lebens eines anderen Menschen, steht auch einer Tötung
auf Verlangen und der Beihilfe zum Suizid strikt entgegen. Ein Patient, der bei
vollem Bewusstsein ist, kann und darf medizinische Eingriffe an sich
verweigern. Es ist ihm jedoch nicht erlaubt, bestimmte medizinische Handlungen
zu verlangen, etwa die Gabe von Medikamenten, die den Tod herbei führen.
Schwerstkranke und sterbende Menschen dürfen in keinerlei Hinsicht unter Druck
gesetzt werden oder den Eindruck gewinnen, dass man sich ihrer entledigen
wolle. Sie sollen sich gerade in den schwächsten Phasen ihres Lebens gewiss
sein dürfen, dass sie als Person wertvoll bleiben und Unterstützung erhalten.
Selbstbestimmte Vorsorge von Patienten und die Achtung der Wünsche und
Vorstellungen der konkreten Person können ihren Niederschlag in
Patientenverfügungen finden. Wenn gerade in einer der schwächsten Phasen des
Lebens – an seinem Ende – die Selbstbestimmung durch Fremdbestimmung
konfrontiert ist, so soll die Patientenverfügung doch das Mindestmaß an
Mitbestimmung ermöglichen, das zu einem menschenwürdigen Sterben erforderlich
ist. Hier sind Patienten, Ärzte, Angehörige und Pflegepersonal gleichermaßen
gefordert. Ich möchte hier aber auch an die Klinikseelsorge erinnern, der hier
gewiss eine wichtige Rolle zukommt.
Wenn wir die unbedingte Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens auch und
gerade am Lebensende einfordern, sind wir uns durchaus bewusst, dass der
Rückgriff auf die Würde des Menschen heute in der Gefahr steht, geradezu
inflationär gebraucht zu werden. Vielen kommt der Begriff Menschenwürde wie
eine leere Hülse oder ein ungedeckter Scheck vor. Selbst in der Fachdiskussion
unter Verfassungsrechtlern wird die unbedingte Geltung der Menschenwürde in
Frage gestellt. Deshalb tun alle, die von der Würde des Menschen sprechen, gut
daran, zu erläutern, was sie damit meinen. Ich habe dies oben im Blick auf die
Kreatürlichkeit des Menschen und seine Ebenbildlichkeit Gottes versucht.
Wir legen bei unserer Rede von der Menschenwürde ausdrücklich Wert auf die
grundlegende und unverzichtbare Feststellung, dass die Würde dem Menschen als
Mensch zukommt, unabhängig von jeder äußeren Situation. Es geht nicht um die
Frage, wie viel Würde ein Mensch ausstrahlt. Es geht auch nicht um die Frage,
wie würdig und „lebenswert“ das Leben eines Menschen noch für andere erscheint.
Die Würde eines Menschen ist einer Taxierung nicht zugänglich. Sie kann nicht
bemessen werden. Die Menschenwürde ist unantastbar und bedeutet einen
unbedingten Anspruch auf Achtung und Schutz. Dieser Geltungsanspruch liegt jeder
positiven staatlichen Gesetzgebung voraus. Wer ihn aufgibt, kann die Dynamik
nicht mehr aufhalten, durch welche die Würde des Menschen mehr und mehr
eingeschränkt wird. Sie gerät dann zusehends unter die Verfügungsgewalt
herrschender gesellschaftlicher Meinungen. Dies hat nichts mit einer
„Dammbruch-Rhetorik“ zu tun, wie manche meinen. Wer die Diskussion auf
verschiedenen Ebenen verfolgt, sieht deutlich, dass die Gefahr eines Dammbruchs
ausgesprochen real ist.
Wenn wir von der Würde des Menschen am Ende seines Lebens sprechen, geht es um
die Frage: Wie können dem je einzelnen Menschen bis zum Ende seines Lebens und
im Sterben die Achtung und der Schutz zuteil werden, die seiner Würde
entsprechen? Diese Frage lässt sich nicht auf die Tage oder Stunden des
Sterbens eines Menschen beschränken. Sie ist eng damit verbunden, wie wir als
einzelne Menschen und als Gesellschaft insgesamt mit der Vergänglichkeit und
Gebrechlichkeit menschlichen Lebens umgehen. Evangelische und katholische
Kirchen haben sich dazu in den letzten Jahren immer wieder gemeinsam und
einzeln geäußert. So sei zum Beispiel hingewiesen auf die gemeinsame Erklärung
„Gott ist ein Freund des Lebens“ (1989), auf die gemeinsame Textsammlung
„Sterbebegleitung statt aktiver Sterbehilfe“ (2003) und auf entsprechende
Erklärungen der deutschen Bischöfe, zusammengefasst in „Die deutschen Bischöfe
Nr. 47“.
Der Jugendkult einer Spaß- und Erlebnisgesellschaft erschwert eine
Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit des Lebens und mit dem eigenen Tod.
Wir setzen ihm eine „Kultur des ganzen Menschen“ entgegen: eine Kultur, die die
eigene Bedeutung jedes Lebensalters sieht und auch die Würde eines
gebrechlichen Menschen im Blick behält. Menschen, die am Ende ihres Lebens
stehen, dürfen nicht als „Auslaufmodelle“ und „Altlasten“ beiseite geschoben
werden. Das Sterben soll nicht verdrängt und tabuisiert werden. Auch die letzte
Phase des menschlichen Lebens ist als bedeutsame Lebenszeit zu sehen.
Gesetzliche Regelungen und gesellschaftliche Konventionen, die einer aktiven
Sterbehilfe den Weg ebnen, sind ein Irrweg, den wir entschieden ablehnen. Eine
solche Praxis kann die von ihr zuweilen erhoffte Förderung der Humanität nicht
erbringen. Vielmehr setzt sie alte, behinderte, schwerstkranke und sterbende
Menschen unter einen enormen Druck, der Gesellschaft nicht zur Last zu fallen
und sich deren Forderungen zu beugen. Angebliche Freiwilligkeit und faktischer
Zwang lassen sich in einer solchen Praxis kaum mehr trennen. Die Erfahrungen
aus Belgien und den Niederlanden sprechen eine deutliche Sprache: Der Sprecher
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in der Enquetekommission „Ethik und Recht der
modernen Medizin“ des Deutschen Bundestags, Thomas Rachel, spricht von etwa
3000 Menschen jährlich, die dort auf Verlangen aktive Sterbehilfe durch Ärzte
erhalten. Bei ungefähr 1000 Patienten werde aktive Sterbehilfe durchgeführt,
ohne dass sie darum gebeten hätten. Nur etwa die Hälfte der Fälle werde den
Aufsichtsbehörden gemeldet. Diese Zahlen sind alarmierend.
Die Angst vieler Menschen vor einem schmerzhaften, qualvollen und einsamen
Sterben nehmen wir sehr ernst. Diese Angst lässt viele Menschen nach „aktiver
Sterbehilfe“ fragen. Insbesondere wenn in Umfragen im Zusammenhang mit einem
leidvollen Lebensende nach der Akzeptanz einer „aktiven Sterbehilfe“ gefragt
wird, sprechen sich in Deutschland 70 % der Befragten für diese Möglichkeit aus
(Allensbach-Umfrage 2001). Wird jedoch in der Fragestellung die Alternative
zwischen „aktiver Sterbehilfe“ einerseits und Schmerztherapie und Hospizarbeit
anderseits angesprochen, sinkt die Akzeptanz auf – immerhin noch – 35,4 %. Bei
Frauen ist diese Akzeptanz deutlich geringer als bei Männern (Zahlen der
Deutschen Hospizstiftung). Bei aller Vorsicht ist die Tendenz deutlich
erkennbar: Je weniger sich Menschen vor einem qualvollen Sterben fürchten
müssen, desto weniger drängen sie auf eine aktive Tötung Sterbender. Zu einem
achtungsvollen Umgang mit Sterbenden gehören unabdingbar persönliche Begleitung
und Betreuung, respektvolle Pflege, aber auch eine medizinische Versorgung, die
Schmerzen lindert und den Prozess des Sterbens begleitet, ohne ihn in unnötiger
Weise zu verlängern.
Die Palliativmedizin hat sich in den letzten Jahren als wichtiges Instrument
der medizinischen Betreuung Schwerstkranker und Sterbender etabliert. Die
Erkenntnisse in diesem Bereich ermöglichen heute ein ausgesprochen
individuelles Eingehen auf die jeweilige Situation eines im Sterben liegenden
Menschen. So ist eine medizinische Betreuung möglich, die tatsächlich eine
erhebliche Linderung von Schmerzen und Qualen bedeutet, ohne jedoch – auch im
Endstadium – selbst den Tod herbei führen zu dürfen. Die Herausbildung eines
eigenen Profils von „Palliative-Care“ spiegelt diese Entwicklung in
Wissenschaft und Praxis der Pflege wider. Es bleibt eine Herausforderung, diese
Versorgung der Bevölkerung mit palliativpflegerischer und
palliativmedizinischer Betreuung gerade am Lebensende in unserem Land
auszubauen und zu fördern. Nachdrücklich begrüßen wir die Entfaltung und immer
breitere Umsetzung der Hospizidee. Viele Menschen engagieren sich hier im Sinn
einer „Kultur des ganzen Menschen“.
Ob in der Hospizarbeit, in der Klinik, in ambulanter oder stationärer Pflege,
im Besuchsdienst oder in der Familie – alle, die Menschen in ihrem Sterben
achtsam begleiten, leisten einen unersetzlichen Dienst an der Würde des
Menschen. Dies ist unter anderem Ziel der ökumenischen „Woche für das Leben“,
die jeweils im Mai jährlich wechselnde Themenschwerpunkte aus dem Bereich des
menschlichen Lebens in allen seinen Phasen vom Beginn bis zum Ende aufgreift.
2004 haben wir das Lebensende besonders in den Blick gerückt. Wir rufen dazu
auf, die Begleiterinnen und Begleiter Sterbender in ihrer schweren und oft
belastenden Aufgabe nicht allein zu lassen. Sie sollen spüren können, dass ihr
Dienst nicht nur den Sterbenden, sondern auch den Lebenden wertvoll ist.
Gefragt sind Angebote der Begleitung und Beratung, aber auch spirituelle
Angebote, die ein Gespür dafür vermitteln, dass das letzte Weggeleit Sterbender
in Gottes Hand gelegt werden darf. Viele Pfarrgemeinden und Gruppen leisten
hier mit ihren Besucherdiensten Vorbildliches.
Und noch ein Letztes möchte ich zumindest kurz erwähnen. Es gehört unbedingt in
diesen Themenbereich: Die Würde des Menschen drückt sich auch in unserer
Abschieds- und Erinnerungskultur aus. Begräbnisformen, Rituale und Symbole
können der Trauer der Angehörigen, dem radikalen Ernst des Todes und dem
persönlichen Gedenken des verstorbenen Menschen einen angemessenen Ausdruck
verleihen. Wenn sie dies nicht tun, bleiben sie hinter dem Anspruch zurück, den
die Würde des Menschen auch über den Tod hinaus erhebt. Für uns Christen
verbindet sich in der Bestattungskultur die Trauer mit der Hoffnung: Trauer
über den Abschied von einer unersetzbaren Person und Hoffnung auf ein Leben in
Gottes allumfassender Liebe, die den Tod überwindet. Eine christliche
Bestattungs-, Trauer- und Erinnerungskultur ist daher deutlicher und
unverwechselbarer Ausdruck christlicher Auferstehungshoffnung. Sie gehört zum
Leben und Sterben dazu. Nur in dieser umfassenden Sicht können wir dem Menschen
in seiner Würde letztlich gerecht werden.
Es gibt hier schwerwiegende Probleme, die nicht ausdiskutiert sind und die noch
der weiteren Diskussion bedürfen. Diese ist im Lauf der letzten Zeit von sehr
verschiedener Seite außerordentlich differenziert geführt worden. Es ist
unmöglich, den Positionen in einem einzelnen Referate gerecht zu werden. Dies
ist auch nicht notwendig, da vielfach darüber in diesem Forum Intensivmedizin berichtet
und diskutiert wird. Ich will aber wenigstens die Probleme nennen, um die es
geht, die freilich in einem eigenen Vortrag nochmals entfaltet werden müssten:
-Verbindlichkeit von Patientenverfügungen (unsere Position: Sie sind kein
volles Surrogat einer aktuellen Willensäußerung, jedoch ein wesentlicher
Anhaltspunkt für die Ermittlung des Patientenwillens durch den Betreuer oder
Bevollmächtigten). Patientenverfügungen sollen durchaus verbindlich sein. Man
sollte aber ihren Indizcharakter nicht unterschlagen. Es gibt gewiss Fälle, wo
sie keine volle Bindungswirkung haben.
-Reichweite von Patientenverfügungen (unsere Position: Wir sind für die
Einschränkung der Reichweite von Patientenverfügungen, und zwar auf zum Tode
führende Erkrankungen in dem schon früher dargelegten Sinn.).
-Behandlungsabbruch bei Wachkoma-Patienten (unsere Position: Lebenserhaltende
Maßnahmen dürfen bei Wachkoma-Patienten nicht eingestellt werden;
Wachkoma-Patienten sind Lebende. Die künstliche Ernährung zählt für uns zur
Basisversorgung, die immer zu gewährleisten ist; es ist kein medizinischer
Eingriff, dessen Abbruch verfügt werden darf).
-Schriftform (unsere Position: Wir empfehlen die Schriftform von
Patientenverfügungen, würden sie aber nicht in jedem Fall strikt vorschreiben).
-Vormundschaftsgerichtliche Genehmigung: Man kann für oder gegen die
Einschaltung des Vormundschaftsgerichts votieren. Es gibt durchaus Gründe für
die Erfordernis einer Genehmigung. Das Gericht muss besonders prüfen, ob dem
Willen des Betroffenen durch die Entscheidung des Betreuers oder
Bevollmächtigten entsprochen wird. Insofern schützt es die Selbstbestimmung des
Patienten gegen Irrtum und Missbrauch.
-Auf eine Thematik, die auch nicht Gegenstand dieses Referates ist, will ich
hier nicht ausführlicher zurückkommen. Sie spielt im schon genannten Text des
Nationalen Ethikrates „Selbstbestimmung Fürsorge am Lebensende“ und auch bei
den Beschlüssen des Deutschen Juristentages eine Rolle. Es geht um die
Mitwirkung von Ärzten bei der Selbsttötung. Hier scheinen mir beide
Stellungnahmen weit zu gehen, wenn z.B. künftig „in Kenntnis der
Freiverantwortlichkeit einer Selbsttötung diese nicht verhindert und eine
nachträgliche Rettung unterlassen wird“, nicht strafbar werden soll. Ich habe
grundsätzliche Zweifel an einer Formulierung wie „Freiverantwortlichkeit einer
Selbsttötung“. Ich habe Zweifel, ob man dem Arzt einen Dienst erweist, wenn man
einen ärztlich assistierten Suizid zulässt, der nicht mehr missbilligt wird.
Damit sind schwierige Fragen berührt, die wohl noch keine Lösung gefunden
haben. Ich habe aber die gemeinsamen Aussagen beider Kirchen skizziert. Es
bleiben schwierige Fragen. Ich will nur das Verhalten in den
Wachkoma-Patienten-Einrichtungen nennen, die ich, soweit sie im Bistum Mainz
liegen, gelegentlich wieder besuche. Dabei muss ich immer wieder mit großer
Dankbarkeit feststellen, in welch hohem Maß Frauen und Männer in diesen
Stationen einen überaus eindrucksvollen Einsatz für das Leben, eben im
Zweifelsfall für das Leben, leisten, den sie durchaus auch als Dienst im Namen
der Kirche verstehen. Wir dürfen diesen Dienst, wenn wir den Lebensschutz ernst
nehmen, nicht aufgeben. Dafür müssen wir auch die Medizin und die Ärzte bitten,
diesem Bereich den vollen Lebensschutz angedeihen zu lassen. Dies gilt aber
auch analog für die Kassen, damit sie diesen höchst eindrucksvollen Einsatz für
das Leben auch in Zukunft nicht gefährden. Es kommt nämlich auf die
Rahmenbedingungen an, unter denen wir auch stehen. Eine Krankenschwester in
unserer Giessener Wachkoma-Patienten-Station sagte mir beim Abschied, als ich
ihr für die bereits neunjährige Tätigkeit bei den Wachkoma-Patienten dankte:
„Ich kann ja gar nicht anders, ich liebe sie alle, wie sie sind.“ Jeder, der an
dieser Stelle Verantwortung trägt und den Lebensschutz für diese Kranken –
nicht selten sind es unschuldige Opfer von Verkehrsunfällen – einschränken
möchte, sollte erst einmal solche Einrichtungen besuchen. Dann wird er, wenn er
es ernsthaft will, nachher anders denken.
Ich bin überzeugt, dass wir die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen
brauchen, wenn auch stärker im Sinne eines Indizcharakters. Wenn wir keine
differenzierte Sterbebegleitung verbindlich verankern, werden wir die
Zustimmung zu Formen „aktiver Sterbebeihilfe“ kaum eindämmen können. Aber mit
derselben Klarheit muss auch unmissverständlich unterschieden werden zwischen
solchen Handlungen, die den Tod aktiv herbeiführen und deshalb ethisch
entschieden abzulehnen sind, und solchen, die dem Sterbenden bei einem
menschenwürdigen Sterben beistehen, ohne den Tod in irgendeiner Weise
herbeizuführen.
Die ganze Diskussion zeigt uns erneut wieder, wie wahr die alte Weisheit ist,
dass jeder Mensch seinen Tod stirbt. Deswegen gibt es bei aller Notwendigkeit
von Rahmenvorschriften auch nicht die Möglichkeit, alles bis in die letzten
Einzelheiten rechtlich festzulegen. Es ist gut, wenn der Betroffene in einer
bedrohlichen Situation seines Lebens selbst sich Gedanken gemacht und sich
entsprechend geäußert hat. Aber ich denke, dass es immer wieder altehrwürdiger
Tugenden bedarf, um diese menschliche Situation zu mildern. Es braucht die
Zusammenarbeit und das Zusammenspiel aller Menschen in der Umgebung eines
Schwerstkranken. Dazu gehören die Ärzte und die Pflegekräfte, die Angehörigen
und die Freunde, die Seelsorger und die Psychologen. Dabei muss wirklich eine
menschliche „Compassion“ vorherrschen, ein Betroffensein vom Leiden eines
Menschen. Schließlich wird man, besonders im Blick auf den Arzt, nie das
Vertrauen verlieren dürfen, das er in seinen Möglichkeiten so entscheidet, wie
es für das Wohl des Menschen am besten ist. Alle notwendigen papierenen Normen
können dieses Vertrauen und seine Einlösung nie ersetzen.
Mit freundlicher Genehmigung von: http://www.dbk.de
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