Erschienen in Ausgabe: No 86 (04/2013) | Letzte Änderung: 04.04.13 |
von Ingomar Kloos
ΕΥΡΗΚΑ![1] Wie die
reinen Verstandesbegriffe in Kants metaphysischer
Deduktion[2] „entspringen“.
Vorbemerkung
Bereits
zu Beginn meines Studiums der Philosophie Kants und der intensiveren
Beschäftigung mit der Kritik der reinen
Vernunft (KrV)[3] erschien mir die
metaphysische Deduktion der reinen Verstandesbegriffe von ungeheurer
Wichtigkeit, als darin der Ursprung und die Grundlage einer kritischen
Ontologie auszumachen sei, die mit der hinzukommenden transzendentalen
Deduktion Gegenstandserkenntnis überhaupt konsti-tuiere. Nur schien mir noch
eine in der Kantliteratur zuweilen behauptete „Lücke“ zwischen der Tafel der
„logischen Funktion des Verstandes in Urteilen“ (Überschrift § 9) und der
„Tafel der Kategorien“ (B 106)[4]
ausfindig zu machen und womöglich auszufüllen nötig, soweit Kant sich einer
Darstellung des Vollzugs der metaphysischen Deduktion im einzelnen enthalten
habe.[5] Kant
erstelle (so scheint es) seine Kategorientafel, indem er aus den Momenten der
(sog.) Urteilstafel gegenständlich gerichtete Begriffe den vier Titeln der
Kategorientafel zuordnet. Das Argument, welches zur Auffindung der jeweiligen
Verstandesbegriffe geführt hat, scheint relativ undurchsichtig und wenigstens
auf den ersten Blick lückenhaft. So gehe die Kategorientafel auf die Urteilstafel
zurück, von dieser werde aber nur behauptet, daß sie die einheitsstiftenden
Denkhandlungen systematisie-re, die der Verstand im Urteil ausführe. Die
Details der Urteilstafel würden augenschein-lich nicht weiter begründet, ebenso
nicht das „Entspringen“ der Kategorien aus den in der Urteilstafel
aufgelisteten Funktionen des Denkens, wie sie beim Urteilen vorkommen.
Anläßlich
eines von mir veranstalteten Lektürekurses der KrV erlangte ich aus einer
erneuten Beschäftigung mit dem Thema eine genauere Sicht und bessere
Einsichten, die im wesentlichen mit folgenden Thesen benannt werden können:
1)
(gilt für die transzendentale Logik im Allgemeinen) Kant hat entgegen häufig in
der Kantliteratur geäußerter Meinungen mit seiner transzendentalen Logik keine
Reform der traditionellen Logik vorgenommen (diese sei ihren „sicheren Gang
schon von den ältesten Zeiten her gegangen“ und scheint „geschlossen und
vollendet zu sein“ (KrV, Vorrede zur 2. Auflage, B VIII)), sondern erweitert
diese im Interesse einer „Erkenntnis a priori“ (B 81), die „Gegenstände völlig
a priori“ denkt und „den Ursprung, den Umfang und die objektive Gültigkeit
solcher Erkenntnisse bestimmte“ (B 82).
2)
Kant verwendet in keiner Auflage der KrV den Ausdruck Urteilstafel; dieser kommt lediglich in den Prolegomena[6] in
abgewandelter Form (§ 21, „Logische Tafel der Urtheile“) vor.
3)
Kant beabsichtigt mit der sog. Urteilstafel nicht eine Zusammenstellung von
Urteils-formen aus dem Formallogischen (weder eine Sammlung formalisierter
Urteilspraxis noch eine Sammlung von empirisch aufgegriffenen
Lehrbuch-Urteilen), sondern, wenn er die einzelnen und unendlichen Urteile
einfügt, eine „transzendentale Tafel aller Momente des Denkens in den Urteilen“
(B 98).
4)
Die Kategorien leitet Kant nicht aus der sog. Urteilstafel her, sondern die
darin zugrundeliegenden Denkfunktionen dienen als Leitfaden, die
einheitsstiftende Synthesis-handlung„auf den Begriff“ (B 103) zu bringen.
5)
Entgegen verschiedener Kantkritik finden sich Beispiele der Herleitung (genauer:
Entsprechung) der Kategorien aus den Denkfunktionen in Urteilen: z.B. B 96
(allgemeines Urteil und Kategorie der Einheit); B 98 (unendliches Urteil und
Kategorie der Beschränkung (Limitation); siehe auch Jäsche-Logik[7], AA
09: 104); B 111/112 (disjunktives Urteil und Kategorie der Gemeinschaft; siehe
auch AA 09: 106).
6)
Die vier Titel der Kategorientafel sind ihrerseits keine Kategorien (anders in
der Kategorienaufzählung des Aristoteles), sondern nur die jeweils drei unter
den Titeln aufgeführten Begriffe, und zwar deshalb, weil die Titel Quantität,
Qualität, Relation und Modalität zur Bestimmung von Gegenständen zu unbestimmt
sind; sie sind die Klassenbegriffe (B 110) der Kategorien.
7)
Kant hat die Vollständigkeit der Denkfunktionen in Urteilen und in den reinen
Verstan-desbegriffen, wie sie in den beiden Tafeln aufgeführt sind, behauptet
und vorausgesetzt (z.B.: B 27, 89, 92, 94, 96, 106, 109, Prolegomena (AA 04:
302, 323 f., 325 u.w.m.). Für die Vollständigkeit spricht die Systematik der
Tafeln und (für die Kategorien) die systematische Herleitung (Leitfadenprinzip:
B 92[8];
104).
8)
Die Behauptung, Kant habe die Kategorientafel bereits im wesentlichen erstellt
gehabt, bevor er die Ableitbarkeit der reinen Verstandesbegriffe aus den
Verstandes-funktionen, wie sie in Urteilen greifbar sind, entdeckte, läßt sich
mit § 8 der Inaugural-dissertation von 1770[9]
erschüttern, worin die Idee einer metaphysischen Deduktion bereits vorhanden
ist.
Mithilfe
der gewonnenen Einsichten soll nun Kants metaphysische
Kategoriendeduktion (möglichst) leicht faßlich und strikt am Text
dargestellt werden.
1.Wie gelangt Kant zu der „transzendentalen Tafel aller
Momente des Denkens in den Urteilen“?
Der
systematischen Ordnung der Funktionen des Verstandes[10]
liegen die Überlegungs-schritte zugrunde:
I.Verstand ist das
Vermögen zu denken.
II.Denken ist
Erkenntnis durch Begriffe. Diese beruhen
III.auf Funktionen,
d.i. „die Einheit der Handlungen, verschiedene Vorstellungen unter einer
gemeinschaftlichen zu ordnen“ (B 93).
Gefunden
werden mußte ein Prinzip, „nach welchem der Verstand völlig ausgemessen und
alle Functionen desselben, daraus seine reine Begriffe entspringen, vollzählig
und mit Präcision bestimmt werden könnten“ (AA 04: 323). Kant versucht nicht,
aus dem Wesen der Synthesis[11], die
Erkenntnis erst hervorbringt (B 103), die Kategorien herauszulesen, sondern sah
sich „nach einer Verstandeshandlung um, die alle übrige enthält und sich nur
durch verschiedene Modificationen oder Momente unterscheidet, das Mannigfaltige
der Vorstellung unter die Einheit des Denkens überhaupt zu bringen“; „diese
Verstandeshandlung bestehe im Urtheilen“ (AA 04: 323). So ergeben sich die
weiteren Denkschritte:
IV.Erkenntnis durch
Begriffe (Schritt 2.) erfolgt mittels eines Urteils, so daß
V.alle Handlungen
des Verstandes auf Urteile zurückgeführt werden können (B 94).
Urteilen
vollzieht sich als Prädikation, die „auf irgend eine Vorstellung von einem noch
unbestimmten Gegenstande“ (B 94) bezogen ist. Die Struktur des Urteils ist eine
Subjekt- Prädikatverbindung (S - P), die eine Bestimmungsrelation[12] ist, in der der
Subjektsbegriff (der zu bestimmende, der für den Gegenstand steht) durch den
(wie auch immer komplexen, sogar aus Urteilen gebildeten) Prädikatsbegriff (der
bestimmende Begriff) Bestimmtheit bekommt. Kants Urteil ist genau besehen
dreigliedrig: Subjekt - Prädikat - Gegenstand (S – P – x)[13],
d.h., was das Prädikat (P) über den Gegenstand (x)[14], auf
den das Subjekt (S) bezogen ist und ihn repräsentiert, aussagt. Die Neuerung
gegenüber bis dahin gängigen Urteilslehren besteht also in der funktionalen
Auffassung des Urteils. Die Synthese ist nicht nur ein Denkverfahren, sondern
die Binnenstruktur eines Urteils, in dem Subjekt und Prädikat funktional
unterschieden sind. Die analytischen Urteile haben (nebenbei bemerkt) ihre
Bedeutung verloren, als sie im strengen Sinne keine Urteile sind (P gibt dem S
an Bestimmtheit nichts hinzu).
Kant
bestimmt Urteile als gedachte „Verbindung, mithin Einheit gegebener Begriffe“
(B 131) und definiert sie „als die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu
bringen“ (B 141); so auch in der Jäsche-Logik: „Ein Urtheil ist die Vorstellung
der Einheit des Bewußtseins verschiedener Vorstellungen oder die Vorstellung
des Verhältnisses derselben, sofern sie einen Begriff ausmachen“ (AA 09: 101).
VI.Die Funktionen
des Verstandes können gefunden werden, wenn man die Funktionen der Einheit in
den Urteilen vollständig darstellen kann (B 94).
Zur
Darstellung dieser Verstandesfunktionen als Einheitsfunktionen in Urteilen in
einer vollständigen Tafel konnte Kantauf „schon fertige, obgleich noch nicht ganz von Mängeln freie Arbeit
der Logiker“ zurückgreifen (AA 04: 323). Entgegen kritischer Vorbehalte ist
Kants Projekt dennoch originär wie originell, als er die traditionellen
Urteilslehren[15] kritisch prüft, ergänzt
und für seine transzendentallogische Auffassung vom Urteil fruchtbar macht,
d.h. die Formallogik seiner Transzendentallogik unterstellt. Kants Erfindung
ist darüber hinaus und vor allem das Leitfadenprinzip[16]: die Entdeckung
des Zusammenhangs und die Identifizierung der Verstandeshandlungen in den
Einheits-funktionen in Urteilen und der Synthesisfunktion in den Kategorien,
und deren Herleitung aus der dem Transzendentallogischen der Kategorien
vorgängigen formallogischen Grundlage.[17]
Die
Zusammenstellung der Denkfunktionen in den Urteilen wäre ohne Kants neue
Betrachtung der traditionellen formallogischen Urteilslehren, d.h. deren
Anpassung in transzendentallogischer Absicht (s.o. Vorbem., These 1), zumindest
erschwert, wenn nicht gar unmöglich gewesen. So faßt er in seiner Urteilslehre
das Urteil als Synthese („ein Verhältnis der coordination“)[18] auf,
verschiedene Vorstellungen zu einer Einheit zu verbinden. Es ist „die
mittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes, mithin die Vorstellung einer
Vorstellung desselben“ (B 93). Die traditionellen Urteilslehren sind mit Kants
neuer Urteilsauffassung in transzendental-logischer Absicht erneuert. Er begeht
den Weg von der inneren Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat zum Umfang und
Gegenstands-bezug der Begriffe in der Urteilsrelation.[19]
Damit kann der nächste Schritt folgen:
VII.Die erste Aufgabe
der metaphysischen Deduktion ist
nicht, die Tafel der Urteilsformen festzulegen, sondern die Tafel der
Funktionen („Urhandlun-gen“[20]) des
Verstandes (Überschrift § 9) in Urteilen.
Um
Kants Vorhaben recht zu verstehen, muß man sich immer wieder vergegenwärtigen,
daß es ihm nicht um eine Sammlung von Urteilen aus dem formallogischen Bestand
seiner Zeitgeht (keine formallogische
Absicht!), sondern um das transzendentallogische Interesse an den Urfunktionen
des Verstandes, die beim Urteilen ausgeübt werden und also in Urteilen greifbar
sind. Denn die „Zergliederung des Verstandesvermögens“ führte zu dem
„Geburtsorte“, zu den („von den ihnen anhängenden empirischen Bedingungen
befreit[en]“) „Keimen und Anlagen“ der reinen Verstandesbegriffe (Kategorien)
(B 90/91)[21] (s.o. Vorbem. These 3).
Kant
ordnet jene Funktionen des Denkens unter vier Titel[22] mit
jeweils drei Momenten (B 95). Die Titel geben als Prinzipien die Art und Weise
der Verhältnisse der Glieder in der Urteilsrelation (Subjektsbegriff,
Prädikatsbegriff, Kopula) an, d.h., in welchen Hinsichten jene Glieder
funktional betrachtet werden können.
(1)
Die Urteilsrelation kann im Hinblick auf den Anwendungsbereich, den
Bestimmungs-umfang des Prädikats für das Subjekt, betrachtet werden (Quantität
als Prinzip der Relation). Prädikate möglicher Urteile beziehen sich immer auf
vieles, auf eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungen. Wenn in einem Urteil das
unbestimmt Viele begrifflich bestimmt werden soll, muß entschieden werden, ob
sich das logische Prädikat von allem (allgemeines Urteil), von einigem
(besonderes Urteil) oder von einem aus dem Bereich des zu bestimmenden Vielen
(einzelnes Urteil) gilt.
Kant
verwahrt sich mit vier, den vier Titeln entsprechenden,Abschnitten gegen mögliche Mißverständnisse
seiner Einteilung, die „in einigen, nicht wesentlichen Stücken, von der
gewohnten Technik der Logiker, abzuweichen scheint“ (B 96). Zwar können die
eingefügten einzelnen Urteile gleich den allgemeinen (in Vernunftschlüssen)
behandelt werden, aber in einer „vollständigen Tafel der Momente des Denkens“
verdiene das „iudicium singulare“
eine besondere Stelle (ebenda). Zu meinen, die Quantitätsurteile seien mit den
Quantoren „alle“ und „nicht alle“ erschöpfend benannt, weil letzterer „einige“
und „eines“ implizit enthalte, heißt, die Bestimmtheit des Singulären nicht zum
Ausdruck zu bringen. So ist z.B. die Urteilsrelation „I.K. ist das einzige
Mitglied der Kant-Gesellschaft e.V. Bonn, das die Kant-Studien von dieser auf
Lebenszeit unentgeltlich bezieht“ unter dem quantitativen Gesichtspunkt sehr
unterschieden von der mit dem Urteil„nicht alle Mitglieder der Kant-Gesellschaft...“ ausgedrückten Aussage.
(2)
Die Urteilsrelation kann hinsichtlich der Geltung der Kopula in der behaupteten
S – P – Beziehung betrachtet werden (Qualität als Prinzip der Relation). So
kann die Verbin-dung von logischem Prädikat und logischem Subjekt bestehen
(bejahendes Urteil), nicht bestehen (verneinendes Urteil) oder bestehen mit
einem verneinten Prädikat, das eine unendliche Geltungssphäre aller übrigen
Prädikate als Komplement des durch die Verneinung limitierten Prädikats[23]
öffnet. In der „Verwahrung“ begründet Kant, daß die unendlichen Urteile wegen
der Wichtigkeit der darin ausgeübten Funktion des Verstandes „in der
transzendentalen Tafel aller Momente des Denkens in den Urteilen nicht
übergangen werden“ „müssen“ (B 98).
(3)
Die Urteilsrelation kann hinsichtlich der weiteren Bestimmung der
Verknüpfungdurch Bezug von Subjekt und
Prädikat und mehreren Urteilen aufeinander betrachtet werden (Relation[24] als
Prinzip der (Urteils-)Relation). In einem Urteil werden entweder zwei Begriffe
(kategorisches Urteil), zwei Urteile (hypothetisches Urteil) oder mehrere
Urteile (disjunktives Urteil) miteinander verbunden (B 98). In der „Verwahrung“
weist Kant unter 3. darauf hin, daß es bei dem hypothetischen Urteil (etwas
anderes ist die moderne Form der materialen Implikation, des Konditionals)
nicht auf den Wahrheitsgehalt der beiden verbundenen Urteile ankomme, sondern
allein die Konsequenz, das Grund-Folge-Verhältnis (wenn Sachverhalt A, kann
Sachverhalt B nicht ausbleiben), bedacht werde (B 98).[25] Im
disjunktiven Urteil[26]
bilden die Urteile in der Prädikatstelle eine Gemeinschaft sich gegenseitig
ausschließender Erkenntnisteile, die die Erkenntnissphäre der jeweiligen
anderen Erkenntnisteile ergänzen und die Sphäre der eigentlichen Erkenntnis
ausfüllen (B 99). Wer unter den Urteilen der Relation die „Und-Verknüpfung“
vermißt, sei daran erinnert, das die Denkfunktion der Synthesis immer bereits
„Und-Verknüpfung“ ist („Ich verstehe aber unter Synthesis in der allgemeinen
Bedeutung die Handlung, verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzutun (…)“[27]; das
Prinzip des Urteils ist immer Verbindung der Subjekts- und Prädikatsstelle, die
die Urteilsrelation ist.
(4)
Die Urteilsrelation kann schließlich im Hinblick auf den Wert der Kopula in
Beziehung auf das Denken (modaler Anspruch des Urteils) betrachtet werden
(Modalität als Prinzip der Relation). Das Urteil als Erkenntnisurteil legt
fest, ob die Urteilsrelation hinsichtlich der Verknüpfung der Prädikatstelle
mit dem Subjekt möglich (problematisches Urteil), wirklich (assertorisches
Urteil) oder notwendig (apodiktisches Urteil) ist. In der „Verwahrung“ stellt
Kant unter 4. die besondere Funktion der Modalität der Urteile heraus. Anders
als bei den vorherigen Titeln, die zum Inhalt des Urteils beigetragen haben
(„…(denn außer Größe, Qualität und Verhältnis ist nichts mehr, was den Inhalt
eines Urteils ausmachte)…“) (KrV, B 99), kommt es hier auf die Beziehung der
jeweils möglichen Bewertung der Verbindung von Subjekt und Prädikat zum Denken
überhaupt an. Man kann „diese drei Funktionen der Modalität auch so viel
Momente des Denkens überhaupt nennen“ (B 101).
Kants
einführenden Erläuterungen zu der Tafel der logischen Verstandesfunktionen in
Urteilen ist zu entnehmen, daß die vorgestellten Titel und Momente eine
vollständige Ausschöpfung möglicher Verhältnisse des Denkens darstellen, wie es
sich bei der Synthesis von Vorstellungen im Zusammenspiel der Urteilsglieder
vollzieht. Damit hat er die Grundlage für die Aufsuchung der reinen
Verstandesbegriffe (Leitfadenprinzip) dem Belieben und Zufall entzogen (B 92).
Auf
die Frage der Vollständigkeit der Tafel der Urteilstypen (die Kant aufgrund
seiner Systematik als unergiebig angesehen haben mag) wird kurz im Zusammenhang
mit der Tafel der Kategorien eingegangen. Die kaum überschaubare Kritik an der
von Kant zugrundegelegten Logik, die von Seiten der Fachphilosophie und vor
allem aus der Richtung der modernen Logikkonzeptionen geübt wird, bleibt in
diesem Rahmen unberücksichtigt. Nur soviel: Manche erweist sich als
gegenstandslos, weil sie 1. mangelnde Kant-Kenntnisse (Textkenntnis!) aufweist,
2. (daher) Mißverständnissen unterliegt, 3. zuweilen gar aus „ideologischen“
Gründen eine feindliche Haltung aufrecht erhält, 4. schließlich sich darüber
hinwegsetzt, daß ihre eigene Position mit einer trans-zendentalphilosophischen
nichts zu tun hat. Neuere Logikmodelle sind Speziallogiken der Mathematik, der
Technik, der Sprache, wie Kants Transzendentallogik eine Speziallogik der
Metaphysik ist. Letztere aber ist ja seit langem aus der Mode.
2.(Re-)Konstruktion von Kants metaphysischer Deduktion[28] der reinen
Verstandesbegriffe
Die
Kategorien gewinnt Kant über den (Um)weg der in Urteilen darstellbaren
einheits-stiftenden Denkfunktion:
Urteil: Man kann „alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen“ und „die Funktionen der Einheit in den Urteilen vollständig darstellen“ (B 94). |
|
Kategorie: „[…] die reine Synthesis der Vorstellungen auf Begriffe zu bringen“ (B 103)„zum Erkenntnisse eines vorkom-menden Gegenstandes“ (B 105). |
Urfunktion des
Denkens: „Einheit der Handlung, ver-schiedene Vorstellungen un-ter einer gemeinschaftlichen zu ordnen“ (B 93). |
Logische
Funktion des Verstandes in Urteilen |
Kategorien |
Verstandesfunktion,
welche den verschie-denen Vorstellungen in einem Urteil Einheit gibt (B 105). |
Begriff
von der Einheit verschiedener Vor-stellungen in einer Anschauung durch
Syn-thesis (die reine Synthesis der Vorstellungen auf Begriffe gebracht) (B
105). |
|
|
Quantität
der Urteile: Die Urteilsrelation ist hinsichtlich des Anwendungsbereichs des Prädikats quan-tifiziert. |
Der
Quantität |
|
|
Allgemeine (alle[32] S
sind P; P trifft auf alle S zu): Im allgemeinen Urteil ist das Prädikat in der S – P – Relation mit allen Subjekten verbunden. Das von diesen ausgehende Beziehungsbündel ist mit dem Prädikat verknüpft. Die mit dem Prädikat zusam-mentreffenden Beziehungsstränge werden durch die Denkfunktion als Einheit zusam-mengefaßt gedacht. |
Der
Begriff der Vorstellungsbestimmtheit im Hinblick auf die quantifizierte
Urteilsrelation einer einheitlichen Geltung des Prädikats für alle Subjekte
ist der Begriff der Einheit. |
|
|
Besondere (einige S sind P; P trifft auf einige S zu): Im besonderen Urteil ist das Prädikat in der S – P – Relation mit einigen Subjek-ten verbunden und gilt für eine unbe-stimmte Vielzahl (mehr als eines, weniger als alle), so daß die mit dem Prädikat bestehenden Beziehungen zu mehreren Urteilssubjekten als Vielheit zusammen-gefaßt gedacht werden. Die negativ formulierte Urteilsrelation „nicht alle S sind P“ hätte einen unbestimmten Erkenntniswert, weil offen bliebe, ob das Prädikat mit einigen oder nur einem Subjekt verbunden sei. |
Der
Begriff der Vorstellungsbestimmtheit im Hinblick auf die quantifizierte
Urteilsrelation einer Geltung des Prädikats für eine Vielzahl von Subjekten
ist der Begriff der Vielheit. |
|
|
Einzelne (dieses S ist P; P trifft nur auf ein S zu): Im einzelnen Urteil ist das Prädikat in der S – P – Relation mit einem (einzigen) Subjekt verbunden und gilt nur von diesem. Das durch das Prädikat bestimm-te Subjekt wird als Ganzes, d.h. in der Totalität („Allheit“) seiner in ihm enthalte-nen Momente, gedacht. Wie beim beson-deren Urteil würde dem „nicht alle“ die Bestimmtheit des Singulären mangeln. |
Der
Begriff der Vorstellungsbestimmtheit im Hinblick auf die quantifizierte
Urteilsrelation einer Geltung des Prädikats für ein Subjekt mit all seinen
Teilmomenten ist der Begriff der Allheit.[33] |
|
|
Qualität: Die Urteilsrelation ist hinsichtlich der Kopula („ist“) qualifiziert. |
Der
Qualität |
|
|
Bejahende (alle, einige, ein S sind/ist P): Der Prädikatsbegriff hat positive Geltung für den Subjektsbegriff, so daß das Prädikat mit dem Subjekt tatsächlich verbunden ist und es bestimmt. |
Der
Begriff der Vorstellungsbestimmtheit im Hinblick aufdie qualitative Bestimmung der affirmativen Relationzwischen der Subjekts- und der
Prädikatsstelle ist der Begriff der
Realität (realitas, Sachheit). |
|
|
Verneinende (alle, einige, ein S sind/ist nicht P): Die Geltung des Prädikatsbegriffs für den Subjektsbegriff ist negiert, die Kopula „ist nicht“ verneint die Verbindung des Prädikats mit dem Subjekt, so daß jenes dem Subjekt gar nicht zukommt (ein Urteil im strengen Sinne ist hier nicht gegeben). |
Der
Begriff der Vorstellungsbestimmtheit im Hinblick aufdie qualitative Bestimmung der verneinten Relation (ihres
Nichtbestehens)zwischen der
Subjekts- und der Prädikats-stelle ist der Begriff der Negation. |
|
|
Unendliche (alle, einige, ein S sind/ist Nicht-P): Die S – P – Relation besteht und ist bejaht „mittels eines bloß verneinenden Prädikats“ (B 97) („in unendlichen [Urtei-len] wird nicht die Copula, sondern das Prädicat durch die Negation afficirt“[34]). Das Subjekt könnte, wenn nicht durch das non-P, durch die unendliche Sphäre dessen bestimmt werden, das übrig bleibt, wenn das (negierte) Prädikat abgezogen wird. Diese Urteilsrelation „in Ansehung des logischen Umfanges [ist] wirklich bloß beschränkend in Ansehung des Inhalts der Erkenntnis überhaupt“ (B 98), in Hinsicht auf die Prädikation „heißen [sie] infinita, weil man von einem Subject unendlich viel mit non afficirte Praedicate sagen kann“[35]. |
Der
Begriff der Vorstellungsbestimmtheit im Hinblick aufdie qualitative Bestimmung der unendlichen Relation zwischen der
Subjekts-stelle und Prädikatsstelle (der Sphäre des „non“ des P) ist der
Begriff derBegrenzung des non-P
zum Subjekt („Das unendliche Urtheil […] stellt […] die Sphäre des Prädiats
als beschränkt vor.“[36]),
also der Begriff der Limitation. |
|
|
Relation Die Urteilsrelation besteht hinsichtlich der Verknüpfung („Relation“ jetzt als Prinzip dieser Urteilstrias) durch Bezug von Subjekt und Prädikat und mehreren Urteilen aufeinander, und zwar in einem Verhältnis der Unterordnung[37] der gege-benen Vorstellungen untereinander. |
Der
Relation |
|
|
Kategorische (S ist P): Die Relation zwischen dem Subjekts- und Prädikatsbegriff besteht ohne „Wenn und Aber“, wobei das Prädikat, das dem Subjekt Bestimmtheit verleiht, diesem als untergeordnet gedacht wird: das Prädikat (mit dem Prädizierten) steht zum Subjekt in einem Verhältnis des Enthalten- oder Bestandteilseins (dem Subjekt inhärent oder subsistent). |
Der
Begriff der Vorstellungsbestimmtheit im Hinblick aufdie kategorisch bestimmte Relation des Zusammenhangs der
Subjekts- mit der Prädikatsstelle ist der der Inhärenz und Subsistenz (substantia et acciden-tia). |
|
|
Hypothetische (wenn S P ist, dann ist Q R): Das Bestehen der Relation zwischen den Subjekts- und Prädikatsbegriffen (eigent-lich Verknüpfung zweier Urteile) ist von einer Bedingung abhängig, wobei die Konsequenz im Urteil gedacht wird (B 98). Wenn S P ist, zieht es die Folge ‚Q ist R’ unausweichlich nach sich (die Folge ist dem Grunde untergeordnet[38]), so daß in der Urteilsrelation S P mit Q R in einem Verhältnis des Grundes zur Folge verbunden ist. |
Der
Begriff der Vorstellungsbestimmtheit im Hinblick aufdie hypothetisch bestimmte Relation zwischen der Subjekts- und
der Prädikatsstelle ist der Begriff der Kausalität
und Dependenz (Ursache und Wirkung). |
|
|
Disjunktive (S ist P oder Q oder R…): Die Relation zwischen dem Subjektsbe-griff und den Prädikatsbegriffen ist ein Gefüge einerseits sich ausschließender, andererseits einander ergänzender Urteile, so daß in der Relation mehrere Urteile miteinander verbunden sind. Das Subjekt steht (im Status der Unbestimmt-heit) im Verhältnis zu einer Gemeinschaft von Bestimmungskandidaten P, Q, R (wenn S nicht P, dann Q oder R; wenn S Q ist, dann nicht P oder R usw.). Zwar sind die Bestimmungsglieder P, Q, R untereinander logisch entgegengesetzt, bilden aber zusammen „ein Verhältnis der Teile der Sphäre eines Erkenntnisses“[39] (jedes ergänzt die Sphäre des anderen, schließen einander aber wechselseitig aus), so daß das „Glied der Eintheilung“ (die möglichen Bestimmungen, von denen nur eine als Bestimmungskanditat zum Zuge kommen wird und die anderen einschränkt) dem „eingetheilten Begriffe“ (dem Subjektsbegriff) untergeordnet ist[40]. |
Der
Begriff der Vorstellungsbestimmtheit im Hinblick aufdie disjunktive Bestimmung der Relation zwischen der Subjekts-
und der Prä-dikatsstelle, die aus wechselseitig sich ausschließenden und
wechselseitig sich ergänzenden Gliedern besteht, ist der Begriffder Gemeinschaft
(Wechselwirkung zwi-schen dem Handelnden und Leidenden) (dem
Bestimmungsgeber und den Ausge-schlossenen). |
|
|
Modalität Die Urteilsrelation besteht hinsichtlich des Wertes der Kopula in Beziehung auf das Denken und bestimmt den modalen Anspruch des Urteils (ohne zum Inhalt desselben beizutragen[41]), betrifft aber nicht die Sache, über die geurteilt wird. |
Der
Modalität |
|
|
Problematische (S ist möglicherweise P): Der Geltungsgrad, den die Relation des Subjektsbegriffs durch den Prädikatsbe-griff besitzt, bestimmt sich im Anspruch des Urteils hinsichtlich des (beurteilten) Sachverhalts, daß S P ist, als möglich (begleitet „mit dem Bewußtsein der bloßen Möglichkeit [des Urtheilens]“)[42]. |
Der
Begriff der Vorstellungsbestimmtheit im Hinblick aufden problematischen Geltungs-grad der Relation zwischen der Subjekts-
und der Prädikatsstelle ist der Begriffder Möglichkeit – Unmöglichkeit. |
|
|
Assertorische (S ist P): Der Geltungsgrad, den die Relation des Subjektsbegriffs durch den Prädikatsbe-griff besitzt, bestimmt sich im Anspruch des Urteils hinsichtlich des (beurteilten) Sachverhalts, daß S P ist, als tatsächlich, (begleitet „mit dem Bewußtsein der Wirk-lichkeit [des Urtheilens]“)[43], so daß ein Verhältnis von S und P wirklich besteht („ist“). |
Der
Begriff der Vorstellungsbestimmtheit im Hinblick aufden assertorischen Geltungsgrad der Relation zwischen der
Subjekts- und der Prädikatsstelle ist der BegriffDasein
– Nichtsein. |
|
|
Apodiktische (S ist notwendig P): Der Geltungsgrad, den die Relation des Subjektsbegriffs durch den Prädikatsbe-griff besitzt, bestimmt sich im Anspruch des Urteils hinsichtlich des (beurteilten) Sachverhalts, daß S P ist, als unausweich-lich und ausnahmslos (begleitet „mit dem Bewußtsein der Nothwendigkeit des Urtheilens“)[44], so daß ein Verhältnis von S und P notwendig besteht. |
Der
Begriff der Vorstellungsbestimmtheit im Hinblick aufden apodiktischen Geltungsgrad der Relation zwischen der
Subjekts- und der Prädikatsstelle ist der Begriffder Notwen-digkeit
– Zufälligkeit. |
Anspruch |
Begründung |
A)Die Verstandesfunktionen und ihre Synthesisbegriffe
haben einen gemein-samen Ursprung. |
Diese
gemeinsame Grundlage ist die Urhandlung der Spontaneität, ist die
einheitsstiftende Funktion des Denkens (s.o. 1., I.-V.; B 92, 93). |
B)Der Zusammenhang und die zuordnen-bare Entsprechung
der Titel und Momente beider Tafeln ist prinzipien-geleitet. |
„Die
Transzendental-Philosophie hat den Vorteil, aber auch die Verbindlichkeit,
ihre Begriffe nach einem Prinzip aufzusuchen; weil sie aus dem Verstande, als
absoluter Einheit, rein und unvermischt entspringen, und daher selbst nach
einem Begriffe, oder Idee, unter sich zusammenhängen müs-sen. Ein solcher
Zusammenhang aber gibt eine Regel an die Hand, nach welcher jedem reinen
Verstandesbegriff seine Stel-le und allen insgesamt ihre Vollständigkeit a
priori bestimmt werden kann“ (B 92). |
C)Die 4 : 3 – Systematik der Tafeln ist durch ein
syllogismusartiges Verfahren begründet. |
Siehe:
B 110, 111. |
D)Die Kategoriensystematik stellt eine systematische
Topik eines architekto-nisch entworfenen Plans zum Ganzen einer Wissenschaft
dar. |
„Die
Fächer sind einmal da; es ist nur nötig, sie auszufüllen, und eine
systema-tische Topik, wie die gegenwärtige, läßt nicht leicht die Stelle
verfehlen…“ (B 109); s.a. § 11: die Tafel sei im theoretischen Teil der
Philosophie unentbehrlich, „den Plan zu einer ganzen Wissenschaft“
„voll-ständig zu entwerfen“, „wie ich denn auch davon anderwärts [siehe MAN,
AA 04:473 f.[54]] eine Probe gegeben
habe.“ |
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