Erschienen in Ausgabe: Ohne Ausgabe | Letzte Änderung: 26.02.13 |
von Joachim Gauck
"Europa: Vertrauen erneuern -
Verbindlichkeit stärken"
Exzellenzen, meine sehr verehrten Damen und Herren,
so viel Europa war nie! Das sagt jemand, der mit
großer Dankbarkeit in diesen Saal blickt, der Gäste aus Deutschland und
aus ganz Europa begrüßen darf. Seien Sie herzlich willkommen.
So viel Europa war nie – das empfinden viele
Menschen besonders in Deutschland derzeit auf ganz andere Weise, zum
Beispiel beim Blick in die morgendlichen Zeitungen. Da begegnet uns
Europa meistens verkürzt auf vier Buchstaben – Euro – oder als
Krisenfall. Immer wieder ist von Gipfeldiplomatie die Rede und von
Rettungspaketen. Es belastet. Es geht um schwierige Verhandlungen, auch
wenn es Erfolge sind, nur um Teilerfolge, und dann gibt es immer wieder
ein Unbehagen, auch deutlichen Unmut, den man nicht ignorieren darf. In
einigen Mitgliedsstaaten fürchten die Menschen, dass sie zu Zahlmeistern
der Krise werden. In anderen wächst die Angst vor immer schärferen
Sparmaßnahmen und sozialem Abstieg. Geben und Nehmen, Verschulden und
Haften, Verantwortung und Teilhabe scheinen vielen Bürgerinnen und
Bürgern nicht mehr richtig und gerecht sortiert in der Gemeinschaft der
Europäer.
Hinzu kommt eine Liste von Kritikpunkten, die
schon seit langer Zeit zu hören sind: der Verdruss über die sogenannten
Brüsseler Technokraten und ihre Regelungswut, die Klage über mangelnde
Transparenz der Entscheidungen, das Misstrauen gegenüber einem
unübersichtlichen Netz von Institutionen und nicht zuletzt der Unwille
über die wachsende Bedeutung des Europäischen Rates und die dominierende
Rolle des deutsch-französischen Tandems.
So anziehend Europa auch ist – zu viele Bürger
lässt die Europäische Union in einem Gefühl der Macht- und
Einflusslosigkeit zurück. Ich weiß es, ich höre es, ich lese es fast
täglich: Es gibt Klärungsbedarf in Europa. Angesichts der Zeichen von
Ungeduld, Erschöpfung und Frustration unter den Bürgern, angesichts der
Umfragen, die mir eine Bevölkerung zeigen, die unsicher ist, ob unser
Weg zu „mehr“ Europa richtig ist, scheint es mir, als stünden wir vor
einer neuen Schwelle – unsicher, ob wir wirklich entschlossen
weitergehen sollten. Die Krise hat mehr als nur eine ökonomische
Dimension. Sie ist auch eine Krise des Vertrauens in das politische
Projekt Europa. Wir ringen nicht nur um unsere Währung. Wir ringen auch
mit uns selbst.
Und dennoch stehe ich heute als ein bekennender
Europäer vor Ihnen und spüre das Bedürfnis, mich mit Ihnen gemeinsam
noch einmal zu vergewissern, was Europa bedeutet, was es bedeutet hat
und welche Möglichkeiten es weiter in sich trägt – so, wie ich es heute
zu überblicken vermag.
Für mich ist dieser Tag auch Anlass, neu und
kritischer auf meinen euphorischen Satz kurz nach meiner Amtseinführung
zurückzukommen, als ich sagte: „Wir wollen mehr Europa wagen.“ So
schnell und gewiss wie damals würde ich es heute wohl nicht mehr
formulieren. Dieses Mehr an Europa braucht zumindest eine Deutung,
braucht Differenzierung. Wo kann und wo soll mehr Europa zu einem
gelingenden Miteinander beitragen? Wie soll Europa aussehen? Was wollen
wir entwickeln und stärken, und was wollen wir begrenzen? Und nicht
zuletzt: Wie finden wir für mehr Europa mehr Vertrauen, mehr Vertrauen,
als wir es derzeit haben?
Erinnern wir uns: Der Anfang war doch
vielversprechend. Bereits fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs schlug Frankreichs Außenminister Robert Schuman seinen
europäischen Partnern die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für
Kohle und Stahl vor. Frankreich und Deutschland wurden zu den großen
Impulsgebern der europäischen Entwicklung – und aus ehemaligen
Kriegsgegnern wurden Partner. Als wir im Januar den 50. Jahrestag des
Élysée-Vertrags gefeiert haben, war uns noch einmal besonders deutlich
bewusst, wie kostbar diese Freundschaft für Europa geworden ist und wie
groß das Glück ist, diese Freundschaft mit einer neuen Generation
weiterleben zu können, weitergestalten zu können.
Damals, 1950, war Jean Monnet der Ideengeber. Sein
Ziel: die Sicherung des europäischen Friedens durch eine
„Vergemeinschaftung“, die den Mitgliedern gleichzeitig rationalen Nutzen
versprach. Es war nicht nur vernünftig, es war auch in ihrem nationalen
Interesse. Westdeutschland erreichte mit dieser Integration seine erste
Rehabilitierung in der internationalen Staatengemeinschaft. Frankreich
und die anderen Partnerstaaten befriedigten durch Kontrolle auch
deutscher Kohle- und Stahlproduktion ihr Sicherheitsbedürfnis. Der
Gedanke war lange schwer umzusetzen, aber von großer politischer
Hellsichtigkeit: Wenn die Wirtschaft verschmilzt, verschmilzt irgendwann
auch die Politik. Übrigens sagte Walther Rathenau das schon 1913, vor
genau 100 Jahren. Wo einst Staaten um Ressourcen und um die Hegemonie
stritten, wächst Frieden durch gegenseitige Verflechtung.
Für eine umfassende nationenübergreifende Politik
war es 1950 natürlich noch zu früh. Nur Schritt für Schritt sollte aus
wirtschaftlicher Integration eine politische werden, aus immer größeren
Feldern von Vergemeinschaftung schließlich ein gemeinsames Europa
entstehen – für die einen war das eine europäische Föderation, für die
anderen ein Europa der Vaterländer. Lange Zeit brachte diese
pragmatische Methode das Projekt Europa tatsächlich voran. Heute sind
wir nun allerdings gezwungen, diese Art des Vorgehens grundlegend zu
überdenken. Weil Entwicklungen ohne ausreichenden politischen
Gesamtrahmen zugelassen wurden, sind die Gestalter der Politik bisweilen
zu Getriebenen der Ereignisse geworden.
Selbst an bedeutenden Wegmarken fehlte es in der
Vergangenheit oft an politischer Ausgestaltung. Nach dem Zusammenbruch
des kommunistischen Lagers etwa wurden zehn Staaten in die EU
aufgenommen, obwohl das nötige Fundament für eine so große EU noch
fehlte. Und so blieben bei dieser größten Erweiterung der EU die Fragen
nach einer Vertiefung – teilweise jedenfalls – unbeantwortet. Als
folgenschwer erwies sich auch die Einführung der gemeinsamen Währung. 17
Staaten führten im Laufe der Jahre den Euro ein, doch der Euro selbst
bekam keine durchgreifende finanzpolitische Steuerung. Dieser
Konstruktionsfehler hat die Europäische Union in eine Schieflage
gebracht, die erst durch Rettungsmaßnahmen wie den Europäischen
Stabilitätsmechanismus und den Fiskalpakt notdürftig korrigiert wurde.
Für mich ist jedoch klar: Selbst wenn einzelne
Rettungsmaßnahmen scheitern sollten, steht das europäische Gesamtprojekt
nicht infrage. Seine Vorteile liegen bis jetzt deutlich auf der Hand:
Wir reisen von der Memel bis zum Atlantik, von Finnland bis nach
Sizilien, ohne an irgendeiner Grenze den Reisepass zu zücken. Wir zahlen
in großen Teilen Europas mit einer gemeinsamen Währung und kaufen
Schuhe aus Spanien oder Autos aus Tschechien ohne Zollaufschläge. Wir
lassen uns in Deutschland vielerorts von polnischen Ärzten behandeln und
sind dankbar dafür, weil manche Praxen sonst schließen müssten. Unsere
Unternehmer beschäftigen zunehmend Arbeitskräfte aus allen
Mitgliedsländern der Union, die in ihren eigenen Ländern oft gar keine
Arbeit oder nur Jobs unter sehr viel schlechteren Bedingungen finden
würden. Und unsere Senioren, sie verbringen zum Teil ihren Ruhestand an
Spaniens Küsten, manche auch an der polnischen Ostsee. Mehr Europa ist
also auf erfreuliche Weise Alltag geworden.
Deswegen sind die Ergebnisse von Meinungsumfragen
nur auf den ersten Blick widersprüchlich. Zwar ist die Skepsis gegenüber
der EU in den letzten Jahren stark angestiegen, aber eine Mehrheit ist
weiterhin überzeugt: Unsere komplexe und zunehmend globale Realität
braucht Regelungen im nationenübergreifenden Rahmen. Wir alle in Europa
haben große politische und wirtschaftliche Vorteile von der
Gemeinschaft.
Was uns als Europäer allerdings auszeichnet, was
unsere europäische Identität bedeutet, das wiederum bleibt schwer zu
umreißen. Junge Gäste hier in Schloss Bellevue haben mir vor Kurzem
bestätigt, was wohl viele hier im Saal auch kennen: „Wenn wir draußen in
der großen, weiten Welt sind, dann empfinden wir uns als Europäer. Wenn
wir in Europa sind, dann empfinden wir uns als Deutsche. Und wenn wir
in Deutschland sind, na, dann eben als Sachse oder Hamburgerin.“
Wir sehen dabei, wie vielschichtig Identität sein
kann. Und wir begreifen: Europäische Identität löscht weder regionale
noch nationale Identität, sie existiert neben diesen Identitäten. Gerade
habe ich bei meinem Besuch im Freistaat Bayern an der Universität
Regensburg im Projekt Europaeum einen jungen Studenten getroffen, der
als Pole in Deutschland aufwuchs, polnisch erzogen, mit Polnisch als
Muttersprache, und bei Sportereignissen trug er begeistert die polnische
Fahne umher. Aber erst, als er ein Semester in Polen studierte und
seine Kommilitonen ihn komplett als Deutschen wahrnahmen, wurden ihm
auch diese, seine deutschen Anteile der Identität bewusst. Er konnte sie
auch schmerzfrei bejahen. Es ging ihm wie vielen: Oft nehmen wir unsere
Identität durch die Unterscheidung gegenüber anderen wahr.
„Man braucht Europa nur zu verlassen, gleich in
welcher Richtung, um die Realität unserer Kultureinheit zu spüren“,
fasste der Schweizer Philosoph Denis de Rougemont diese Erfahrung schon
Ende der 50er-Jahre zusammen. Er sagte: „In den Vereinigten Staaten, in
der Sowjetunion sofort und ohne jeden Zweifel in Asien werden Franzosen
und Griechen, Engländer und Schweizer, Schweden und Kastilianer als
Europäer betrachtet. (…) Von außen gesehen ist die Existenz von Europa
augenscheinlich.“
Ist die Existenz Europas von innen gesehen genauso
augenscheinlich? Schon geografisch ist der Kontinent ja schwer zu
fassen – reicht er beispielsweise bis zum Bug oder bis zum Ural? Bis zum
Bosporus oder bis nach Anatolien? Auch die identitätsstiftenden Bezüge
unterlagen in einer langen Geschichte mehrfach einem Wechsel. Heute
wissen wir, dass sie sich auf ein ganzes Ensemble beziehen – angefangen
von der griechischen Antike über die römische Reichsidee und das
römische Recht bis hin zu den prägenden christlich-jüdischen
Glaubenstraditionen.
Doch wie sieht es heute aus? Was bildet denn heute
das einigende Band zwischen den Bürgern Europas? Woraus schöpft Europa
seine unverwechselbare Bedeutung, seine politische Legitimation und
seine Akzeptanz?
Als die Europäische Union im Dezember den
Friedensnobelpreis erhielt, haben die Festredner Europa als
Friedensprojekt beschrieben, gefeiert und geehrt. Wir denken dann, wie
unvergesslich es war, als Winston Churchill 1946 in seiner berühmten
Rede an die Jugend in Zürich die „Neuschaffung der europäischen Familie“
forderte. Unvergesslich, dass damals die Überzeugung von Politkern wie
Bevölkerung in drei Worten zum Ausdruck zu bringen war: „Nie wieder
Krieg!“ Unvergesslich auch, wie 700 Politiker und Intellektuelle 1948 in
Den Haag auf dem Europäischen Kongress zusammenkamen, so
unterschiedliche Persönlichkeiten wie etwa Bertrand Russell oder aus
Italien Ignazio Silone oder aus Deutschland Konrad Adenauer, Walter
Hallstein oder Eugen Kogon.
„Ob der ewige Frieden auf dieser Erde möglich ist,
weiß kein Mensch“, so fasste der französische Philosoph Raymond Aron
später die Intentionen zusammen. „Dass die Beschränkung der Gewalt in
diesem gewaltsamen Jahrhundert unsere gemeinsame Pflicht geworden ist,
darüber gibt es keinen Zweifel.“
Allerdings wurde damals Europa recht bald zu einem
Konzept nur für Westeuropa. Im Kalten Krieg zerfiel der Kontinent in
zwei politische Lager. Doch mochten Ost- und Mittelosteuropa über 40
Jahre abgeschnitten sein, so lebten seine Bewohner doch im Geiste in
Europa. Sie hatten es eigentlich nie verlassen. Für sie und auch für
mich war 1989/90 unser überzeugtes Ja zu dem freien, demokratischen,
wohlhabenden Europa so etwas wie der zweite Gründungsakt Europas, ein
nachgeholter Beitritt für jenen Teil des Kontinents, der einfach nicht
von Anfang an dabei sein konnte. Es war zugleich eine qualitative
Erweiterung für Europa. So, wie Europa nach dem Zweiten Weltkrieg vor
allem ein Friedensprojekt gewesen war, so war es nach 1989 vor allem ein
Freiheitsprojekt.
Die junge Generation, die in den 80er-Jahren und
später geboren wurde, sieht Europa wieder mit ganz anderen Augen. Ihre
Großeltern und Urgroßeltern, die Berlin, Warschau und Rotterdam noch in
Schutt und Asche erlebten, sie haben es geschafft, Europa neu
aufzubauen, im Westen konnten sie sogar Wohlstand an ihre Kinder und
Kindeskinder vererben.
Ich weiß, liebe Schülerinnen und Schüler im Saal,
ihr habt eurer erstes Taschengeld in Euro erhalten, ihr lernt mindestens
zwei Fremdsprachen, ihr fahrt zur Klassenreise nach Paris, London,
Madrid, vielleicht auch nach Warschau, Budapest, Prag. Und wenn ihr
euren Schulabschluss habt, stehen euch Erasmus-Stipendien oder
Berufsbildungsprogramme wie Leonardo zur Verfügung. Oft lernt ihr schon
miteinander in Europa, statt nur etwas übereinander zu lernen. Und ihr
feiert miteinander: auf europäischen Musikfestivals oder in den
lebendigen Metropolen Europas. Keine Generation vor euch hatte so
erfreuliche Gelegenheiten, sagen zu können: Wir sind Europa! Und ihr
erlebt tatsächlich „mehr Europa“ als alle, alle Generationen vor euch!
Trotzdem stimmt natürlich, was oft moniert wird:
In Europa fehlt die große identitätsstiftende Erzählung. Wir haben keine
gemeinsame europäische Erzählung, die über 500 Millionen Menschen in
der Europäischen Union auf eine gemeinsame Geschichte vereint, die ihre
Herzen erreicht und ihre Hände zum Gestalten animiert. Ja, es stimmt:
Wir Europäer haben keinen Gründungsmythos nach der Art etwa einer
Entscheidungsschlacht, in der Europa einem Feind gegenübertreten, siegen
oder verlieren, aber jedenfalls seine Identität wahren konnte. Wir
haben auch keinen Gründungsmythos im Sinne einer erfolgreichen
Revolution, in der die Bürger des Kontinents gemeinsam einen Akt der
politischen oder sozialen Emanzipation vollbracht hätten. Die eine
europäische Identität gibt es genauso wenig wie den europäischen Demos,
ein europäisches Staatsvolk oder eine europäische Nation.
Aber dennoch hat Europa eine identitätsstiftende
Quelle – einen im Wesen zeitlosen Wertekanon, der uns auf doppelte Weise
verbindet, als Bekenntnis und als Programm. Wir versammeln uns im Namen
Europas nicht um Monumente, die den Ruhm der einen aus der Niederlage
der anderen ableiten. Wir versammeln uns für etwas – für Frieden und
Freiheit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für Gleichheit, für
Menschenrechte, für Solidarität.
Alle diese europäischen Werte sind ein
Versprechen, aber sie sind auch niedergelegt in Verträgen und garantiert
in Gesetzen. Sie sind Bezugspunkte unseres gemeinsamen republikanischen
Verständnisses – Grundlage dafür, dass alle Bürgerinnen und Bürger
gleichberechtigt am gesellschaftlichen und politischen Leben teilhaben
können. Die europäischen Werte öffnen den Raum für unsere europäische
Res publica.
Unsere europäische Wertegemeinschaft will ein Raum
von Freiheit und Toleranz sein. Sie bestraft Fanatiker und Ideologen,
die Menschen gegeneinander hetzen, Gewalt predigen und unsere
politischen Grundlagen untergraben. Sie gestaltet einen Raum, in dem die
Völker friedlich miteinander leben und nicht mehr gegenseitig zu Felde
ziehen. Ein Krieg wie noch vor kurzem auf dem Balkan, wo bis heute
europäische Soldaten und zivile Kräfte den Frieden sichern müssen, so
etwas darf nie wieder blutige Realität werden.
Von anderen Kontinenten zugewanderte Menschen
wissen das Kostbare Europas oft in ganz besonderer Weise zu schätzen.
Sie kennen Armut, Unfrieden, Unfreiheit und Unrecht in anderen Teilen
der Welt. Sie erleben Europa als einen Raum des Wohlstands, der
Selbstverwirklichung und in vielen Fällen auch als Schutzraum: vor
Pressezensur oder staatlichen Internetsperren, vor Folter, vor
Todesstrafe, vor Kinderarbeit oder Gewalt gegen Frauen oder vor der
Verfolgung jener, die eine gleichgeschlechtliche Beziehung leben.
Unsere europäischen Werte sind verbindlich, und
sie verbinden. Mögen europäische Staaten Europas Regeln auch
gelegentlich verletzen, so können diese doch vor europäischen Gerichten
eingeklagt werden. Mag es auch immer einmal wieder Anlass geben, Europa
oder Deutschland zwiespältigen Umgang mit Menschen- und Bürgerrechten
vorzuwerfen, so garantiert Europa doch eine immerwährende kritische
Öffentlichkeit und freie Medien, die für Verfolgte und Unterdrückte
besonders in diktatorischen und autoritären Staaten Partei ergreifen
können.
Der europäische Wertekanon ist nicht an
Ländergrenzen gebunden, und er hat über alle nationalen, ethnischen,
kulturellen und religiösen Unterschiede hinweg Gültigkeit. Am Beispiel
der in Europa lebenden Muslime wird dies deutlich. Sie sind ein
selbstverständlicher Teil unseres europäischen Miteinanders geworden.
Europäische Identität definiert sich nicht durch negative Abgrenzung vom
anderen. Europäische Identität wächst mit dem Miteinander und der
Überzeugung der Menschen, die sagen: Wir wollen Teil dieser Gemeinschaft
sein, weil wir die gemeinsamen Werte teilen. Mehr Europa heißt: mehr
gelebte und geeinte Vielfalt.
All das, was wir zwischenstaatlich lernen mussten
und weiter lernen, um den Frieden zwischen den Völkern zu sichern, haben
wir immerfort auch innerhalb unserer Gesellschaft zu lernen und zu
sichern, um den Ausgleich zwischen zunehmend Verschiedenen zu erlangen.
Wir erleben es tagtäglich: Wir sind auch dann Europa, wenn wir zu Hause
bleiben. In Deutschland treffen wir Restaurantbesitzer aus Italien,
Krankenpflegerinnen aus Spanien, Fußballspieler aus der Türkei. An den
Universitäten und in den Betrieben, an den Bühnen, in den Geschäften
arbeiten immer mehr Menschen, die ihre familiären Wurzeln in anderen
Ländern haben und die, wenn sie religiös sind, in andere Gotteshäuser
gehen als evangelische und katholische Deutsche. Europa ist längst mehr.
Vielfalt ist Alltag in der Mitte unserer Gesellschaft geworden.
Sehr geehrte Damen und Herren, unseren Wertekanon,
den stellt glücklicherweise kaum jemand in Europa infrage. Der
institutionelle Rahmen dagegen, den sich Europa bis jetzt gab, der wird
gerade intensiv diskutiert. Für einige ist die europäische, föderale
Union die einzige Chance für den Kontinent, andere zielen auf
Korrekturen bei den bestehenden Institutionen – etwa die Einführung
einer zweiten Kammer oder die gewünschte Erweiterung der Rechte des
Europaparlaments. Manche halten es für ausreichend, den Status quo zu
wahren, wenn dessen Möglichkeiten mit mehr politischem Willen
tatsächlich ausgenutzt werden würden. Und die Euroskeptiker würden die
europäische Ebene am liebsten reduzieren.
Aber auch namhafte Befürworter Europas fragen, ob
alles, was bis jetzt von Brüssel aus reguliert wird, wirklich von dort
aus kommen muss. Wir stehen also mitten in dieser Diskussion und nicht
an ihrem Ende. Und wir werden uns leichter über die institutionellen
Festlegungen, über den institutionellen Rahmen einigen, wenn wir
gemeinsam und in aller Ausführlichkeit die grundlegenden Fragen zur
Zukunft des europäischen Projekts diskutiert haben.
Notwendige Anpassungen im wirtschafts- und
finanzpolitischen Bereich im Euroraum hat die Politik jetzt
glücklicherweise unter Druck vorgenommen. Wir alle wissen aber, dass
Europa ja vor weiteren Herausforderungen steht. Ich habe eingangs in
meiner Rede von einer Schwelle gesprochen: Wir halten inne, um uns
gedanklich und emotional zu rüsten für den nächsten Schritt, der Neues
von uns verlangt.
Einst waren ja die europäischen Staaten Großmächte
und Global Players. In der globalisierten Welt von heute mit den großen
neuen Schwellenländern kann sich im besten Fall ein vereintes Europa
als Global Player behaupten: politisch, um substanziell mitentscheiden
und weltweit für unsere Werte Freiheit, Menschenwürde und Solidarität
eintreten zu können. Wirtschaftlich, um wettbewerbsfähig zu bleiben und
so in Europa unsere materielle Sicherheit und damit
innergesellschaftlichen Frieden zu sichern.
Bis jetzt ist Europa auf diese Rolle zu wenig
vorbereitet. Wir brauchen eine weitere innere Vereinheitlichung. Denn
ohne gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik kann eine gemeinsame
Währung nur schwer überleben. Wir brauchen auch eine weitere
Vereinheitlichung unserer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik,
um gegen neue Bedrohungen gewappnet zu sein und einheitlich und
effektiver auftreten zu können. Wir brauchen auch gemeinsame Konzepte
auf ökologischer, gesellschaftspolitischer – Stichwort Migration – und
nicht zuletzt demografischer Ebene.
Dies nun geduldig und umsichtig zu vermitteln ist
Aufgabe aller, die sich dem Projekt Europa verbunden fühlen.
Unsicherheit und Angst dürfen niemanden in die Hände von Populisten oder
Nationalisten treiben. Die Leitfrage bei allen Veränderungen sollte
daher sein: Wie kann ein demokratisches Europa aussehen, das dem Bürger
Ängste nimmt, ihm Gestaltungsmöglichkeiten einräumt, kurz: mit dem er
sich identifizieren kann?
Wer meint, die europäische Vereinigung sei so
etwas wie ein Kunstgebilde und unfähig, ihre unterschiedlichen
Bürgerinnen und Bürger aus bald 28 Nationalstaaten zusammenzuführen, der
sei daran erinnert, dass auch die Nationalstaaten nichts natürlich
Gewachsenes und nichts Ewiges sind und waren und dass ihre Bürger häufig
erst sehr langsam in sie hineinwuchsen. Als 1861 die italienische
Einheit geschaffen wurde, erklärte der Schriftsteller und Politiker
Massimo D'Azeglio: „Italien haben wir geschaffen, nun müssen wir die
Italiener schaffen.“ Weniger als zehn Prozent der Bürger sprachen damals
Italienisch, und die Masse kannte nur Dialekte.
Doch anders als im 19. Jahrhundert, als auch das
Deutsche Reich aus einem Flickenteppich von Königreichen und
Fürstentümern hervorging, können und wollen wir eine europäische
Vereinigung nicht von oben dekretieren. Wir haben inzwischen starke
Zivilgesellschaften. Ohne die Zustimmung der Bürger könnte keine
europäische Nation, kann kein Europa wachsen. Takt und Tiefe der
europäischen Integration, sie werden letztlich von den europäischen
Bürgerinnen und Bürgern bestimmt.
An dieser Stelle möchte ich einen Blick nach
Großbritannien werfen. Mit großem Interesse habe ich die Äußerungen, die
Doppelbotschaft des Premierministers vernommen: das Ja zu britischer Tradition und zu britischen Interessen, das kein Nein
sein sollte zu Europa. Es ist zwar Sache der Briten allein, über ihre
Zukunft zu entscheiden, aber vielleicht sind sie doch bereit, wenigstens
einen Wunsch aus dem Schloss Bellevue anzuhören. Er lautet:
Liebe Engländer, Waliser, Schotten, Nordiren und
neue Bürger Großbritanniens! Wir möchten euch weiter dabeihaben! Wir
brauchen eure Erfahrungen als Land der ältesten parlamentarischen
Demokratie, wir schätzen eure Traditionen, aber wir brauchen auch eure
Nüchternheit und euren Mut! Ihr habt im Zweiten Weltkrieg mit eurem
Einsatz geholfen, unser Europa zu retten – es ist auch euer
Europa. Lasst uns weiter gemeinsam den Weg zur europäischen Res publica
bestreiten, dabei auch unter Umständen streiten, aber nur gemeinsam sind
wir den künftigen Herausforderungen gewachsen. Mehr Europa soll nicht
heißen: ohne euch!
Sehr geehrte Damen und Herren, es macht mir Sorge,
wenn die Rolle Deutschlands im europäischen Prozess augenblicklich bei
einigen Ländern Skepsis und Misstrauen auslöst. Ja, es stimmt,
Deutschland hat auch vom Euro kräftig profitiert. Er hat Deutschland
stark gemacht. Und dass Deutschland nach der Wiedervereinigung zur
größten Wirtschaftsmacht in der Mitte des Kontinents aufstieg, das hat
vielen Angst gemacht. Ich bin erschrocken, wie schnell die Wahrnehmungen
sich verzerrten, so als stünde das heutige Deutschland in einer
Traditionslinie deutscher Großmachtpolitik, gar deutscher Verbrechen.
Nicht allein populistische Parteien stellten gar die deutsche Kanzlerin
als Repräsentantin eines Staates dar, der heute angeblich wie damals ein
deutsches Europa erzwingen und andere Völker unterdrücken will.
Doch ich versichere allen Bürgerinnen und Bürgern
in den Nachbarländern: Ich sehe unter den politischen Gestaltern in
Deutschland niemanden, der ein deutsches Diktat anstreben würde. Bis
jetzt hat sich unsere Gesellschaft als reif und rational erwiesen. In
Deutschland – und dafür bin ich dankbar – fand keine
populistisch-nationalistische Partei in der Bevölkerung die Zustimmung,
die sie in den Deutschen Bundestag gebracht hätte. Aus tiefer innerer
Überzeugung kann ich sagen: Mehr Europa heißt in Deutschland nicht:
deutsches Europa. Mehr Europa heißt für uns: europäisches Deutschland!
Wir wollen andere nicht einschüchtern, ihnen auch
nicht unbedingt unsere Konzepte aufdrücken, wir stehen allerdings zu
unseren Erfahrungen, und wir möchten diese gern vermitteln. Keine zehn
Jahre ist es her, da stand Deutschland selbst als „kranker Mann Europas“
vor den Augen der Welt und unserer Bürger. Die Maßnahmen, die uns
damals aus der Wirtschaftskrise herausführten, haben – trotz schwerer
innenpolitischer Konflikte, die mit ihnen einhergingen – dann Früchte
getragen. Gleichzeitig wissen wir, dass es verschiedene ökonomische
Konzepte gibt und nicht nur ein Weg zum Ziel führt.
Sollten nun deutsche Politiker vereinzelt zu wenig
Empathie für die Situation der anderen aufgebracht haben oder konnte
Sachrationalität manchmal erscheinen wie Kaltherzigkeit oder
Besserwisserei, so war dies sicher die Ausnahme und nicht die Regel und
erklärt sich vielleicht auch aus der notwendigen Auseinandersetzung um
den richtigen Weg. Sollte aus kritischen Kommentaren allerdings
Geringschätzung oder gar Verachtung gesprochen haben, so ist dies nicht
nur grob verletzend, sondern auch politisch kontraproduktiv. Es
erschwert oder blockiert den selbstkritischen Diskurs, der in allen
Krisenländern zumindest bei einer Minderheit schon deutliche Konturen
angenommen hat. Uns in Deutschland aber sollte klar sein, dass, wer
seinen Argumenten vertraut, es nicht nötig hat, sein Gegenüber zu
provozieren oder gar zu demütigen.
Es lohnt sich für alle 27 Partner in unserer
Gemeinschaft noch einmal die Versprechen in Erinnerung zu rufen, mit
denen die Währungs- und Wirtschaftsunion einst gestartet ist. Diese
Union wird getragen von der Idee, dass Regeln eingehalten und
Regelbrüche geahndet werden. Diese Union ist ein Geben und Nehmen, sie
darf für niemanden eine Einbahnstraße sein. Sie folgt dem Prinzip der
Gegenseitigkeit, der Gleichberechtigung und der Gleichverpflichtung.
Mehr Europa muss heißen: mehr Verlässlichkeit. Verlässlichkeit und
Solidarität, sie stehen und fallen miteinander.
Ich bin überzeugt: Wenn in Europa alle diesem
Grundsatz verpflichtet bleiben, dann kann innereuropäische Solidarität
sogar noch wachsen, um längerfristig die großen Ungleichheiten auf
diesem Kontinent zu verringern, bessere Lebensverhältnisse dort zu
schaffen, wo sie verbessert werden müssen, wo Menschen in ihrer Heimat
noch keine Perspektive haben, aber unbedingt eine brauchen.
Sehr geehrte Damen und Herren, mehr Europa
fordert: mehr Mut bei allen! Europa braucht jetzt keine Bedenkenträger,
sondern Bannerträger, keine Zauderer, sondern Zupacker, keine
Getriebenen, sondern Gestalter.
Sie, Exzellenzen, die hier heute anwesend sind,
Sie wissen, dass selbst mit einer besten pro-europäischen Haltung
dennoch manche Bemühungen um Gestaltung ins Leere laufen können. Solche
Schwierigkeiten möchte ich heute nicht ausblenden. Eines der
Hauptprobleme bei der Herausbildung einer engeren europäischen
Gemeinschaft scheint mir die unzureichende Kommunikation innerhalb
Europas zu sein. Und damit meine ich eigentlich weniger die Ebene der
Diplomatie, als vielmehr den Alltag der Bevölkerung, richtiger der
Bevölkerungen.
Bis heute nimmt jedes der 27 Mitgliedsvölker
dieselben europäischen Verträge oft auf sehr unterschiedliche Weise
wahr. Die Berichterstattung der Medien erfolgt fast ausschließlich unter
nationalen Gesichtspunkten. Das Wissen über die Nachbarn ist immer noch
gering – von einer vergleichsweise kleinen Gruppe von Studierenden,
Geschäftsleuten, Intellektuellen und Künstlern einmal abgesehen. Europa
hat bislang keine gemeinsame europäische Öffentlichkeit, die sich mit
dem vergleichen ließe, was wir national als Öffentlichkeit beschreiben.
Zunächst fehlt uns dazu einfach eine gemeinsame
Verkehrssprache. In Europa sind 23 Amtssprachen anerkannt, zahllose
andere Sprachen und Dialekte kommen noch hinzu. Ein Deutscher, der nicht
auch Englisch oder Französisch spricht, wird sich kaum mit einem
Portugiesen verständigen können, ebenso wenig mit einem Litauer oder
Ungarn. Es stimmt ja: Die junge Generation wächst ohnehin mit Englisch
als Lingua franca auf. Ich finde aber, wir sollten die sprachliche
Integration nicht einfach dem Lauf der Dinge überlassen. Mehr Europa
heißt nämlich nicht nur Mehrsprachigkeit für die Eliten, sondern
Mehrsprachigkeit für immer größere Bevölkerungsgruppen, für immer mehr
Menschen, schließlich für alle! Ich bin überzeugt, dass in Europa beides
nebeneinander leben kann: die Beheimatung in der eigenen Muttersprache
und in ihrer Poesie und ein praktikables Englisch für alle Lebenslagen
und Lebensalter.
Mit einer gemeinsamen Sprache ließe sich auch mein
Wunschbild für das künftige Europa leichter umsetzen: eine europäische
Agora, ein gemeinsamer Diskussionsraum für das demokratische
Miteinander. Diese Agora wäre noch umfassender, als die Schülerinnen und
Schüler sie vielleicht aus dem Geschichtsbuch kennen, den im antiken
Griechenland zentralen Versammlungsort, Kult- und Gerichtsplatz
gleichzeitig, einen Ort des öffentlichen Disputs, wo um das geordnete
Zusammenleben gerungen wurde.
Wir brauchen heute ein erweitertes Modell.
Vielleicht könnten ja unsere Medienmenschen, könnte unsere
Medienlandschaft so eine Art europafördernde Innovation hervorbringen,
vielleicht so etwas wie Arte für alle, einen Multikanal mit
Internetanbindung, für mindestens 27 Staaten, 28 natürlich, für Junge
und Erfahrene, Onliner, Offliner, für Pro-Europäer und Europa-Skeptiker.
Dort müsste mehr gesendet werden als der Eurovision Song Contest oder
ein europäischer Tatort. Es müsste zum Beispiel Reportagen geben über
Firmengründer in Polen, junge Arbeitslose in Spanien oder
Familienförderung in Dänemark. Es müsste Diskussionsrunden geben, die
uns die Befindlichkeiten der Nachbarn vor Augen führten und verständlich
machten, warum sie dasselbe Ereignis unter Umständen ganz anders
beurteilen als wir. Und in der großen Politik würden dann nach einem
Krisengipfel die Türen aufgehen, und die Kamera würde nicht nur ein
Gesicht suchen, sondern die gesamte Runde am Verhandlungstisch
einblenden.
Ja, ob nun mit oder ohne einen solchen TV-Kanal:
Wir brauchen eine Agora. Sie würde Wissen vermitteln, europäischen
Bürgersinn entwickeln helfen und auch Korrektiv sein, wenn nationale
Medien in nationalistische Töne verfallen, ohne Sensibilität oder
Sachkenntnis, über den Nachbarn berichten und Vorurteile fördern. Ich
weiß, dass viele Medienkonzerne die europäische Öffentlichkeit schon zu
stimulieren versuchen, mit Beilagen aus anderen Ländern, mit
Schwerpunktthemen zu Europa und vielen guten Ideen. Ich weiß das. Aber
bitte mehr davon – mehr Berichterstattung über und mehr Kommunikation
mit Europa!
Wir sprechen gerade über Kommunikation.
Kommunikation ist für mich kein Nebenthema des Politischen. Eine
ausreichende Erläuterung der Themen und Probleme, sie ist vielmehr
selbst Politik. Eine Politik, die mit der Mündigkeit der Akteure auf der
Agora rechnet und die Bürger nicht als untertänig, desinteressiert und
unverständig abtut.
Mehr Europa heißt für mich: mehr europäische
Bürgergesellschaft. Ich freue mich daher, dass 2013 das Europäische Jahr
der Bürgerinnen und Bürger ist. Ich würde nicht in allen Einzelheiten
so weit gehen wie die Autoren des „Manifests für eine Neugründung
Europas“, aber ich hege große Sympathien für die Überschrift, die sie
über ihr Manifest gestellt haben und unter der sich die Unterstützer
sammeln. Sie lautet: „Frage nicht, was Europa für dich tun kann, frage
vielmehr, was du für Europa tun kannst!“ Wir wissen alle, dass das eine
Adaption eines noch berühmteren Satzes ist, aber diese Einstellung würde
uns gewaltig voranbringen. Der Europäer Gauck hat – wenn er sich nun
fragt, was er sich wünscht in dieser Situation – ein paar Antworten auf
eine Liste geschrieben.
Erstens: Sei nicht gleichgültig! Brüssel mag weit
weg sein, aber die Themen, die dort verhandelt und beschlossen werden,
sie gehen jeden an. Es darf uns nicht egal sein, wie die EU auf
Standards Einfluss nimmt, die dann bei uns im Kinderzimmer oder auf dem
Esstisch wirksam werden. Es darf uns nicht egal sein, welche Maßstäbe
wir anlegen an die Außen-, Sicherheits-, Umwelt- und
Entwicklungspolitik, die eben auch in unserem Namen stattfindet. Es darf
uns nicht egal sein, wie die EU mit Menschen umgeht, die aus
politischen Gründen ihr Land verlassen müssen.
Zweitens: Sei nicht bequem! Die Europäische Union
ist kompliziert, wahrlich, aber sie muss auch sehr Kompliziertes
leisten. Sie hat es verdient, dass ihre Bürgerinnen und Bürger
Interesse zeigen und sich informieren. Sie hat es doch verdient, dass
mehr als 43 Prozent der Wahlberechtigten an der Europawahl teilnehmen.
Und sie hat es nicht verdient, dass Brüssel zum Sündenbock gemacht wird,
besonders dort nicht, wo nationale Interessen oder nationales Versagen
Fehlentwicklungen verursacht haben.
Drittens: Erkenne deine Gestaltungskraft! Ein
besseres Europa entsteht nicht, wenn wir die Verantwortung dafür immer
nur bei anderen sehen. Es gibt ja auch für uns so viele Möglichkeiten.
Wer etwas anstoßen oder etwas verhindern will, der nutzt eine
Europäische Bürgerinitiative. Wer etwas gründen oder bauen will, der
kann einen Förderantrag stellen. Und wer Gutes tun und seine Nachbarn
kennenlernen will, der bewirbt sich beim Europäischen
Freiwilligendienst. Jede und jeder kann einen Grund finden für den Satz:
Ja, ich will Europa! Wer kennt nun diesen Satz, diesen Wunsch besser
als Sie hier, die Sie heute im Saal sitzen? Wer kennt ihn besser?
Mein Dank richtet sich heute an so viele,
angefangen bei den Europabotschaftern hier im Saal und draußen über die
Europaaktivisten in Bildung, Wissenschaft und Gesellschaft bis hin zu
den besonders fantasievollen Betreuerinnen von bilingualen Kitas in den
Euroregionen. Ich danke allen, die Europa auf tausendfache Weise
wirtschaftlich, sozial und kulturell vernetzen. Wichtig ist mir auch der
Dank an unsere deutschen Politikerinnen und Politiker, die ihre
nationalen Aufgaben mit unseren europäischen Verpflichtungen verbunden
haben. Besonders denke ich dabei an die, und besonders danke ich ihnen,
die beim Begriff Solidarität nicht allein die Sorge um den Besitz der
Besitzenden angetrieben hat.
Sehr geehrte Damen und Herren, gerade wir
Deutschen wissen doch tief in unserem Herzen, dass da etwas ist, was uns
mit Europa in ganz besonderer Weise verbindet. War es doch unser Land,
von dem aus alles Europäische, alle universellen Werte zunichtegemacht
werden sollten. War es doch unser Land, dem die westlichen Siegermächte
trotzdem gleich nach dem Krieg Solidarität und Hilfe zuteilwerden
ließen. Uns blieb damals erspart, was nach unserer Hybris leicht hätte
folgen können: eine Existenz als verstoßener Fremdling außerhalb der
Völkerfamilie.
Stattdessen wurden wir – was erst recht aus
heutiger Sicht unerwartet und ganz wunderbar erscheint – wurden wir
Eingeladene, Empfangene und Aufgenommene. Partner!
Wir kamen zu der beglückenden Erfahrung, dass wir
uns selbst achten konnten und von anderen geachtet wurden, als wir
„nicht über und nicht unter anderen Völkern“ sein wollten. So haben wir
uns mit Europa verbunden, wir haben uns Europa geradezu versprochen.
Und heute erneuern wir dieses Versprechen.
Wir werden wohl innehalten vor einer Schwelle,
werden neu nachdenken. Werden aber dann mit guten Ideen und guten
Gründen Vertrauen erneuern, Verbindlichkeit stärken und werden weiter
bauen, was wir gebaut haben – Europa.
www.bundespräesident.de
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.