Erschienen in Ausgabe: No 86 (04/2013) | Letzte Änderung: 06.04.14 |
von Michael Lausberg
Jean
Piaget vertrat eine Sichtweise der sittlichen Erziehung, die im Gegensatz zu
der Durkheims, bereits im Erziehungsvorgang das Schwergewicht auf
Freiwilligkeit, Gegenseitigkeit und Autonomie legt. Diese Sichtweise war von
der Hoffnung auf eine verwandelte Neugestaltung menschlichen Zusammenlebens
durch kommende Generationen begleitet.
Es
lassen sich in Durkheims Konzept von moralischer Erziehung eine einseitige
Betonung der Momente von Disziplin und Autorität sehen, ohne dass die Erziehung
sich die Aufhebung der der Disziplin und Autorität entsprechenden seelischen
Dispositionen zum Ziele setzte. Die Möglichkeit einer solchen Interpretation
hing damit zusammen, dass Durkheim auf eine eigengesetzliche Lebenssphäre der
Kinder keine Rücksicht nimmt, sondern die Lehrer als Vertreter der
nichtfamiliären Sphäre des Staates versteht, die die Kinder den Forderungen
einer objektiven Erwachsenenwelt unterwirft.[1]
Die moralische Erziehung hat ihr Schwergewicht bei Durkheim in Disziplin,
Autorität und einheitlicher von Lehrern geleiteter Kollektivität. Aber diese
Konzeption der moralischen Erziehung ist von einer Größe abhängig: nämlich der
Nation als der Quelle angeblich höchster Werte, denen sich alle Einzelnen und
Gruppen zu unterwerfen haben. Durkheim bemerkt, dass die Verpflichtung ein
wesentliches Moment einer Moralvorschrift ist. Menschliche Sinnlichkeit und
menschliche Vernunft verstanden als Vermögen von Individuen müssen durch in der
Gesellschaft vorgegebene Regeln gezügelt werden.[2]
Piaget
hing einer ganz anderen Auffassung von sittlicher Erziehung an. In der
Gesellschaft sind nach Piaget die Interessen von „tausend einander kreuzenden
Gruppen“ am Werk.[3]
Für eine so verstandene Gesellschaft scheint eine Übereinstimmung in Dogmen und
Riten nicht wesentlich zu sein. Ihre Einheit wird nicht durch „gemeinsame
Inhalte“, sondern durch Weisen des Vorgehens und die Befolgung von
Verständigungsregeln[4]
garantiert. In einer solchen Gemeinschaft sind Aktivität und Kreativität von Einzelnen
und Gruppen erwünscht. Sie bedeuten in ihr keine Gefährdung der Einheit und des
Bestandes der Gesellschaft: „Jedem steht die Einführung von Neuerungen frei,
jedoch in dem Maße, als es ihm gelingt, sich den anderen verständlich zu machen
und die anderen zu verstehen.“[5]
Piaget
versuchte durch seine Konzeption der moralischen Erziehung Grundtendenzen der
modernen Welt Rechnung zu tragen. Er wollte in der intellektuellen und in der
moralischen Erziehung zu der Persönlichkeit erzogen wissen, die sich durch
Selbständigkeit und Gegenseitigkeit auszeichnet. Er lässt die Bildung auf dem
rein intellektuellen Sektor „unauflöslich mit dem Gefüge, der für das
schulische Leben so grundlegenden Gefühlsbindung, sozialen und moralischen
Beziehungen“ verknüpft sein.[6]
Der Gegner, gegen den er seine Thesen aufstellt, ist die traditionelle Schule,
die Herrschaft der Lehrerautorität unterstellt war und von den Schülern
Unterordnung verlangt. Piaget bemerkte: „Tatsächlich hat die auf Autorität und
einseitigem Respekt aufbauende Erziehung im Hinblick auf die Moral dieselben
Nachteile, wie im Hinblick auf den Verstand: Statt das Individuum anzuleiten,
selbst die Regeln aufzustellen und die Disziplin aufzubauen, denen es sich
anschließend unterwirft (…), nötigt man ihm ein ganzes System fertig
vorgegebener und von vornherein kategorischer Imperative auf, (…).“[7]
Es
wird von Piaget eine Entgegensetzung vorgenommen zwischen alter autoritärer
sittlicher Erziehung und moderner sittlicher Erziehung, die auf Aktivität,
Produktivität und eigener Einsicht beruht. In der neuen sittlichen Erziehung
fallen Autorität, Zwang und Gehorsam weg. Sittliche Erziehung verläuft in einer
Richtung, in der sich das ergibt, und zwar noch innerhalb der erzieherischen
Verhältnisse. Solange die Moral nur auf dem Respekt von Personen beruht,
„bleibt sie, was sie von Anbeginn an war: ein Werkzeug der Unterordnung unter
fertig vorgegebenen Regeln und Vorschriften, d.h. unter Regeln, die nicht dem
Subjekt entstammen, das sie befolgt.“[8]
Die aktiven Methoden veranlassten das Kind, „selbständig die Voraussetzungen
für eine von ihnen erfolgende und mithin nicht mehr bloß oberflächliche,
sondern echte Umwandlung aufzubauen.“[9]
Piaget
charakterisiert den von ihm ins Auge gefassten Wandel im Verlauf der sittlichen
Erziehung durch das Begriffspaar Heteronomie und Autonomie. Autonomie besagte,
dass die durch gegenseitige Achtung gebundenen Individuen „selbst an der
Ausarbeitung der für sie verbindlichen Regeln“ mitwirken.[10]
Bei der Regelausarbeitung der Schüler sollten Kriterien leitend sein, die es
gestatten, zu Normen zu gelangen, die alle anerkennen können. Solche
konstituierenden Regeln sind die gegenseitige Achtung und Autonomie aller
Einzelnen. Wie groß der Personenkreis sein sollte, der für die Ausarbeitung von
Regeln in Frage kommt, bleibt jedoch offen. Ebenso wird nicht geklärt, ob
Regeln für kurze oder lange Gestaltungsdauern aufgestellt werden sollen.
Im
Hintergrund der Piagetschen Auffassungen scheint eine Art
gesellschaftspolitische These zu stehen. So heißt es bei ihm: „Nur in der
Zusammenarbeit und durch sie (die Moral, M.L) kann eine vollkommene Autonomie
geben. Insofern bleibt die Moral gesellschaftlich, doch ist die Gesellschaft
nicht als ein Ganzes aufzufassen, und auch nicht als ein System von völlig
verwirklichten Werten; die Moral des Guten wird allmählich ausgearbeitet und
bildet im Hinblick auf die Gesellschaft eine Art ideale Gleichgewichtsform,
welche die aus dem Zwang hervorgegangenen unstabilen und ungenügenden
wirklichen Gleichgewichtsformen beherrscht.“[11]
Piaget
war von der Ansicht überzeugt, dass sich jene Umwandlung der jungen Menschen
zum Guten von selbst ergeben werde, wenn man den psychischen und sozialen
Gesetzmäßigkeiten der kindlichen Entwicklung nur freien Lauf lasse. Im Hinblick
auf die Ergebnisse des pädagogischen Experimentes des „Self-Government“: „Die
Ergebnisse sind überall dieselben, die die in Kindergesellschaften herrschenden
soziologischen und psychologischen Gesetze der Persönlichkeitsentwicklung (im
Gegensatz zu den vielfältigen Beziehungen, die die Entwicklung des in recht
unterschiedlich gearteten Erwachsenenwelt heranwachsenden Kindes beeinflussen)
relativ konstant bleiben.“[12]
Literatur:
-Lausberg,
M.: Kant und die Erziehung, Marburg 2009
-Piaget,
J.: Das moralische Urteil beim Kinde, 2. Auflage, Frankfurt/Main 1976
-Piaget,
J.: Das Recht auf Erziehung und die Zukunft unseres Bildungssystems. Zwei
Essays, München 1975
-Willmer,
P.: Durkheims Gesellschaftsbildung und ihre Folgen, München 1992
[1]
Piaget, J.: Das moralische Urteil beim Kinde, 2. Auflage, Frankfurt/Main 1976,
S. 392
[2]
Willmer, P.: Durkheims Gesellschaftsbindung und ihre Folgen, München 1992, S.
68
[3]
Piaget, Das moralische Urteil beim Kinde, a.a.O., S. 392
[4]
Vgl. dazu auch Lausberg, M.: Kant und die Erziehung, Marburg 2009, S. 16
[5]
Ebd.
[6]
Piaget, J.: Das Recht auf Erziehung und Die Zukunft unseres Bildungssystems.
Zwei Essays, München 1975, S. 46
[7]
Ebd., S. 54
[8]
Ebd., S. 52
[9]
Ebd., S. 54
[10]
Ebd.
[11]
Piaget, Das moralische Urteil beim Kinde, a.a.O., S. 400
[12]
Piaget, Das Recht auf Erziehung und Die Zukunft unseres Bildungssystems,
a.a.O., S. 56f
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