Erschienen in Ausgabe: No 87 (05/2013) | Letzte Änderung: 02.05.13 |
„Schreib alles auf; gerade wenn sich etwas zuträgt, glaubt man, es nie zu vergessen, weil die Gegenwart glänzt; aber die nächste tuts auch, und dann vergißt man.“ (Jean Paul - Gedanken)
von Stefan Groß
Die Weimarer Klassiker mochten ihn nicht, zumindest Goethe und Schiller –
jenen Johann Paul Friedrich Richter, den Franken aus Wunsiedel, 1763 geboren, der
sich später Jean Paul nennen sollte. Früh begabt, aus protestantischem
Elternhaus, immatrikulierte sich Paul in Leipzig. Aber anstatt der Theologie den
Dienst zu erweisen, zog es das
jugendliche Genie, das sich mit seinen frühen literarischen Experimenten in die
Spuren von Jonathan Swift und Christian Ludwig Liscow begab, zur Literatur hin.
Und bereits damals erwies sich das Genre – wie heute – als kein
leichtzuwandelnder Pfad, und so blieb auch Jean Paul jene Erfahrung einer
„gescheiterten Existenz“ nicht erspart. Der Autor des Siebenkäs, der mit seinem Hesperus oder 45
Hundposttage, Sofis Welt von Jostein
Gaarder bereits vorausnimmt,
mußte klein anfangen, finanzielle Not und familiäre Tragödien gingen dem
späteren Ruhm voraus, der sich 1793 mit dem Roman Die unsichtbare Loge vorerst
einstellen sollte. Dem Geist des französischen Aufklärers, Naturphilosophen und
Pädagogen Jean-Jacques Rousseau verpflichtet und durch Karl Philipp Moritz
geadelt, folgte der literarische Durchbruch dann peu á peu ab 1795.
Kaum ein Buch hatte damals für mehr Aufsehen erregt als die Hundposttage – ausgenommen Goethes Die
Leiden des jungen Werthers. Mit diesem Roman schrieb Paul sich in die
Herzen des Weimarer Rokokodichters und Prinzenerziehers von Anna Amalia –
Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried von Herder, dem Generalsuperintendent
und ersten Prediger an die Stadtkirche St. Peter und Paul zu Weimar, ein.
Während Herder in seinen Christliche(n) Schriften (1796-1799) seinem
tiefen Gefühl für das Christentum Ausdruck verlieh, 1799 mit seiner Metakritik
zur Kritik der reinen Vernunft und 1800 in der Kalligone gegen die
Transzendentalphilosophie des Königsberger Philosophen Kants wetterte, da die
Vernunft für Herder keineswegs erfahrungsunabhängig sein kann und die Schönheit
keinesfalls, wie Kant in der Kritik der
Urteilskraft formulierte, ein subjektives Urteil sein könne, das seinen
Grund in einem interesselosen Wohlgefallen habe, sondern vielmehr „die Darstellung, d. i. der sinnliche, zu
empfindende Ausdruck einer Vollkommenheit“, findet sich Jean Paul auch
nicht an der Seite von Friedrich Schiller, der ab 1799 bis zu seinem frühen Tod
1805 in Weimar residierte und in den 90er Jahren die rigorose Pflichtethik
Kants mit der Neigung zu verbinden suchte, sondern im Bannkreis von Wieland.
Dieser war 1797 von Oßmannstedt nach Weimar in die Nähe der alternden Herzogin
Anna Amalia gezogen; sie war es, die einst den Musenhof gründete und Goethe in
die Residenz an der Ilm holte. Für dessen Intimus Schiller blieb Jean Paul so
„fremd wie einer, der aus dem Mond gefallen ist“.
Einzigartig in der deutschen Literatur war die emotionale Tiefe, mit der
Jean Paul die weiblichen Charaktere in seinen Romanen ausstattete; nie zuvor
schien ein Dichter in die psychologisch-emotionalen Weiten der weiblichen Seele
derart einzutauchen. Das machte Eindruck und die frühere Schiller-Verehrerin Charlotte
von Kalb wechselte die Seiten. Bei ihr war er ein gern gesehener Gast; neben
der tiefen Zuneigung zum weiblichen Geschlecht, amourösen
Abenteuern, feierte Jean Paul in jenen Jahren mit dem Siebenkäs
(1796/97), Das Leben des Quintus Fixlein (1796), Der Jubelsenior
(1797), Das Kampaner Tal (1797) große Erfolge, der endgültige
Karriereschub aber sollte sich nicht am Thüringischen Musenhof einstellen,
sondern erst auf Vermittlung der preußischen Königin Luise in Berlin. Die
Brüder Schlegel, August Wilhelm und Friedrich, der Literat Johann Ludwig Tieck der
Theologe Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher und der Philosoph des
transzendentalen Ichs – Johann Gottlieb Fichte – zählten in Berlin zu jenen
Geistern, zu denen sich Paul hingezogen fühlte. Fichte hatte nach dem
Atheismusstreit in Jena seine Professur verloren und war mit seiner
Transzendentalphilosophie im Gefolge Kants auf Goethes Mißfallen gestoßen, der
mit dieser Art rationaler Letztbegründung wenig anzufangen wußte und sich
vielmehr an die Seite des damals jungen Schellings stellte, der bis 1800
zumindest eine Naturphilosophie reinsten Wassers verkündigte, die Goethes
empirisches Räsonieren weit mehr beflügelte.
Zwar war Jean Paul keineswegs wie Heinrich von Kleist ein Außenseiter, dem
es nicht gelang sich innerhalb der literarischen Welt zu etablieren, sich jenen
Einfluß und exponierte Stellung im geistigen Betrieb zu verschaffen, der ihn in
den Himmel der Unsterblichkeit führen sollte, aber mit diesem Kleist verbindet
den späteren Jean Paul ein fast rastloses Wanderleben. Die Zeit der räumlichen
Veränderungen wird dann auch zum Zeitpunkt, wo er vom Gipfel des Erfolges
heruntersteigen wird; er siedelt von Meiningen nach Bayreuth und von dort nach Coburg
– mit den Romanen dieser Jahre, mit dem Titan (1800-1803) und mit den Flegeljahre(n)
(1804-1805), die heutzutage zu seinen wichtigsten Werken zählen, verliert er zunehmend die Gunst des Publikums,
eine Ehrenpromotion in Heidelberg und der Ruf, „Lieblingsdichter der Deutschen“
zu sein, vermögen den Ruhm der Jugend nicht erneut heraufzubeschwören. Levana oder Erziehlehre (1807) und Dr.
Katzenbergers Badereise (1809) können daran nichts mehr ändern. Dabei ist Levana oder Erziehlehre eine
pädagogische Schrift, in dem das erste Mal der Gedanke einer „heilenden
Erziehung“ vertreten wird. Vor Freud ist es Paul, der die erzieherische
Bedeutung in der frühen Kindheit erkannte und betonte, daß wir mit „dem Erziehen“
[…] auf einen reinen weichen Boden entweder Gift- oder Honigkelche“ säen; „und
wie die Götter zu den ersten Menschen, so steigen wir zu den Kleinen herab und
ziehen sie groß oder – klein“. Wenn Jean Paul vom Zögling als wachsender Pflanze
spricht, dann ist er hier zumindest nicht weit von Goethe entfernt, der dieses
Bild für die Erziehung immer wieder gebrauchte.
Die letzten Lebensjahre sind von Krankheit und privaten Schicksalsschlägen
geprägt und – merkwürdigerweise – erkrankte der alternde Jean Paul am Grauen
Star, einer Krankheit, die er im Hesperus schon eingängig geschildert
hatte. Am 14. November 1825 verstirbt einer der genialsten deutschen Dichter,
von dem über hundert Jahre später der Schriftsteller Arno Schmidt sagen wird,
daß dieser „einer unserer Großen“ gewesen sei, „einer von den Zwanzig, für die“
er sich „mich mit der ganzen Welt prügeln würde“.
Wie Kleist polarisierte auch Jean Paul. Gattungsspezifisch war er nicht
einzuordnen, entzog sich mit der zerfließenden Formlosigkeit seiner Romane der
strikten Aufklärungslogik, ihrem Ernst und setzte statt ihrer Humor, Satire und
jenen milden Humor, für den er ebenso bekannt wurde. Nüchterner Realismus
wechselt übergangslos in ironische zerbrochene Idyllen, Handlungsabläufe werden
im Sinne der romantischen Ironie selbst unterbrochen und zum Gegenstand künstlerischer Reflexion. Die
Produktionsbedingungen der Kunst werden im Kunstwerk selbst reflektiert, ein
ästhetisches Verfahren das an Friedrich Schlegel erinnert, wo sich bekanntlich das
Kunstwerk im Schwebezustand zwischen Selbstschöpfung und Selbstvernichtung befindet,
allein eine Verabsolutierung der Kunst im Sinne einer Subjektivierung des
Autors lehnte Jean Paul ab. Die romantische Idylle war seine Sache nicht,
ebensowenig wie für seine Antipoden Goethe und Schiller.
Deutlich wird dieser Drang zur Dekonstruktion schon im Hesperus, wo die Romanhandlung immer wieder durchbrochen, in
Nebenhandlungen und andere, teils verwirrende, ambivalente Doppelhandlungen
verlagert wird; Jean Paul findet im Spiel mit einer Vielzahl von Identitäten
einen Reiz, der jedwede Logik durchkreuzt und eine Distanz zu Rationalismus und
Metaphysik durchblicken läßt und darüber hinaus eine gewisse Nähe zur Mystik
aufbaut. Die Programmatik ist nicht der Ernst, sondern die bewußte Verwirrung,
die Irritation, die den Leser dazu auffordert, diese Irritationen
zu verarbeiten; aktive Textanalyse im Sinne eines postmodernen Lesens, der
immer wieder neue Sinngehalte eröffnet und freigibt, der den Text zum
Stoffvon vielfältigen
Deutungsmöglichkeiten werden läßt, findet sich also bereits vor Derridas différance.
Gleichwohl Jean Paul in seiner „Kleinen Nachschule zur Ästhetischen
Vorschule“ Arthur Schopenhauers Werk Die
Welt als Wille und Vorstellung als
erster würdigt, will er sich doch nicht mit dessen Pessimismus anfreunden.
Schopenhauers Schrift ist ein “genialphilosophisches, kühnes, vielseitiges Werk
voll Scharfsinn und Tiefsinn”. Loben will er es, unterschreiben tut er es
nicht. Was den Sohn aus Wunsiedel stört, ist die oft “trost- und bodenlose
Tiefe, vergleichbar dem melancholischen See in Norwegen, auf dem man in seinen
Ringmauern von steilen Felsen nie die Sonne, sondern in der Tiefe nur den
gestirnten Taghimmel erblickt, und über welchen kein Vogel und keine Woge
zieht”. Gegen diese Weltanschauung des Pessimismus stellt Jean Paul seinen
gemäßigten Optimismus, der ohne große Illusionen und Utopien auskommt, sondern dagegen
oft in humorvoller Resignation endet; Jean Paul ging es um das Glück des
Menschen in einer diesen immer mehr sich entfremdenden Umwelt. Diese Heiterkeit
herzustellen, darin zeigt sich, wie Thomas Mann es formulierte, „ein
Besinnliches, Gemüthaftes, Humoristisch-Weltüberlegenes“. Aber diese
Heiterkeit widerstrebt zutiefst dem puren Genuß, der als „selbstische Gebärde“
jede echte Teilnahme an wahrer Kunst und Leben ver-sagt. Die Heiterkeit, die
nicht nur in Levana, sondern auch in
der Vorschule zur Ästhetik eine bedeutende
Rolle spielt, wird zum Gradmesser echter Tugendhaftigkeit, und die Aufgabe der
Pädagogik bleibt es, zu dieser Heiterkeit zu erziehen, sie dem sinnlosen und bloß
auf das augenblickliche Dasein sich reduzierenden Genuß entgegenzustellen, in
der formalen Gewißheit jedoch, daß die wahre Heiterkeit ein Ideal ist, die sich
nie befriedigen läßt, sondern stets in Himmel und Ferne schaut, stets also in
der Gewißheit, sie selbst nie ganz zu besitzen – statt Genußbefriedigung unerfüllbares
Streben. Es gibt kein Arkadien und Elysium und auch kein Zurück, wohl aber die
Sehnsucht nach ihnen bleibt und damit ein der Trost der menschlichen Existenz.
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