Erschienen in Ausgabe: No 96 (02/2014) | Letzte Änderung: 24.01.14 |
von Heike Geilen
Kinder
brauchen Erfahrungen und Erlebnisse im Umgang mit Traditionen. Dies gibt ihnen
in verschiedensten Lebenslagen Gefühle der Sicherheit und Geborgenheit. Erleben
sie doch immer wieder, dass das, was eben noch da war, sich morgen schon
verändert hat. Trotzdem müssen sie sich natürlich auch in unserer heutigen Welt
zurechtfinden, auch wenn die Vergangenheit mit ihren tradierten Überlieferungen
erhalten bleiben und nicht durch jeden neuzeitlichen Trend verdrängt werden
sollte. Dabei gilt es ein harmonisches Gleichgewicht zu finden, denn
unbestritten stecken in Traditionen auch Gefahren. Sie können die theoretische
Entfaltung, aber auch die Durchsetzung von Alternativen, Innovationen und neuen
Problemlösungen behindern.
Traditionen
bestimmen auch das Leben in Anatevka, einem kleinen jüdischen Dorf inmitten des
russischen Reiches, in dem der Milchhändler Tevje mit seiner Frau Golde und
fünf Töchtern in bescheidenen Verhältnissen lebt. Sie geben vor wie man isst,
schläft, arbeitet oder sich kleidet. Doch der Zug der Zeit lässt sie nicht mehr
so ohne weiteres aufrechterhalten. Tevjes Töchter zum Beispiel verzichten nur
zu gerne auf die Dienste der Heiratsvermittlerin Jente und bringen damit ihren
Vater in einige Schwierigkeiten. So zieht die Älteste - Zeitel - einen armen
Schneider dem von Jente empfohlenen reichen Fleischer vor, Hodel wiederum liebt
einen revolutionären Studenten, dem sie sogar in die Verbannung nach Sibirien
folgt und Chava setzt allem noch ein Krönchen auf. Sie heiratet einen
nichtjüdischen, christlichen Russen. Tevje ist ratlos und sein traditionelles
Weltbild wird auf eine harte Probe gestellt. Mehr als ein Konflikt ist
vorprogrammiert. Doch damit nicht genug. Was sich in einem Pogrom ankündigt,
gipfelt im Evakuierungsbefehl des russischen Zaren: Die jüdische Bevölkerung
wird vertrieben. Doch Tevje lässt sich in seinem unerschütterlichen Lebensmut
einfach nicht unterkriegen.
Der
kleine Kindermann-Verlag aus Berlin fungiert gleichfalls als Bewahrer und
Vermittler von Traditionen. Bereits in seinen Reihen "Weltliteratur für
Kinder" und "Poesie für Kinder" stellte er dies unter Beweis.
Nun erfolgte der Start zu einer neuen Serie: "Weltmusicals für Kinder".
Und was liegt da näher, als mit eben jenem Klassiker zu beginnen, dem 1964 am
Broadway ein Überraschungserfolg beschienen war. "Wenn ich einmal reich
wär" ist zu einem Hit und Evergreen geworden. Barbara Kindermann, Autorin
und Verlegerin, hat dafür den Text - eine Gratwanderung zwischen Tradition und
Neuanfang, jiddischem Humor und anrührender Tragik, Existenzkampf und
Lebenslust - kindgerecht aufbereitet. Umrahmt von denpastelligen und witzigen Illustrationen Jenny
Brosinskis, die immer wieder neue Details entdecken lassen und deren filigrane
Figuren geradezu durch das Buch wimmeln, ist ein wunderbares und vor allem
hochwertiges (Vor-)Lesebuch für Kinder von sieben bis neun Jahren entstanden.
Gerade die gelungene Kombination von gut verständlichem Text und sich kongenial
ergänzendem, lustigem, aber keineswegs albernem Bild, lädt die kleinen Leser
und/oder Zuhörer auf eine fantasievolle und lehrreiche Entdeckungsreise ein.
Fazit:
Kinder haben großes Interesse daran "wie es früher einmal war".
"Anatevka" leistet dabei einen wertvollen Beitrag. Das Buch bereitet
Konflikte und Umbrüche in einer jüdischen Familie sowie die Bedrohung des
osteuropäischen Judentums durch die Auswirkungen der russischen Pogrome
kindgerecht auf.
Mit
Klassikern wachsen: Bestimmt nicht der allerschlechteste Zugang zu bedeutenden
Texten der Vergangenheit. Warum also nicht frühzeitig damit anfangen, zumal
wenn so liebevoll aufgemacht wie hier.
Barbara
Kindermann, Jenny Brosinski
Anatevka
Kindermann
Verlag, Berlin (März 2013)
36
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
393402940X
ISBN-13:
978-3934029408
Preis:
15,50 Euro
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