Erschienen in Ausgabe: No. 31 (1/2008) | Letzte Änderung: 25.02.09 |
Die Schmuggler entwischen den Zöllnern
von Gonsalv K. Mainberger
Obwohl ich dem Wesen nach
kein Metaphysiker bin, habe ich Tage schmerzlichster, ja physischer Qual damit
verbracht, metaphysische und religiöse Probleme zu drehen und zu wenden… Rasch
merkte ich, dass, was ich für die Lösung des religiösen Problems hielt, nichts
anderes als das Rationalisieren eines emotionalen Problems war.Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares.
Zürich/Frankfurt a.M. 2003/2006, Nr. 332, S 323.
I. Kurzbericht über meinen langen Weg zum partikulären Atheismus
Was ich hier zum Thema Philosophie
und Religion zu sagen mir vorgenommen habe, ist auf einen ziemlich genauen
Zeitpunkt hin fokussiert. Die Redeabsicht ist auf einige hier Anwesende
gemünzt. Wir haben eine uns gemeinsame religiös kodierte Situation erlebt und
gestaltet. Ich spreche zu Ihnen im Hier und Jetzt über ein Damals bis zum Heute:
über die mir bis heute zugewiesene, geschenkte Lebenszeit – die Frist von 1924
bis 2007. Philosophie und die Religion ist ein von mir in dieser Zeit gelebtes
Thema. Es war einst ein mir als ehemaligem Dominikaner zugewiesenes Amt. Ich
mache daraus eine jetzt aufbereitete und zurechtgemachte Erzählung. Ich spreche
noch immer aus einer zu verantwortenden Situation heraus. Es kommt mir vor wie
ein Bühnenstück. Sie mögen es mit Ihren Ohren und aus Ihrer Lebenswelt heraus
wahrnehmen wie eine autobiographische Erzählung.
Dieses für Sie zurechtgemachte
Bruchstück handelt vom Verhältnis Philosophie und Religion innerhalb meiner
eigenen Lebenszeit. Von einem lächerlich unbedeutenden Stück Weges mithin, auf
welchem ich Erfahrungen mit Frömmigkeit im Denken und Handeln gemacht, mich mit
Glauben, rationalen Glaubensapologien (man denke nur an den vorkonziliaren
Uebervater, P. Réginald Garrigou-Lagrange, Theologia fundamentalis secundum s.
Thomae doctrinam, Paris 1926, ders., Le sens commun: la philosophie de l’être
et les formules dogmatiques, Paris 1936, ders., Dieu, son existence et sa
nature. Solution thomiste des antinomies agnostiques, Paris (1928) 1950) und
Zweifeln herumgeschlagen, Religion gepredigt wie auch Philosophie als
Lebensform gelebt und gelehrt habe. Ich tat es anfänglich mit enthusiastischem
Eifer, mit vorbehaltloser Zustimmung. Allmählich streifte ich die halb
selbstverschuldete, halb aufoktrojierte Abhängigkeit ab und der Glaube
vermischte sich mit einer abgründigen, lachenden Skepsis.
Schon als Bub hatte Religion von mir Besitz
ergriffen, war ich doch betörter Zuschauer einer Auferstehungsfeier in der
Pfarrkirche St. Martin St. Gallen. Nach vorbereitenden Karwochenliedern
öffneten sich am Karsamstagabend knirschend die im Chor der neobarocken Kirche aufgestellten
Heiliggrabkulissen und ein Lichtermeer ergoss sich über die Gläubigen, die ins
schallende Christus ist erstanden,
alleluja einstimmten. Ich erzähle hier Religion im Modus der Selbsterfahrung.
Ich habe ab 1947 die römisch-katholische Religion gelebt und mich total identifiziert
mit einer elitären und zugleich globalisierten Religionsform, eben als Mitglied
des Predigerordens, gegründet vom Spanier Dominikus und über all die Zeitläufte
hinweg weiterentwickelt als mythisches Kollektiv bis zum heutigen Tag. Der
religiös kodierte Lebensabschnitt dauerte bis zum Ordensaustritt 1975. Der jetzige,
voraussichtlich letzte Lebensabschnitt, der mir gegeben ist, ging und geht teils
beschwingt voran im Zusammen- und Miteinandersein mit meiner Frau Elisabeth. Teils
spielt sich manches schleppend ab, gewürzt vom selbstreflektiven Gefühl der
Derelinquenz[1], bedrängt von der meist schmerzlichen
Memoria an Fehlleistungen und Niederlagen, erlebt auch als Aufschub und
willkommene Verzögerung des finalen Desasters. Zum jetzigen Lebenspensum gehört
die besonnene Religiosität, die Distanzierung von dem, was vormals die Asketik als
die blandimenta mundi, als Blendwerke
dieser Welt bezeichnete und den frommen Ordensmann zu Entsagung und Verzicht
anleitete. Der Frömmigkeitsstil hat sich säkularisiert und zivilisiert.
Die Selbst- und Fremderfahrung der wachsenden
Ablösung vom einst tragenden Grund und der verstummenden Distanzierung von der
religiösen Denk- und Lebensform sei inzwischen die Signatur der westeuropäischen
Kultur im Ganzen und im Einzelnen, heisst es, vorab in akademischen Kreisen.
Fakt ist: Fast 40 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer beten mehrmals
wöchentlich; nur gerade14 Prozent wiederum geben an, sie würden religiöse
Grundsätze „ziemlich“ oder „sehr“ in das politische Denken einbeziehen. (Vgl.
Bertelsmann-Stiftung, Religionsmonitor 2008; www.religionsmonitor.com.) Wie
verträgt sich das mit der Interpretation Derridas, das Christentum sei der Tod Gottes? Ist Gott tot für
jene 86 Prozent Schweizerinnen und Schweizer, welche religiöse Grundsätze nur
wenig oder überhaupt nicht in ihr politisches Denken einbeziehen? Wie tot ist
der Gott der überraschend zahlreichen frommen Beterinnen und Beter?
Vom ehemaligen Dominikanerkloster
und berühmten Studienhaus Walberberg, diesem locus amoenus, kann man sagen, mit dem Psalm: hic est locus iste terribilis. Walberberg versammelte und
verkörperte beide Typen, den holdseligen Heinrich Seuse wie den
bellizistischen, aber eben deshalb heilig gesprochenen Papst Pius V., den
„Sieger von Lepanto“. Ab diesem Herbst wird Walberberg nur noch im Gedächtnis
lebendig sein. Vielleicht geht dereinst eine Sage, wie sie Ernest Renan (1823–1892)
auf der ersten Seite seiner Jugenderinnerungen (Souvenirs d’enfance et de
jeunesse. Paris (1882) 151923, Préface I-II) erzählt, dass nämlich die
Leute in der Bretagne, Renans Heimat, auf der Steilküste ab und zu die Glocken
ihres im Meer versunkenen Dorfes läuten hörten … die Leute dieser Gegend um
Walberberg und ihrer Dörfer im Vorgebirge würden dann die Glocken des im Rhein
versunkenen Klosters hören. Mit der römisch-katholischen Religion geht es mir
ähnlich wie Ernest Renan es mit bewundernswürdigem Respekt schildert: Sie
klingt mir unvergesslich im Ohr, aber all ihre wundersamen Choralmelodien, ihre
Monstranzen und Mysterien, ihr Wortschatz und ihre Klage, ihre Versprechen samt
ihrem Bannstrahl sind verschwunden und verstummt. Ab und zu höre ich es von
weit her läuten…
Mit einem intensiven Gefühl der
Verbundenheit bin ich an diese wohl letzte, 52. Tagung des Philosophisch-theologischen Arbeitskreises gereist. Ich habe diesem
Gremium viel zu verdanken. Ich besinne mich aufs Ganze der Philosophie und spreche
zugleich über meine Erfahrungen innerhalb des Partikularraumes, als den ich
inzwischen die römisch-katholische Religion verstehe. In diesem séparé halte ich mich noch immer ab und
zu auf. Nicht etwa physisch oder lebensmässig, sondern nur im Kontext einer gelegentlich
im Freundeskreis erinnerten Vergangenheit. Meine damaligen Erfahrungen und
deren Aufarbeitung heute erachte ich als minderstufig, als relativ unbedeutend.
So wie ich selber dereinst Asche sein werde, wird alles schon anderntags bereits
eine belanglose Episode sein. Sie soll hier, im Rahmen dieser Tagung, in einer
Rückwende reflexiv bearbeitet werden. So fällt dem Belanglosen vielleicht eine
Relevanz zu, die zu beurteilen nicht meine Sache ist. Resultat ist mein Erzähltext,
den hier vorzutragen ich mir herausnehme. Der Text ist Signatur meines
Bewusstseins. Er wird gebildet und belebt vom wilden Haufen meiner Erinnerungen.
Er ist gemünzt auf einen Teil meiner religiösen Väter und akademischen Lehrer. Er
möchte gerne Zeuge sein, Echo meiner derzeitigen philosophisch geprägten
kognitiven Aufrichtigkeit und meiner lebenspraktischen Ehrlichkeit.
Mein doch eher persönliches Vorgehen
ist mit einer gewissen Zumutung verbunden. Um diese etwas aufzufangen und
abzufedern, berufe ich mich auf drei ausgewiesene Kenner der philosophischen
und religiösen Szene. Sie bestärkten mich in meinem Unterfangen. 1) Friedrich
Wilhelm Graf, (protestantischer) Ordinarius an der Universität München,
schreibt in seinem 2004 erschienenen Buch „Die Wiederkehr der Götter. Religion
in der modernen Kultur“:
„Trotz allen Bemühungen um methodische Distanz
und begriffliche Klarheit sind die akademischen Deutungsexperten der Religion
bei ihren Analysen immer auch durch ihre individuelle religiöse Sozialisation
geprägt. Elemente des Subjektiven lassen sich beim Thema Religion nicht zum
Verschwinden bringen.“ (228).
2) An der in Darmstadt zu seinem 70.
Geburtstag ausgerichteten Feier sprach Gernot Böhme zum Thema „Die Philosophie
ernst nehmen“ und bemerkte,
„die Philosophie an der Universität sei vor
allem Wissenschaft und habe das auch als Auftrag zu erfüllen. ‚Philosophie
ernst nehmen’ verlange aber eine Verbindung von Philosophie und Person, und
dazu brauche es ausseruniversitäre Institutionen.“ (Gemäss Referat in: Information Philosophie,
2007/3, 124).
Im Zeitalter der Autobiographien,
die jetzt Konjunktur haben, fehlen Zeugenschaften in ganz präzisen akademischen
Wissenssparten nicht. Ich darf 3) hinweisen auf die Sammlung, die Konrad Hilpot
herausgegeben hat unter dem Titel „Theologische Ethik – autobiographisch“,
Paderborn 2007. Einer, der die Elemente des Subjektiven als theologischen
Diskurs erstmals und systematisch aufgearbeitet hat, war Jacques Pohier mit
seinem Buch „Wenn ich Gott sage“ (Quand je dis Dieu, Paris 1977). Pohier, mit dem
dreifachen amtskirchlichen Predigt-, Liturgie- und Lehrverbot bestraft, hat den
Orden verlassen müssen, hat geheiratet und ist am 15. Oktober 2007 in Paris verstorben.
Seine ehemaligen Pariser Mitbrüder haben ihm in der Chapelle de Montparnasse
eine würdige Abdankung gehalten.
Falls es sich als nötig erweisen
sollte, meinen Stil und meinen Ansatz hier zu rechtfertigen, könnte ich mich
auf die angeführten Autoritäten berufen. Die Kette philosophischer
Meisterdenker, die sich des Verhältnisses von Philosophie und Religion
angenommen haben, noch leben oder seit langem oder erst kürzlich verstorben
sind, ist lang. Ich erinnere an Namen, deren Werke mich schon früh beschäftigt
haben, an Georges Bataille (Somme
athéologique, 1943) und Paul Ricoeur (Symbolik des Bösen, 1960), an Namen,
deren Aktualität ungebrochen ist, wie Jacques Derrida, Gianni Vattimo und
Jürgen Habermas, an einen ehemaligen Zöllner und Autodidakt schliesslich,
dessen Werk in deutscher Uebersetzung den Titel Die Niederlage Gottes (La sconfitta di Dio 1992, deutsch
Rotbuch Rationen, Rotbuch Verlag Hamburg 1996) trägt und dessen Name von
römisch-katholischen Theologen tunlichst verschwiegen, von Vattimo eher
verschämt erwähnt wird – Sergio Quinzio (1927–1996).[2]
Ich sprach eben von der erinnerten
Vergangenheit. Die Gelegenheit eines solchen tours d’horizon bot sich mir
letzte Woche. Meine Frau und ich waren drei Tage in Madrid. Ziel und Grund der
Reise war die Ausstellung Joachim Patinir, flämischer Maler (1480–1524), dessen
nicht sehr umfangreiches Gesamtwerk im Prado Museum gezeigt wurde. Patinir ist
der Maler der Heiligenlegenden des Dominikaners, Schriftstellers und Bischofs
von Genua, Jakob von Voragine (1226–1298). Der Flame ist der Maler des
Gottesbeweises ex effectibus. Er malt
die Welt nicht wie sie ist, sondern wie sie ihm als Horizont und lichte Grenze
zum Unendlichen erscheint, die Welt als Licht-Spur des Fingers dessen, den der
Adventshymnus der römischen Liturgie den conditor
alme siderum, den liebreichen Urheber der Gestirnwelt nennt.
Im Prado ist, neben Patinir, die
grandiose spanisch-europäische religiöse Bildwelt versammelt. Sie machte mir
erneut auf geradezu dramatische Art und Weise deutlich, in welchem Masse sie die
ästhetisch kodierte Niederschrift
dessen ist, was ich unter römisch-katholischer Religion zu verstehen, zu
glauben und zu leben gelernt hatte. Nicht minder deutlich ist mir dabei folgendes
aufgegangen. Religiöse Kunst spricht indirekt immer auch von Gott. Sie sagt
Gott freilich nur in obliquo, im Nicht-Göttlichen,
tut aber so, als ob Gott im Bilde wie im Zeichen präsent sei. (Vgl. Hans Belting,
Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen. München 2005, 152–153.) Mit
jeder Bildaussage macht sich die Negation bemerkbar: die Nichtsagbarkeit
Gottes. Religion ist, zusammen mit religiöser Malerei und mythisch-mystischer Dichtung,
jenes vom Menschen erzeugte, spezifisch produktive, kreative Verhalten, das
sich einstellt, wenn er Gott sagen muss oder Gott sagen will. Das besagt: Wenn der
Dichter im Gedicht, der Maler im Bilde oder der Gottesgelehrte im Begriff ‚Gott’
erzeugt, ist damit unvermeidlich jene Leere und Abgründigkeit mitgegeben die er
überspringen will. Ist es nicht jene Gemütsleere und Dunkelheit, die echt
Glaubende, von Johannes vom Kreuz bis zur Mutter Teresa erfahren haben und auch
schriftlich dokumentiert haben?
Im Prado habe ich die überwältigende
Vielfalt dieser Gottesaussagen wieder einmal vor Augen geführt bekommen. Gerade
die Deutlichkeit, die Expressivität und erschütternde Dynamik der um Gottes
willen gestalteten Bildersprache bestätigt es: Der Legendengott und der Gott
ihrer Akteure und Akteurinnen, der Weltgott des Flamen Patinir, der Sündenrächergott
des Büssers Hieronymus, dessen rechte Hand zum Schlag mit dem Stein zur Brust ansetzt,
der Reinheitsgott des Wüstenvaters Antonius mit dem Schwein inmitten seiner fleischlichen
und geistigen Nöte, der Schöpfergott Adams und Evas, der Vatergott samt dem
Erlösersohn, von einer jüdischen Jungfrau geboren, inkarniert nicht etwa zusammen
mit dem Schreinermeister Josef, sondern vom befruchtenden Hauch des Heiligen
Geistes, der Mördergott des Massakers aller Säuglinge von Jerusalem, der allwissende
Gott jenes Tugendgemäldes von Hieronymus Bosch, dessen zentrale Inschrift
lautet: Cave cave deus videt,Achtung Achtung, Gott sieht (alles) [an
einem Haus in Pompej heisst es: cave
canem], der Machtgott der
Herrscher mit Schwert und Bibel, der Richtergott des dürren Baumes vor der
Zeitenwende, des blühenden Baumes nach der verheissenen aber noch immer nicht
erfolgten Erlösung, dieser Gott ist tot. Tot wie wir alle sein werden, ist der
Karsamstaggott – die „Figur der Passion“, an die zu glauben ich glaube. Nicht
tot ist der Gott im Zeichen der
unaussprechlich blauen Horizonte, die ins Nichts stürzen, nicht tot ist der
Gott in Gestalt des Joseph von
Arimathäa, der den toten Gottesleib vom Kreuz holt, nicht tot ist jener fiktive
Nikodemus, der für eben diesen toten Gott das für ihn, Nikodemus, vorgesehene
Felsengrab bereit hält. Tot ist der Gott jener, die es mit literarischer List
und Leugnung, mit übersteigerter Hoffnung und einem Rätseltext über angebliche
Visionen fertig gebracht haben, beides kunstvoll verschleiernd: das Faktum der
rechtmässigen Hinrichtung des politisch untragbaren Aufrührers wie den Leichnam
des Gekreuzigten – in einem fiktiven Bericht so zu entsorgen und zu versiegeln,
dass das traurige Ereignis in ein Jubelfest der Auferstehung transsubstantiiert
werden konnte. Die Auferstehung ist zugegebenermassen kein Faktum. Aber der
Bericht hierüber ist so gemacht, dass die von Glaubenden veranstaltete Feier der Auferstehung jedesmal, seit
den unergründlichen Anfängen, das Faktum der Auferstehung schafft und bis zum
heutigen Tag wiederholend neu vor Augen führt. Diese unglaubliche, immer nur erzählte Geschichte als wahr, weil von
untrüglichen Leuten beglaubigt, anzuerkennen, das ist Glauben.
Soweit meine einleitenden Ausführungen
zum Thema Philosophie und Atheismus. Ich bin der nicht sehr originellen
Meinung, dass sowohl der kämpferische Atheismus wie der feige Atheismus
philosophisch nicht mehr vertretbar sind. Was ich vertrete, immer ohne Anspruch
auf kategorische Aussagegültigkeit, ist ein partieller
Atheismus. Gestützt auf eine kaum zu widerlegende Beobachtung lege ich mir
diesen folgendermassen zurecht. Immer dann, wenn die Menschheits-, die Denk-
und Glaubensgeschichte wieder einmal neu ansetzt zu einer wie immer anders gearteten,
angeblich aber stets identischen Gottesaussage, immer dann ist die Zeit der
Eule gekommen, dann dämmert die Philosophie herauf. Wenn die Glaubenden
glauben, an die Glaubhaftigkeit der ‚andern’ glauben zu müssen, kann der
Philosoph deren intrinsische Blindheit genau in jenem Punkt aufhellen, der
ihnen (den Glaubenden) Anlass dafür war, die Vernunft metaphysich-herrisch in
die Schranken zu weisen und an ihre Stelle in nahtloser Fortsetzung
metaphysischer Wahrheitsaussagen den Glaubensakt einzusetzen. Den Vernunftglauben
selbst halte ich freilich für einen obligatorischen Bescheidenheitsausweis. Er
ist die Instanz, die der Vernunft zu jener Glaubwürdigkeit verhilft, die von
der Vernunft selbst nicht erbracht werden kann. Ich möchte offen lassen, ob
nicht die Religion, verstanden als Schmugglertätigkeit, dazu beigetragen hat,
dass sich die Vernunft verpflichtet fühlte, zu sich selbst zu kommen und in
dieser Rückwende zu sich selbst erst richtig und das heisst beschränkt und
kontingent vernünftig geworden ist. Ob denn die Vernunft immer dann, wenn sie
an ihre Grenzen kommt, mit dem Akt des Glaubens ergänzt oder vervollkommnet
oder überhöht werden muss, darf, wenn auch nicht ohne Scheu, bestritten werden.
Seit Siger von Brabant und Dante Alighieri gehört diese skeptische
Unentscheidbarkeit der theoretischen Vernunft zur Freiheit eben dieser
Vernunft. Es ist kein Gestus der Ueberheblichkeit noch des biblisch
überlieferten non serviam, vielmehr
das selbsteinsichtige Bescheidenheitszeugnis, wenn jemand heutzutage auf die
Ergänzung des Menschseins durch den göttlichen Alleswisser und Alleskönner
verzichtet. Diese Form von Atheismus heisst: Gott ist nicht der Herr. Das
Herrsein kann von Gott nicht ausgesagt werden. War es denn nicht das
Christentum selbst, das die Entsagung und Reduktion der Bedürfnisse weltweit
gelehrt und gefordert hat? Könnte die Entsagung des Gottesbedürfnisses nicht
Ausdruck selbstreflexiver philosophischer Frömmigkeit sein?
II. Philosophie und Religion als Konterbande der Schmuggler
Ausgangspunkt der folgenden
Ausführungen ist die Annahme, die Wahrheit sei das der europäischen Philosophie
und der europäisch-christlichen Religion Gemeinsame. Und weiter wird
angenommen, quer durch dieses gemeinsame Feld ‚Wahrheit’ verlaufe eine Grenze,
ein Graben tue sich auf, eine langgezogene Bruchstelle durchziehe das weite
Feld, auf dem sich die Wahrheitsuchenden seit unvordenklichen Zeiten bis auf
den heutigen Tag tummeln und amüsieren, streiten und sich zu verständigen
suchen. Wir fragen: Sind die Religionen vernünftig? Hat die Vernunft
Bedürfnisse, welche eventuell allein die Religion abzugelten vermag? Oder sind
es Bedürfnisse des ungestillten und unstillbaren Begehrens? Ist der Kontinent
Vernunft vielleicht unter dem Ozean der Menschheitsgeschichte für das menschliche
Auge unsichtbar mit dem Kontinent Religion verbunden? Ist der Graben, der sie
beide trennt, schon immer ein Abgrund gewesen oder ist die Kluft erst in
jüngster, angeblich schlechter Zeit unüberbrückbar geworden?
Angenommen, Wahrheit sei der Philosophie
und den Religionen gemeinsam. Von Wahrheit unabtrennbar und sie geradewegs mitkonstitutierend,
gehört zur Wahrheit die Weise ihrer Produktion, die Art, wie sie über Sinne
vernommen, von der Vernunft erkannt und begriffen wird, im Bewusstsein
schliesslich zur intelligiblen Gestalt und im sprachlichen Ausdruck zur Wirksamkeit
und zur Kommunikabilität innerhalb der Sprachgemeinschaft gelangt. Wahrheit
kann als Wahrheit philosophisch erforscht, in Begriffen gefasst und im
rationalen Verfahren als evident, im rhetorischen Prozess als begründet
vermutbar erschlossen werden. Wahrheit wird aber auch als religiös kodierte, dogmatisch
verordnete Proposition proklamiert, angemutet, von Glaubenden bejaht, von
Zweiflern abgelehnt oder in der Schwebe gelassen. Anerkanntermassen haben philosophisch
wahre Propositionen einen von religiös kodierten Aussagen verschiedenen
Geltungwert. Im universal religiösen und im partikulär römisch-katholischen
Sinn verstanden ist Wahrheit jene substantielle, metaphysisch fundierte Grüsse,
die in verständlicher Sprache und über Sonderriten den Glaubenden zur Annahme
oder zum Bekenntnis vorgeschrieben wird. Bei Annahmeverweigerung droht sowohl
zeitlicher wie ewiger Heilsverlust als gerechte Strafe. Der so verstandene
christliche Gott ist mit der metaphysischen Wahrheit auf Gedeih und Verderb
verkettet und erlaubt nur eine vorbehaltlose Bejahung.
Diese religiös kodierten
Wahrheitsaussagen sind von der philosophischen Wahrheit unterschieden. Die
Differenz besteht darin, dass die als philosophische Wahrheit kodierte Aussage
der freien Entscheidung des Ja- oder Neinsagenkönnens ausgeliefert ist. Um diese
Differenz und ihre Folgen wird seit den vorsokratischen ‚Aufklärern’ gestritten.
Die besagte Grenze zwischen Wissen
und Glauben galt bis zur Frühmoderne als durchlässig, mithin als überschreitbar.
Im metaphorischen Kurzlernverfahren gesprochen: Es herrschte im sog. christlichen
Abendland zwischen Philosophie und Religion ein reger, wenn auch rege
kontrollierter Schmugglerverkehr. Philosophen wie Theologen haben sich sowohl
als Schmuggler wie als Zollkontrolleure betätigt. Weder die Zöllnertheologen
noch die Philosophieschmuggler sind untätig geblieben. Als Epochenschwelle tut
sich der Bruch erst seit dem modernen Vernunftverständnis auf. Es gab Rationalisten
im 17. Jahrhundert, welche behaupteten, sie könnten das Dogma der Trinität
rational beweisen, beziehungsweise dem frommen Gemüt im Akt der ideellen Vernunftkonstruktion
zugänglich machen. Die offiziellen Instanzen der römisch-katholischen Religion
verurteilten diese Position. Sie hielten daran fest, Glaubenswahrheiten dieses
Kalibers – Inkarnation, Trinität, Realpräsenz – seien letztlich schlechthin supra-rational
weil über-natürlich. Sie gaben aber der Vernunft im Nachhinein die hochwillkommene
Chance, sich an der Existenz wie an der Formulierung von Glaubenswahrheiten
vernünftig abzuarbeiten. Mein Lehrer Prof. P. Paul Wyser, 1945 in Fribourg Ordinarius
für aristotelisch-thomistische Metaphysik, verpflichtete die Studenten auf den
Hylemorphismus mit der Begründung, ohne diese philosophische
Wirklichkeitsanalyse könne die eucharistische Realpräsenz nicht begründet noch
geglaubt werden. Fides quaerens
intellectum, heisst bekanntlich die Formel: Es gibt allemal etwas zu
denken, wenn jemand jemandem traut, dem Wort Vertrauen schenkt oder auf
Zeugenschaft hört, ihr vertraut und ihr wenn möglich gar blindlings folgt.Voraussetzung zur Zeit Anselms war ein
beherzter, aber nichtreflexiver und nichtkritischer Vernunftglaube. Die
massivste Gottesaussage heute blendet das jede religiöse Handlung begleitende
Nichts elegant aus, unterschlägt den epistemischen Vorbehalt des in obliquo und behauptet hochtrabend:
„Nicht vernunftgemäss handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider.“ (Ratzinger 2007
im Internet). Vorausgesetzt ist damit freilich die behauptete, aber unbegriffene
Kontinuität von der geschwächten menschlichen Vernunft hin zur substantiell
vernünftigen göttlichen Vernunft, zum vernünftigen Gott selbst. In andern Zusammenhängen
wird, von ebendemselben Glaubensvertreter, vehement bestritten, dass die
menschliche Vernunft je das Wesen Gottes zu erkennen vermöge. So ist denn die
Behauptung einer Wesensverwandtschaft zwischen menschlicher Vernunft und der nóêsis noêseôs nóêsis des Aristoteles[3] bzw. der römisch-katholischen Gotteslehre
in den performativen Selbstwiderspruch verstrickt.
Der Schlichtungsformeln für den
Widerstreit von Glaube und Vernunft sind Legion. Neueste Beteuerung: mit Hilfe
der hellenistischen Philosophie und nur mit ihr sei der Konflikt zu lösen. Zur
Plausibilisierung wird die zeitliche Konjunktion der Emergenz von
Offenbarungstexten und Platonismus bemüht. Zwar nicht deutlich ausgesprochen,
aber schön versteckt wird angedeutet, diese Konstellation dürfe mit guten
Gründen als historisch-göttliche Fügung verstanden werden –
Geschichtsrekonstruktion im Geiste des Vorsehungsglaubens … Man darf mithin annehmen,
es sei Gottes Absicht gewesen, den Frühkatholizismus zeitgleich mit dem
Hellenismus aus der in Agonie befindlichen heidnisch-abendländischen Lebenswelt
emergieren zu lassen. Dem serbelnden Heidentum fehlte anerkanntermassen das in
einer Sattelzeit dringend nötige neue Heilsangebot – dem aufkeimenden
Katholizismus indes wuchs ein beträchtlicher Resonanzeffekt zu dank der die
damalige Intelligenz von Innen her prägenden hellenistisch geprägten Weltweisheit
als Wahrheitssuche mit anschliessendem Heilsangebot. An diese Version der
Weltweisheit hat sich die zum römischen Christentum bekehrende, hochgelehrte
Oberschicht angeschlossen. Und die geschichtsvergessene aktuelle römisch-katholische
,Hermeneutik’ dieses freilich epochalen Vorganges lautet: Für alle Zukunft sei dank
des Hellenismus der Abgrund eingeebnet, die Gefahr des Widerspruchs zwischen
Glaube und Vernunft gebannt. Die moderne Philosophie wiederum wird als
Relativismus, Individualismus und Nominalismus abqualifiziert. Sie biete nichts
als bodenlose Abgründe. Statt stufenweisem Aufschwung der Seele, unaufhaltsamer
Abstieg in die Niederungen des Subjektivismus. Darf gefragt werden, weshalb denn
der Vorsehungsgott nicht auch just zur Zeit hat aktiv werden können, als etwa Kant
seine drei Kritiken niederschrieb?
Kant hat massgeblich beigetragen zur
normativen Beschränkung und spekulativen Enthaltsamkeit, die sich die Vernunft
selbst auferlegt hat und von ihr als Kritik vollzogen wird. Habermas spricht
plastisch und treffend von „Grenzregie“. Diese Kultur der kognitiven
Selbstbescheidung kennzeichnet das nachmetaphysische Zeitalter, das weder als
Schicksal über einen bevorzugten (?) Teil der Menschheit hereingebrochen ist
noch von einer göttlichen Vorsehung ihm zubereitet worden wäre. Der Mensch
selbst und niemand sonst hat sich in dieses sein Zeitalter hineinbegeben, worin
er sich nun selbst zurechtfinden muss. Ob er dabei ist, sich da wieder herauszuarbeiten,
ist eine andere Frage.
Die Grenzen der Mächtigkeit beziehungsweise
der Ohnmacht der Vernunft und ihre Differenz zum Glauben scheinen ebenso klar
zu sein wie die Genesis dieser Differenz komplex und die Geltung derselben
schon immer umstritten war und es bis heute ist: Was ist an der Religion
vernünftig und inwiefern ist ein einigermassen vernünftiger Mensch gehalten,
diesen Vernunftanteil der religiösen Welt überhaupt erkunden zu wollen?
Die Differenz und Distinktion ist
klar benennbar: Hier die dem
menschlichen Vermögen zugängliche, von ihm konstitutiv immer auch mit-geschaffene
Wahrheit, immer nur im Sprechen und Stammeln, im flatus vocis vernehmbar, also flüchtig, rein formal jedoch verifizierbar
beziehungsweise falsifizierbar, dem Begriff nach wenigstens bis zum nächsten
Schub des Bewusstseins klar und distinkt – dort
(aber wo?) die dem menschlichen Vermögen unzugängliche Wahrheit der Mysterien,
Auserwählten indes geoffenbart, als Gottes Selbstaussage dechiffrierbar
gemacht: erst in den hebräischen und griechischen Textsammlungen, dann im Logos,
dem menschgewordenen Gottessohn, in ein und derselben Person subsistierend als wesensgleicher
Sohn des Vatergottes und zugleich als Sohn einer jüdischen Jungfrau. Im Glauben
der Glaubenden muss diese hybride Gestalt als die bis in alle Ewigkeit unerforschliche,
Gott und Mensch in einer Person synthetisierende Wahrheit geglaubt, verstanden
und angebetet werden. Soviel zur Auslegeordnung des Problems.
Grob gesagt, lassen sich zwei sich
streitende Lager ausmachen. Sie korrelieren mit den eben genannten zwei Feldern
und den entsprechenden Instanzen Wissen und Glauben, Philosophie und Religion.
Der Streit dreht sich um folgendes:
Eine Grenze trennt das eine Feld –
die menschlich zugängliche und an der Erfahrung ausgewiesene Wahrheit –, vom
andern Feld, nämlich vom Feld der geoffenbarten, den menschlichen Verstand
überholende Wahrheit. Paradox, aber von einmaliger denkgeschichtlicher und
handlungssteuernder Wirkung ist die Tatsache, dass diese Felder, ohne ineinander
über zu gehen, dennoch durchlässig sind. Jedes Feld gibt dem andern Feld Rätsel
auf, im 16. und 17. Jahrhundert wüteten religiöse Kämpfe mit Toten und
Exilierten, in der zweiten Hälfte des blutigen 20. Jahrhunderts gab man sich
ökumenisch, was die Zukunft bringt, bleibt ungewiss. Ist es nicht vielleicht
so, dass die Grenze und der jeweilige Kompetenzbereich zwar erkannt und
anerkannt ist, dass indes die Versuche, die Grenze zum Geglaubten hin auf dem
Verstandesweg und mit Hilfe der Vernunftspekulationen zu überschreiten und zu
überwinden, zwar noch immer als bewundernswerte Gelehrtenleistungen anerkannt
werden müssen, dennoch als gescheitert sich herausgestellt haben? Falls dies
wahr ist, vorausgesetzt also, dass die Geschichte, die die Vernunft selbst
geschrieben und durchlaufen hat, nicht einfach eine vernunftvergessene und
vernunftwidrige Irrfahrt ist, sollen dann auch die Konsequenzen gezogen werden?
Im gegenwärtig geltenden Jargon fomuliert: Müssen wir, Teilhabende an der république des érudits et des savants,
fraglos hinnehmen, dass das metaphysische Zeitalter hinter uns liegt und die
nachmetaphysische Epoche zeitgleich mit unserer Lebenszeit sich nach vorne in
die unbekannte Zukunft stürzt? Das Faktum scheint unwiderruflich zu sein. Es fraglos
hinzunehmen, daran hindert uns die Wahrheit selbst, eine Wahrheit, der
Philosophen wie Glaubende sich verpflichtet wissen. Das Faktum zu leugnen,
zeugt von Geschichtsvergessenheit. Sie grenzt nach meinem Dafürhalten an
selbstverordnete Selbstsuspendierung der Vernunft und zeitigt Folgen. Diese
werden unterschiedlich beurteilt. Für die einen sichert Geschichtslosigkeit dem
römischen Katholizismus Bestand und Einmaligkeit, Universalität und den Titel
eines Stachels im Fleisch der Moderne. Für die andern ist selbstverschuldete
Geschichtsvergessenheit nichts anderes als ein Betrug an der Vernunft und ihrer
Würde. Diesen Betrug hat der dogmatisch verordnete, blinde Glaube vor seiner
eigenen Geschichte zu verantworten. Um diese Selbstrechtfertigung bemühen sich
die Apologien jeglichen Couleur und sind von beachtlicher begrifflicher Schärfe
und sittlicher Redlichkeit. An Blaise Pascals Pensées darf als an ein
herausragendes Beispiel erinnert werden.
III. Religion innerhalb der Grenzen des demokratischen Rechtsstaates
oder: staatliche Friedenssicherung gegen bellizistische Religion
1. Religion gilt in unseren
Breitengraden als Privatsache. Quelle, Kraftzentrum und Sitz religiöser
Aktivitäten und Praktiken ist das menschliche Gemüt in allen seinen sichtbaren
und abgründigen Dimensionen. Glauben und zweifeln, hoffen und verzagen, Trostbegehren
und Trostentsagung, klagen und bereuen zählen zu den existentiellen Handlungen sowohl
der Frommen wie der weniger Frommen. Ihre Äusserungen sind, sollen sie redlich,
ehrlich und echt sein, immer auch ihre Herzenssache. Man glaube an Gott mit dem
Herzen war die tiefste Ueberzeugung des vielleicht doch jansenistisch
aufgeladenen Mathematikers im 17. Jahrhundert. Redlich, ehrlich, echt – diese
Qualifikation gehört zu den normativen Masstäben von Religion. Es sind dies
subjektive Merkmale, die aber gerade in ihrer subjektiven Qualität zum
normativ-kognitiven und sozialen Merkmalbündel von Religion unabdingbar
dazugehören. Das Kriterium, nach welchem Religion philosophisch beurteilt wird und
das auch den Inhalt von Religion ausgrenzt, ist in erster Linie ihre sittliche
Integrität. Ob die religiöse Wahrheit als solche, von der die jeweiligen
Religionen so gerne sprechen und die sie mit aplomb verkünden – so etwa die
Trinität, die Inkarnation oder die salvatorische Hoffnung auf einen gütigen
Empfang durch den Richtergott im eschatologischen Jenseits – eine wahre
Wahrheit sei, das zu beurteilen steht der Philosophie nicht zu. Aus dem
einfachen Grund: Diese Wahrheiten sind philosophisch belanglos, als
Herzensangelegenheiten indes sind sie unhintergehbar und existentiell nicht
einholbar, auch nicht von Einwänden der Zyniker, Verächter und Reduktionisten à
la Voltaire, Freud, Marx, Richard Dawkins (Gotteswahn) oder Christopher
Hitchens (Der Herr ist kein Hirte).
Wenn sich religiös Gesinnte als
Gruppe zur Kommunio zusammenschliessen, sich ihre Überzeugungen und Vermutungen
austauschen, gegenseitig stützen und auf ein gemeinsames Ziel hin versammeln,
wenn sie sich eine soziale Formation und eine rechtliche Norm geben, werden sie
öffentlich und in demokratischen Rechtsstaaten als öffentliche Körperschaft
anerkannt. Sie heissen hierzulande Kirche. Als Institution verleihen Kirchen
ihren Anhängern den Status der Zugehörigkeit zum Kollektiv. Die Anhänger gewinnen
eine partikuläre Identität, sind registriert als Protestanten oder Katholikinnen,
als Israeli oder Orthodoxe. Religion ist etwa für Aussiedler und Zuwanderer ein
wichtiger Identifikationsfaktor. (M. Hero , Religiöse Vielfalt in
Nordrhein-Westfalen. Empiristische Befunde und Perspektiven der Globalisierung
vor Ort. Paderborn 2007.)
Diese Zugehörigkeit ist amtlich
geregelt und beglaubigt und vermutlich exakt deshalb konfliktuell. Die Sprache
des Herzens, wie sie die Frommen pflegen und beherrschen, muss sich nämlich nicht
zwingend decken mit der Sprache ihrer Kirchen oder religiösen bürokratischen
Maschinerien. Das ist meist dann der Fall, wenn das Begriffsarsenal der einen
mit dem Erfahrungspotential und dem Argumentationsstil der andern kontrastiert
oder sich als unvereinbar herausstellt.
Wie die Menschheitsgeschichte zeigt,
haben die prägenden Kontingenzerfahrungen und nicht minder der Wille zur Macht,
den Tod zu überwinden, – von Hermann Lübbe auf seine etwas unverfrorene Art
„Kontingenzbewältigung“ genannt, als ob so etwas in unserer selbst kontingenten
Macht läge – ihren Ausdruck in begrifflichen und poetischen, pikturalen und
bildnerischen Umsetzungen gefunden. Deren religiöse Kodierung wiederum ist eine
anthropologische Konstante, unübersehbar und vertraut oder eben gänzlich fremd,
aber lesbar und überliefert als die Inhalte, Rituale und Handlungen von
Religionen, seit dem 16. Jahrhundert als magische Praktiken und/oder als
Fetischismus identifizierbar. Es sind insgesamt Manifestationen des
Schamanismus und des alle menschliche Tätigkeit durchdringenden Fetischismus.
Dazu gehören die Herzensangelegenheiten und Gemütsregungen, das emotive
Begehren und kognitive Ausgreifen über die Endlichkeit des Verstandes hinaus;
ebenso integral zur Religion gehört der Wille oder das Begehren, die
Sterblichkeit zu überbieten, im Glauben an die Unsterblichkeit der Seele wenn
nicht gar der Person dereinst ein ewiges Leben zu erlangen und es in der
beglückenden Anschauung Gottes – die Projektion der theoria auf die Gotteswelt der Seligen – zu vollenden. Ursprungsmythen
und eschatologische Entwürfe und Phantasien gehören zum innersten Kern von
Religionen auch und gerade im nachmetaphsischen Zeitalter. (Nils
Freytag/Diethard Sawicki [Hg.], Wunderwelten. Religiöse Ekstase und Magie in
der Moderne. München 2006). Es sind spezifische Antworten auf Fragen, auf
welche die reflexive, auf Begrifflichkeit setzende Vernunft keine Antwort weiss,
die immer und immer wieder von Neuem zu stellen die Vernunft nicht anders kann. [4] Womit ausdrücklich nicht gesagt
sei, die magischen Praktiken, der Glaube an die fetischistischen Beschwörungen,
die mythologischen Megakonstrukte seien samt und sonders unvernünftig. (Hartmut
Böhme, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Hamburg 2006;
in bewundernswert unvoreingenommener Distanz und intimer Nähe zur Spätantike
schildert und beurteilt Peter Brown das komplexe Verhältnis der damaligen
Gesellschaft zum Uebernatürlichen in: Die Gesellschaft und das Uebernatürliche.
Vier Studien zum früher Christentum. Berlin (1982) 1993. Das Muster des
Fetischismus wäre Brown vermutlich zu starr und methodisch unbrauchbar.)
Als innere Erlebnisse haben sich die
psychischen Regungen in Geschichten und Erzählungen niedergeschlagen, sind in
Texten und Bildern für alle Zukunft dokumentiert, haben in Tonfigürchen wie in
monumentalen Pyramiden und ästhetisch überwältigend eindrücklichen
gläsern-transparenten Mauern der gotischen Kathedralen ihre untilgbaren Spuren
hinterlassen – alles Spuren, Umrisse oder Signaturen, die den Stoff abgeben,
aus denen die Kulturanthropologie ihre Inhalte bezieht. Religion gehört zentral
zur kulturellen Identität jeder Gesellschaft. „Tatsächlich ist es nur dem
unauffälligen Vorgriff auf die welterschliessende Kraft der religiösen Semantik
zu verdanken, dass sich Kant zu einer Postulatenlehre vorantasten kann, die der
praktischen Vernunft paradoxerweise doch noch die Kraft verleiht, Vertrauen auf
eine ‚Verheissung des moralischen Gesetzes’ [Kant, KU B 463, Fussnote] einzuflössen.“
(J. Habermas, Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte
und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie, in: ders., Zwischen
Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 2005,
216–257, zit. 225.) „Was den reinen
Religionsglauben erst zum Glauben macht, ist das übers Moralbewusstsein
hinausgehende Vernunftbedürfnis, eine Macht anzunehmen, welche diesen [den
moralischen Gesetzen und den gesetzestreuen Handlungen] den ganzen, in einer
Welt möglichen, zum sittlichen Endzweck zusammenstimmenden Effekt verschaffen
kann. [Kant, Religion innerhalb… A 139/B 147].“ (zit. von Habermas, ebd. 224). [Der von J.H. zitierte Kantsatz findet
im Wortlaut so nicht in der Ausgabe Weischedel.]
Entsprechend dieser überwältigenden
Anhäufung menschlicher Aktivitäten und ihren Produkten haben sich auch die
Autoritäten und Befehlsmächte der religiösen Institutionen der seelischen
Dynamismen angenommen. Sie haben sie angestachelt, entsprechend ihren
Vorstellungen eingedämmt, ausgenutzt oder instrumentalisiert. Die Agenturen der
Rechtssprechung und die ökonomisch hochwirksamen Anstalten der Gnadenspendung (oeconomia salutis) haben sich im
sozialen Körper eingenistet, in das Lebensprogramm eingeschaltet und in die
moralischen Pensen der Menschen, der Frauen und Männer, der Kinder und Könige,
der ruchlosesten Pontifices wie der namenlosen, uneigennützig sich aufopfernden
Ordens- und Krankenschwestern eingeschrieben. Unzählige Spuren und Dokumente
zeugen von religiösen Erlebnissen, ekstatischen Grenzerfahrungen – von der
Entrückung eines Paulus von Tarsus über die Annihilation einer Madame Jeanne
Marie Bouvier de la Mothe-Guyon, einer Seelenfreundin des Bischofs Fénelon, bis
zur kargen Alltagsmystik der petite Thérèse de Lisieux. Sie gehören als integraler
Teil zum Kultur- und Mentalitätentresor der Menschheitsgeschichte. Sigmund
Freud rubriziert sie unter der Kategorie der infantilen Regression, nach
anderen gehören sie, als durchaus lesbare Seelenlandschaften, zur Geschichte
der Seelenkultur, mithin zum Pensum der Anthropologie schlechthin.
Im Gegenzug dazu gilt es, auch an
die negativ kodierten Zeugen der Religiosität zu erinnern. Unvergesslich und
bis heute unvergessen ist die prototypische Urszene der unvordenklichen Auflehnung:
Die im Sturz und im Verderben endende, gottferne Selbstbehauptung des obersten
Engels, der als Vater der Lüge endete. Von Marcion ist er, nicht ganz jenseits
der räsonnierenden Vernunft, als göttliche Gegenkraft inszeniert worden. (Zum
Thema Gnosis und Dualismus vgl. Richard Glöckner, Wie heute noch an Gott
glauben/glaubwürdig von Gott sprechen, Berlin 2006). Die Szene ist überliefert
als Mythos vom aufbegehrenden Stolz und von der herrischen Rebellion der ersten
Engel gegen den Himmelsherrscher, dem er das Non serviam entgegenschleudert, ein durch und durch antireligiöser
Affekt, der die Essenz religiösen Dienstes definitif bestimmt. Die für ein
bestimmtes anthropologisches Selbstverständnis massgebliche Urszene der
Erhöhung und des Sturzes fand und findet ihre genuine, bis heute lesbare
Fortsetzung (ganz nach der Metaphernlogik der Spirale, die C. Lévi-Strauss in
seinen Mythologiques einführte) als integraler
Teil der Profangeschichte. Es mag paradox anmuten, aber sie wird nicht erst heute
gelesen als kognitiv qualifizierter Widerstand gegen die von religiösen
Instanzen verordnete Unterwerfung des Gemüts und des Verstandes unter die
angeblich übersinnlichen, göttlich besetzten Mächte. Banaler, aber historisch
beglaubigt und rational nachvollziehbar ausformuliert lautet die moderne
Version des Mythos so: In Epochen wiederholter und nie abgeschlossener
Aufklärung haben sich just die vom religiösen Empfinden ganz und gar nicht
unberührten Menschen dezidiert, mit trefflichen Argumenten gewappnet, von
Teufelsglaube und Aberglauben aller Art, vom religiös-fetischistischen
Sakramentalismus und von den magischen Praktiken der Sazerdotik abgekehrt. Robert
Spaemann ist der dezidierten Meinung: „Es war doch immer die Metaphysik, die
hier [zwischen Glauben und Wissen] eine Brücke schlug.“ (R. Spaemann, „Weil es
eine Wahrheit gibt, gibt es Gott.“ In: Tages-Anzeiger, 24. 12. 2007, 37). Die ‚Postmetaphysiker’
haben ein neues Gottesverständnis in die Humanszene eingeführt. Sie haben sich alsdann
einer von diesen abwegigen Gottteslehren gereinigten Religiosität zugewandt – und
praktizieren im Gegenzug dazu nicht selten einen kulturellen oder
technokratischen Fetischismus wie etwa den Kult der Automarke Citroën mit ihrer
DS (déesse). Historisch bedingte
Brüche, Katharsis des Gemüts, Rationalisierungen samt immer neuen, unbewussten
Wiederholungen gehören zum religiösen Erbe, eben zum menschlichen Tun und
Lassen überhaupt. Meine Ueberlegungen zielen darauf ab, diese zerklüftete
Geschichte der Religion samt den unter oder hinter den Phänomenen versteckten
Aspekt der Atheismen an einigen Themen zu exemplifizieren.
Dem unvoreingenommenen Beobachter
stellt sich dieses Erbe plastisch und dramatisch in seiner unverkennbaren
Grösse und in seiner unentwirrbaren Widersprüchlichkeit dar. Die geschichtliche
Erfahrung spricht eine deutliche Sprache und muss hier konkret und im Einzelnen
aufgeführt werden. Die der Vernunft widersprechenden und mit dem gesunden
Menschenverstand unvereinbaren einzelnen Sätze religiöser Lehren und Dogmen irritierten
(oder faszinierten) schon immer und tun es noch heute. Es lassen sich drei
mögliche Verhaltensweisen ihnen gegenüber ausmachen. Entweder lässt man diese
Lehrsätze auf sich beruhen und geht zur Tagesordnung der selbstkritischen und
eventuell skeptisch gestimmten Vernunft über. Oder man versucht, mehr oder
weniger nüanciert, subtil und selektiv, aus diesen Lehrstücken einen
vertretbaren Anteil an Vernünftigkeit herauszuholen. Die spolia aegyptiorum zu sortieren ist noch immer ein beliebtes
Arbeitsfeld der auf Vernünftigkeit erpichten Religionswächter. Zu den Beutestücken
(spolia), die von den Kirchenvätern
nach ihren Rezepten und nach ihrem Gutdünken geschmuggelt, geplündert und
sortiert wurden, gehörte, nicht überraschend, die griechische Philosophie, wie
soeben erwähnt.
Die dritte Lösung bestand und
besteht darin, alles aufzubieten, um die besagten Unvereinbarkeiten und
Widersprüche zwischen Glaube und Vernunft zu entschärfen und zu versöhnen. Die
rational gestützten Geschichtsteleologien und die streng disziplinierten
Religionsphilosophien gehören zu diesen an sich erbaulichen Versuchen ebenso
wie die erlösungsgesättigten und eschatologisch angelegten Theologien. Sie
haben sich dieses Stoffes seit je angenommen. Zu Megatheorien und
Vernunftspekulationen entfaltet, sind sie alle schliesslich an diesen
Widersprüchen bzw. an deren versuchter Versöhnung gescheitert. Gescheitert sind
sie, einmal aus formalen Gründen: Beim Aufbau der katholisch-christlichen
Religion, in den ersten vier Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, waren die Theologen
dank der damals geltenden und mit Bravour bewirtschafteten wissenschaftlichen
Instrumentarien noch durchaus in der Lage, die sich ihnen stellenden Probleme
auf plausible Art zu lösen. Geholfen hat ihnen dabei die „christlich mediterrane
koiné“ (Brown, Die Gesellschaft und das Uebernatürliche, 52). Die Probleme und
ungelösten Fragen, die sich uns heute als Konflikt zwischen Glaube und Vernunft
stellen, sind mit den damaligen Instrumentarien nicht zu bewältigen, wir leben
in einem radikal veränderten Umfeld. Der damals einzig gangbare Weg, des
Zwiespaltes und der Kränkung der Vernunft durch Glaubensbehauptungen einigermassen
Herr zu werden, war die in noch ldebendiger Version verfügbare Mythologie –
und, im Stil des philosophischen Atheismus gesagt, sie ist es noch heute. Die
Hauptsätze der römisch-katholischen Religion sind mythisch-fetischistisch
durchtränkt. Mit Hartmut Böhme diagnostiziere ich den Fetischismus als jene – religiös
oder nicht-religiös – besetzte Handlung, deren Vollzug darin besteht, die
Vorstellung oder die Repräsentation als Ersatz für das Repräsentiert-Abwesende
zu erzeugen. Der Himmelfahrts’bericht’, die Auferstehungserzählungen, sämtliche
Wunderepisoden aus den Evangelien, aber auch die entsprechenden sakramentalen Riten
und die eucharistische Praktik als wiederholende Memoria und Ersatz für den
Kreuzestod dokumentieren eindrücklich, wie sich die Religionstheoretiker am
imaginierten Austausch zwischen menschlicher Lebenswelt und göttlicher Geisterwelt
abarbeiteten. Es sind bewundernswerte Versuche, jene Vorgänge und Ereignisse,
die entsprechend den damalig gegebenen kognitiven und affektiven Bedingungen
wahrgenommen und beschrieben wurden, den an diesem Austausch beteiligten
Menschen glaubhaft zu erzählen und den Austausch just in seiner Unglaublichkeit
akzeptabel zu machen. Der sinnengesättigte performative Vollzug einer Sprechhandlung
gehört integral dazu. Der Dogmenhistoriker Hans-Dieter Altendorf meint,
protestantisch entspannt und vernunftgläubig demütig: „Unglaublich, aber wahr.“
IV. Die ‚Aufhebung’ der Philosophie
Philosophie stand und steht noch
immer in Beziehung zur Religion. Ob diese Beziehung zwingend oder aufkündbar,
eng oder lose sei, bleibe erst einmal dahingestellt. Im Gegensatz zur Religion
gibt es gegenüber der Philosophie keine staatlich-bürgerliche Instanz, die
befugt wäre oder sich befugt wähnte, die Philosophie zur Privatsache zu
erklären. Der wohl triftigste Grund für diesen Sachverhalt kann überzeugend
deutlich gemacht werden: Keine Philosophie, sofern sie denn ihren eigenen
Anspruch einlöst, gibt sich aus als Instanz der letztgültigen, absoluten
Wahrheit. Philosophische Systeme – wenn es sie denn gibt – enthalten zwar
propositionale Wahrheiten, sind begründet oder zumindest begründbar vermutet
oder spekulativ ins Offene entworfen. Jeder philosophisch kodierten Aussage,
die auf innerer Erfahrung beruht und an der Erfahrung des selbstreflexiven
Denkens erprobt ist, wird im Horizont der Geschichte, also im Zuge und im Sog
der Zeit getätigt. Genau diese Anbindung der menschlichen Vernunft an die Zeitlichkeit
und an die Begrenztheit im Hier und Jetzt fundiert ihre Universalität. Es ist
und bleibt eine gedachte, eine von der Vernunft geschaffene, vom Begehren
mitgerissene Universalität – die Universalität der Wahrheit. Alles, was
universal, überzeitlich, jenseitig oder gar supranatural oder suprarational
ist, ist gedacht, ist ideal, entzieht sich der Erfahrung. Dazu gehört
unwiderruflich die metaphysisch gedachte Wahrheit. Die Philosophie, die die Metaphysik
überwunden hat, ist das Resultat und die Summe aller Produkte des im Fleische
und nur im Fleische lebendigen Geistes. Aber Philosophie ist auch die Agentur
der Vernunft, deren ausgezeichneter Vorzug darin besteht, dass sie sich in sich
selbst zurückbiegt und selbstreflexiv ihre eigenen Leistungen auf ihre
Richtigkeit, ihre Vertretbarkeit, auf ihre Opportunität und ihre Verfallszeit
hin prüft. Bei diesem Geschäft sieht sich die Vernunft mit ihrer eigenen Grösse
und ihrem eigenen Elend konfrontiert. Ich verstehe mich als Verkörperung einer
Vernunft solcherart: verdammt zur resignativen Skepsis und dennoch hochgemut
gestimmt, sobald es darum geht, mit Gleichgesinnten oder mit anders Denkenden
Argumente auszutauschen, Erlebnisse des Scheiterns und des Gelingens zu
erzählen, Zweifel zu säen und unentwegt immer neue Annäherungen an die Wahrheit
anzubieten.
Entsprechend einem alten, leicht
anrüchigen oder antiquierten Namen nennt man Philosophie Weltweisheit. Dieser
Titel wird in einem berühmten Text durch ein Wortspiel lächerlich gemacht. „Wo
ist der Weise? Wo der Schriftsteller (grammateús)?
Wo der Erforscher dieses Äons? Hat nicht Gott die Weltweisheit in Torheit
gekehrt [als Torheit entlarvt; unschmackhaft gemacht]?“ (I Kor 1,20). Mit
dieser Frage eröffnet der griechisch schreibende, hebräisch denkende Briefautor
den Konflikt zwischen den Weisen, den Schriftstellern und den Erforschern
dieser Welt und dieses Äons einerseits und einem Kenner und Erforscher der
jenseitigen Welt und ihrer Zeit. Der Brief ist von grösserer Tragweite. Beim
Lesen sahen sich die damaligen Philosophen und griechisch-heidnischen
Intellektuellen einem Gott in Person und dessen Weisheit gegenübergestellt.
Dieses Spiel, durch eine rhetorische Frage eröffnet, ist abgekartet und für die
Philosophen bereits vom ersten Zug ab verloren. Gott selbst – vom Judenchristen
Paulus fintenreich inszeniert –spielt
seine Weisheit und seine Empathie für die Seinen als Torheit aus. Er überlässt
es jedem selbst, ob er dialektisch genug sei, diese Torheit als Weisheit zu
begreifen, konkret: einen Gekreuzigten, einen Rabbi und Rebellen als den kommenden Welt- und Menschheitserlöser
anzuerkennen. Paulus hat den Mund doch etwas voll genommen… Dieses Spiel kann
mit Vernunftgründen und noch so raffinierten Zügen einer Wette nicht gewonnen
werden. Aber eben: die Spiesse in diesem Wettbewerb um die richtige Weisheit
sind nicht gleich lang. Wenn Gott selbst Regie führt, wer kann dann gegen ihn
gewinnen? Der Brief selbst darf wohl auch so verstanden werden, dass er nicht
eine Gotteslehre enthält. Vielmehr so, dass er seine volle Bedeutung darin
ausspricht, dass er alles über das Selbst- und gottesverständnis des
Briefautors mitteilt. Mehr nicht, aber auch nicht weniger.
Der Brief an die Korinther entbehrt
nicht der strikten Logik. Aber es handelt sich um Gerichtslogik. Diese läuft
so, dass mit der Begründung eines behaupteten Faktums sich dieses in eine
Anklage kehrt: Weil „die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht
erkannte“ (ebd.21), kehrt (in der Formulierung des Paulus) Gott den Stil um und
legt die Weltweisen ganz schön herein. Es „gefiel ihm“ sogar, sich der Torheit
zu bedienen, um seine Weisheit zu bekunden. Sich der Torheit bedienen heisst
gemäss dieser Logik, die wahre Weisheit offenkundig werden lassen. Mit dieser
scheinbaren Täuschung verbindet Gott die Forderung, die von den Rettenden verlangt,
dass sie Gottes Handeln als Streich, als Trick erfassen, die Falle, die Gott
ihnen stellt, blitzschnell orten und sich im Glaubensakt aus der Schlinge
ziehen. Unter dieser spezifischen Art des Begreifens versteht Paulus unvermittelt
das Glauben als rettenden Vollzug: „durch törichte Predigt zu retten, die daran
glauben“ (ebd. 21). Nicht die Vernunft und nicht die Weisheit, die Gnosis,
rettet, wohl aber die Torheit und die schlaue Umkehr aller Werte. Das heisst
paulinisch Glauben.
Mit dem Begriff des Weisen ist auch
der Begriff des Wohlmeinenden mitgegeben. Wer es als Weiser mit diesem Text und
seiner Logik wohlmeint, liest in hermeneutischer Sorgfalt, wie stark hier eine
ganz bestimmte Vernunftsorte am Werk war. Es gehört zur Vernunft, dass sie
alles und jedes in strikter Logik kehren und wieder umkehren kann. Formal
argumentiert der Autor tadellos. Aber seine Formulierung ist es, die ihn
verrät: Nicht die Vernunft ist es, von der Gott geleitet ist. Die List ist die
diesem Gott eigene Weisheit. Er bedient sich der Umkehrpraktik der Dinge und
ihrer Erscheinung. Diese partikuläre
Gottes-Logik fällt zusammen mit seinem vernunftlosen, abgründigen Wohlgefallen,
das hier als Erlösungs- und Erwählungslogik am Werk ist. Paulus macht die Sache
mit der nötigen raisonnierenden Klarheit deutlich: Die Philosophie und mit ihr
die Vernunft haben beim Erlösungswerk, das Gott für den Menschen mit seinem
Sohn inszeniert und realisiert hat, nichts zu suchen weil sie dort auch nichts
verloren haben. Ausser dass Paulus der Form nach ganz vernünftig argumentiert,
aber den Inhalt durch eben diese Dialektik in die Gefilde des vernunftlosen
Glaubens und Vertrauens transportiert.
Zürich/Walberberg, 28. September
2007, korrigiert am Stephanstag 2007
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